Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Hamm, Beschl. v. 06.02.2024 - 5 Ws 14/24
Leitsatz des Gerichts:
Eine forensische (einstweilige) Unterbringung (§ 126a StPO) kann im Einzelfall unverhältnismäßig sein, wenn bereits eine länger andauernde betreuungsrechtliche Unterbringung (§ 1831 BGB) existiert, die Anlasstaten längere Zeit zurückliegen, noch nicht alle öffentlich-rechtlichen Maßnahmen zur Abwehr einer Fremdgefahr ausgeschöpft sind und das (derzeitige) Verhalten der Beschuldigten im Wohnverbund keine Anhaltspunkte für eine Fremdgefährdung von Mitpatienten bietet. der Beschuldigten beruht auf § 473 Abs. 1, 2 StPO.
In pp.
Die Beschwerde wird als unbegründet verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der der Beschuldigten erwachsenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Gründe
I.
Mit der vorliegenden Beschwerde wendet sich die Staatsanwaltschaft Arnsberg gegen einen abgelehnten Antrag auf Erlass eines Unterbringungsbefehls i.S.v. § 126a StPO.
Mit Antragsschrift im Sicherungsverfahren vom 13.10.2023 wird die Unterbringung der Beschuldigten in einer Maßregelvollzugsanstalt beantragt; ihr wird unter anderem vorgeworfen, im Zustand der Schuldunfähigkeit bei vier Begebenheiten in dem Zeitraum vom 20.10.2022 bis 04.04.2023 Mitpatienten in dem Wohnverbund in R. - in dem sie seit 2013 nach Betreuungsrecht geschlossen untergebracht ist - an der Gesundheit geschädigt zu haben, davon am 20.10.2022 zweimal mit einem gefährlichen Werkzeug (Stich mit einer Gabel und Messerwurf), wobei es in einem Fall davon beim Versuch blieb (vgl. zu den Einzelheiten Antragsschrift, Az. 470 Js 682/23, Zweitakte Bl. 69 ff.).
Mit Verfügung vom 29.11.2023 hat die Staatsanwaltschaft Arnsberg die einstweilige Unterbringung der Beschuldigten in einer Maßregelvollzugsanstalt beantragt. Mit Beschluss vom 07.12.2023 hat das Amtsgericht Marsberg in der zivilrechtlichen Unterbringungssache, Az. 2 XVII 87/13, die weitere Unterbringung der Beschuldigten für ein Jahr [bis zum 7.12.2024] nebst der Möglichkeit des Freiheitsentzugs im Kriseninterventionsraum im Fall der Eigengefährdung beschlossen (vgl. zu den Einzelheiten Zweitakte Bl. 150 f.).
In dem angefochtenen Beschluss vom 13.12.2023 hat die 4. große Strafkammer des Landgerichts Arnsberg die beantragte Unterbringung mit der Begründung abgelehnt, dass die einstweilige Unterbringung im Hinblick auf die bis zum 07.12.2024 andauernde betreuungsrechtliche Unterbringung sowie den Umstand, dass seit April 2023 keine weiteren Taten aktenkundig geworden seien, nicht verhältnismäßig sei (vgl. zu den Einzelheiten der Begründung Zweitakte, Bl. 177 f.).
Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft Arnsberg in ihrer Beschwerdeschrift vom 18.12.2023, unter anderem mit der Begründung, dass einer Fremdgefährdung auch in dem geschützten Rahmen der geschlossenen Unterbringung nicht vorgebeugt werden könne, da das fremdaggressive Verhalten der Beschuldigten völlig unvorhersehbar sei.
Die Strafkammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Antragsschrift vom 18.01.2024 beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses einen einstweiligen Unterbringungsbefehl gegen die Beschuldigte zu erlassen. Dazu hat der Verteidiger der Beschuldigten im Schriftsatz vom 26.01.2024 eine Gegenerklärung abgegeben.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg, da die Voraussetzungen des § 126a StPO nicht vorliegen. Die beantragte Anordnung der einstweiligen Unterbringung der Beschuldigten in einer Maßregelvollzugsanstalt ist für die Herstellung der öffentlichen Sicherheit zum jetzigen Zeitpunkt nicht erforderlich i.S.v. § 126a Abs. 1 StPO; im Einzelnen:
1. Zwar steht die zivilrechtliche Unterbringung einer Maßregelanordnung nach § 63 StGB - vorbehaltlich der Prüfung von § 62 StGB - nicht grundsätzlich entgegen, wenn die Anlasstat - wie hier - während der Dauer einer zivilrechtlichen Unterbringung begangen wurde (vgl. Fischer, 70. Auflage, § 63, Rn. 49; OLG Hamm Beschl. v. 9.6.2020 - 4 Ws 95/20, BeckRS 2020, 13095 Rn. 33, der sich allerdings auf das Konkurrenzverhältnis von § 126a StPO zu einer Unterbringung nach dem PsychKG NRW bezieht).
2. Auch dürfte der dringende Verdacht dahingehend bestehen, dass die Beschuldigte im Zustand der Schuldunfähigkeit die ihr vorgeworfenen rechtswidrigen Anlasstaten begangen hat. Sowohl aus dem forensischen Gutachten des Sachverständigen Z. vom 15.09.2023 als auch aus den Gutachten des Sachverständigen A. vom 19.11. und 23.11.2023 in dem zivilrechtlichen Unterbringungsverfahren ergibt sich der dringende Verdacht, dass die Beschuldigte zu den vorgeworfenen Tatzeitpunkten nicht mehr in der Lage war, ihr Handeln zu steuern. Danach leidet die Beschuldigte seit Jahren an einer Bindungsstörung im Kindesalter mit Enthemmung (ICD-10:F94.2), einer emotionalinstabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (ICD-10:F60.30) sowie einer Intelligenzminderung (ICD-10:F70), die sich so auswirken, dass die Beschuldigte während Erregungszuständen, die bei ihr mit massiven Impulsdurchbrüchen einhergehen, nicht mehr steuerungsfähig ist.
Der dringende Tatverdacht betreffend die - jedenfalls im Hinblick auf den Stich mit einer Gabel und den Wurf mit dem Messer erheblichen - Anlasstