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Entscheidungen

beA

beA, Ersatzeinreichung, Störung bei der Justiz, anwaltliche Versicherung

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 28.02.2023 - 1 ORs 340 SRs 86/24

Eigener Leitsatz:

Im Falle einer im Verantwortungsbereich der Justiz zu verortenden Störung, die den beA-Empfang bei allen Gerichten im Lande (über einen längeren Zeitraum und) über den Ablauf der Einlegungsfrist hinaus unmöglich machen, bedarf es einer sonst erforderlichen anwaltlichen Versicherung - insbesondere von Umständen, die sich der genaueren Kenntnis des Versichernden zu Ursachen und Ausmaß der Störung entziehen – ausnahmsweise nicht, um den Anforderungen des § 32 d Satz 3 und Satz 4 StPO zu genügen.


Strafsache

gegen pp.

Verteidiger:
hier: Revision des Angeklagten

Beschluss vom 28. Februar 2024

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 24. Oktober 2023 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch hinsichtlich der Kosten der Revision, an eine andere Kammer des Landgerichts Karlsruhe zurückverwiesen.

Gründe:

Das Amtsgericht Karlsruhe verurteilte den Angeklagten am 13.5.2022 wegen gewerbsmäßigen Bandencomputerbetrugs in 305 Fällen, gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in 10 Fällen und versuchten gewerbsmäßigen Bandencomputer-betrugs in 58 Fällen unter Einbeziehung der Strafe von einem Jahr und 6 Monaten aus dem Urteil des Amtsgericht Frankfurt am Main vom 27.11.2019 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten. Die gegen dieses Urteil vom Angeklagten eingelegte Berufung verwarf das Landgericht Karlsruhe mit dem angefochtenen Urteil vom 24.10.2023, wobei es die Gesamtfreiheitsstrafe auf:2 Jahre und 10 Monate reduzierte.

Nach den Feststellungen der Kammer schloss sich der Angeklagte mit drei weiteren Personen im Jahr 2015 zusammen, um künftig organisiert und arbeitsteilig Kranken-kassen betrügerisch zu schädigen und auf diese Weise dauerhaft Einnahmen zu erwirtschaften. Nach dem „Geschäftsmodell" gründeten die Mitglieder der Gruppierung zwischen 2015 und 2018 eine Vielzahl von oft nur kurze Zeit existierenden Scheinfirmen, bei welchen fiktive Arbeitnehmer zu einem Monatsgehalt zwischen 3.400,-€ und 5.600,-E eingestellt und bei verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen (pflicht)versichert wurden. Mit den von den Kassen auf die nichtexistierenden Arbeitnehmer ausgestellten Ausweisen konsultierten Mitglieder der Gruppierung verschiedene Ärzte und erwirkten bei diesen unter dem Namen der Scheinmitarbeiter die Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Diese reichten sie bei den Krankenkassen ein und erlangten in 305 Fällen im vollautomatisierten Verfahren Aufwendungsersatzleistungen nach dem AAG, Wobei es in weiteren 58 Fällen beim Versuch geblieben sein soll, da die Erstattung durch Verrechnung mit den Beitragsforderungen erfolgte. In 10 Fällen erlangte die Gruppierung Krankengeld, dessen Auszahlung nicht automatisiert, sondern durch Verfügung der Sachbearbeiter der Krankenkassen erfolgte. Auf diese Weise erwirtschaftete die Gruppierung insgesamt mehr als 391.000,- e

II.

Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision ist zulässig. Insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§§ 341 Abs. 1, 344 Abs. 1 u. 2, 345 Abs. 1 u. 2, 32d StPO. Zwar erfolgte die Revisionseinlegung per Fax und damit nicht in der von § 32d S. 2 StPO vorgeschriebenen elektronischen Form. Im Falle einer (vorübergehenden) technischen Störung kann nach S. 3 die Einlegung der Revision auch in Papierform erfolgen. Nach S. 4 bedarf es in einem solchen Fall einer in sich geschlossenen Darstellung der (vorübergehenden) Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument. Die vorübergehende Unmöglichkeit einer elektronischen Übermittlung ist bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen, etwa dergestalt, dass der Verteidiger die Richtigkeit seiner Schilderung unter Bezugnahme auf seine Standespflichten anwaltlich versichert (vgl. BGH Beschl. v. 21.9.2022 - XII ZB 264/22, NJW 2022, 3647; BGH Beschl. v. 30.8.2022 - 4 StR 104/22, StraFo 2022, 434; BGH Beschl. v. 5.9.2023 - 3 StR 256/23, NStZ-RR 2023, 347).

Am 31.10.2023, dem letzten Tag der sich aus § 341 Abs. 1 StPO ergebenden Frist, legte der Verteidiger per Fax Revision ein (Eingang beim Landgericht um 17.01 Uhr). Durch weiteres Fax (Eingang beim Landgericht um 17.20 Uhr) teilte er mit, dass eine beA-Störung im Raum Baden-Württemberg vorliege, weshalb die Einlegung per Fax erfolgt sei, und legte zur Glaubhaftmachung einen Screenshot vor, aus dem sich ergibt, dass eine Übermittlung der Revisionseinlegung per beA gescheitert war, sowie einen weiteren Screenshot aus dem beA-Portal der Bundesrechtsanwaltskammer („beA-Störungshistorie"), aus welchem sich ergibt, dass wegen Wartungsarbeiten vom 27.10. bis 1.11.2023 der Empfang von elektronischen Nachrichten bei allen Gerichten in Baden-Württemberg nicht möglich war.

Dieser zeitnah nach der Einlegung der Revision per Fax übermittelte Vortrag genügt den Darlegungsanforderungen gem. § 32d S. 3 u. 4 StPO. im Falle einer im Verantwortungsbereich der Justiz zu verortenden Störung, die den beA-Empfang bei allen Gerichten im Lande über einen längeren Zeitraum und hier über den Ablauf der Einlegungsfrist hinaus unmöglich machen, genügt die Mitteilung des Vorliegens einer landesweiten Störung, ohne dass es - wie etwa bei einer Störung aus dem Verantwortungsbereich des Übermittlers, wo eine stichwortartige Zustandsbeschreibung nicht genügt (BGH Beschl. v. 5.9.2023 - 3. StR 256/23, NStZ-RR 2023, 347) - näherer Darlegungen dazu bedarf, ob ggf. mehrere vergebliche Übermittlungsversuche unternommen wurden, ob bzw. welche Maßnahmen zur Behebung der Störung unternommen bzw. ob versucht wurde, durch eine (am Tag vor Allerheiligen nach 17 Uhr wohl kaum erfolgreiche) Kontaktaufnahme mit dem Landgericht für Abhilfe zu sorgen. Ausreichend glaubhaft gemacht hat der Verteidiger seinen Vortrag durch den übermittelten Screenshot aus dem Portal der Bundesrechtsanwaltskammer, woraus sich ergibt, dass am 31.10.2023 eine Übermittlung der Revisionseinlegung per beA aus genannten Gründen nicht möglich war. Einer von der Generalstaats-anwaltschaft vermissten zusätzlichen anwaltlichen Versicherung von Umständen, die sich der genaueren Kenntnis des Versichernden zu Ursachen und Ausmaß der Störung entziehen, bedurfte es nicht.

Die Revision ist auch - jedenfalls vorläufig - erfolgreich, da die Feststellungen der Kammer unzureichend sind. Entgegen § 267 Abs. 1 S. 1 StPO genügen sie nicht den an eine in sich geschlossene und aus sich heraus verständlichen Darstellung zu stellenden Anforderungen. Sie ermöglichen dem Senat nicht die Nachprüfung der Schuldsprüche und - auf deren Grundlage - der Rechtsfolgenentscheidung.

1. Der Senat kann schon nicht prüfen, welche der in Tabellenform aufgelisteten Einzeltaten vollendet sind und hinsichtlich welcher es beim Versuch geblieben sein soll. Die Kammer beschränkt sich auf die Mitteilung der Anzahl der versuchten Taten mit 58, ohne diese Taten in den Tabellen ausreichend kenntlich zu machen. So heißt es - beispielhaft - einleitend vor den Taten Nr. 287 bis 295, die Erstattungen seien teilweise durch Verrechnung mit Beitragsforderungen, im Übrigen durch Überweisung erfolgt. Auch kann der Senat den - offensichtlich unkritisch aus der Anklageschrift übernommenen - Tabellen, welche lediglich den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit, das Erstattungsdatum und den Erstattungsbetrag wiedergeben (und welche in den Fällen 369-372 nicht aus sich selbst heraus verständliche Abkürzungen enthalten), nicht entnehmen, zu welchen Zeitpunkten (elektronisch) Erstattungsanträge gestellt wurden. Somit kann der Senat nicht nachvollziehen, ob allen in der Tabelle aufgelisteten Auszahlungen rechtlich selbständige Tathandlungen zugrunde liegen.

Diese Feststellungen nachzuholen wird Aufgabe der Strafkammer sein, welche über die Sache neu verhandelt. Falls die Kammer (wieder) zu der Feststellung gelangt, dass. „die Verrechnung" dergestalt erfolgte, dass die Krankenkassen mit Blick auf den (täuschungsbedingt bzw. automatisiert) gutgeschriebenen Erstattungsbeitrag auf die Entrichtung des Krankenkassenbeitrags der fingierten Arbeitnehmer in der Höhe des Werts des Erstattungsbeitrags verzichtet haben, läge kein Vermögensschaden vor. Denn das Vermögen der Krankenkassen wird nicht dadurch geschmälert, dass die Kassen auf die Erfüllung eines nicht existenten Anspruchs verzichten. Da rechtlich nicht existente „Forderungen" nicht auf dem Rechtsweg durchgesetzt werden können, kommt ihnen auch bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise kein regulärer Marktwert zu (LK-StGB/ Kindhäuser/Hoven, 6. Aufl. 2023, § 263 Rn. 234). In diesem Fall käme man zu einer Versuchsstrafbarkeit, wenn der Angeklagte einen auf Auszahlung eines Erstattungsbeitrags gerichteten Tatvorsatz hatte und nicht von einer Verrechnung ausging.

Der Annahme der Kammer einer bloßen Versuchsstrafbarkeit in 58 Fällen entgegensteht aber, dass die Tabellen in fast sämtlichen Fällen Erstattungsbeiträge ausweisen. Dies dürfte für eine bloße Minderung des Vermögensschadens durch teilweise Verrechnung mit den Krankenkassenbeiträgen sprechen. Im Übrigen ist zu beachten, dass der Umstand allein, dass die zur Verrechnung verwendeten Krankenkassenbeiträge den Kassen rechtlich nicht zustanden, weil die versicherten Arbeitnehmer nicht existierten, auf der Grundlage sowohl einer rein wirtschaftlichen als auch einer juristisch-ökonomischen Betrachtungsweise nichts am Vorliegen eines Vermögensschadens ändert, sofern diese Beiträge - was aufzuklären ist - durch vorangegangene Überweisungen in das Vermögen der Kassen geflossen sind und als Buchgeld mit dem Kassenvermögen verschmolzen.. Fließt Buchgeld durch Verrechnung in Höhe des Verrechnungsbetrags vom Konto der Kasse ab, wird das Kassenvermögen hierdurch geschädigt.

2. Auch die Rechtsfolgenentscheidung weist durchgreifende Rechtsfehler auf. Sowohl die Ausführungen des Landgerichts zur Strafrahmenwahl wie auch im Rahmen der konkreten Strafzumessung lassen besorgen, dass das 'Gericht die erforderliche Gesamtwürdigung' nicht in rechtsfehlerfreier Weise vorgenommen hat, weil ein wesentlicher die Taten prägender Gesichtspunkt erkennbar nicht berücksichtigt wurde, zudem in rechtsfehlerhafter Weise Umstände zu Lasten des Angeklagten in die Abwägung eingeflossen sind.

Bei der Prüfung eines minderschweren Falles gern. § 263 Abs. 5 S. 1 2. Alt. StGB und auch - nach dessen Verneinung - bei der konkreten Strafzumessung hat die Kammer zu Lasten des Angeklagten gewertet, dass er die Taten über einen langen Zeitraum und mit einem sehr hohen Gesamtschaden begangen hat, wobei dieser noch in voller Höhe bestehe und nicht einmal teilweise wiedergutgemacht worden sei. Diese Erwägungen lassen nicht nur besorgen, dass dem Angeklagten rechtsfehlerhaft (vgl. Schönke-Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 46 Rn. 57i) das Fehlen eines Milderungsgrundes (Schadenswiedergutmachung) angelastet wurde, sondern auch, dass entgegen § 46 Abs. 3 StGB die Gewerbsmäßigkeit seines Vorgehens als ein die Qualifikation des § 263 Abs. 5 StGB begründendes Merkmal zu seinen Lasten berücksichtigt wurde. Zwar können bei der Strafzumessung Abstufungen' bei den Tatbestands- bzw. Qualifikationsmerkmalen nach der individuellen tatschuld vorgenommen werden. Doch hat die Kammer nicht bedacht, dass die gewerbsmäßig begangenen Taten Bestandteil einer Tatserie waren (dieser Aspekt findet lediglich bei der Gesamtstrafenbildung Erwähnung), weshalb eine sinkende Hemmschwelle zu einer Verminderung des Schuldgehalts der Folgetaten führen kann (BGH Urt. v. 20.7.2016 - 2 StR 18/16, NStZ-RR 2016, 368; BGH Urt. v. 28.3.2013 - 4 StR 467/12, BeckRS 2013, 6623), auch wenn diese über einen langen Zeitraum begangen werden. Die Fortsetzung gleichförmig ausgeführter, nicht notwendig von vornherein 'geplanter Serienstraftaten in großer Zahl und über einen längeren Zeitraum ist daher nicht stets als Hinweis auf eine erhöhte bzw. sich steigernde krimineller Energie zu verstehen. Für eine Herabsetzung der Hemmschwelle des Angeklagten spricht, dass dieser - nach Auffassung der Kammer glaubhaft - bekundet hat, das Ganze sei schleichend immer größer geworden. Als sie gesehen hätten, wie einfach das gegangen sei, hätten sie weitergemacht. Es habe genug Ärzte gegeben, die mit Krankmeldungen schnell dabei gewesen seien, sie seien überrascht gewesen, wie das so einfach funktioniert habe.

Im Übrigen muss die Zumessung der Einzelstrafen bezogen auf das jeweilige durch das begangene Delikt verwirklichte Unrecht erfolgen. Dabei hätte insbesondere die Höhe der Einzelschäden in den Blick genommen werden müssen. Dies ist offensichtlich nicht geschehen, da die Kammer die Einzeltaten durch Festsetzung von Einzelstrafen in identischer Art und Höhe - festgesetzt wurden Einzelfreiheitsstrafen von je einem Jahr und zwei Monaten für die vollendeten Fälle und 58 Einzelgeldstrafen von je 120 Tagessätzen zu je 60,-€ für die versuchten Fälle - „über einen Kamm gebürstet" hat ohne zu berücksichtigen, dass die Schäden teilweise (wie etwa im Fall 17 mit 67,09 €) im nur zweistelligen, teilweise (wie etwa im Fall 22 mit 7.349,17 €) im vierstelleigen Bereich liegen.

Auch hat die Kammer nicht bedacht, dass die Würdigung der Gesamtheit der Taten bei Bemessung der Einzelstrafen keine Rolle spielt, sondern erst auf der Ebene der Gesamtstrafenbildung zu berücksichtigen ist (BGH Beschl. v. 18.7.2023 - 2 StR 423/22, NStZ-RR 2024, 9). Deshalb hätte die Kammer bei der Strafrahmenfindung und der konkreten Strafzumessung nicht auf den verursachten Gesamtschaden von über 391.000,-€ abstellen dürfen.

3. Das angefochtene Urteil war mithin insgesamt mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch hinsichtlich der Kosten der Revision, an eine andere Kammer des Landgerichts Karlsruhe zurückzuverweisen.


Einsender: RA P. Lauterbach, Solingen

Anmerkung:


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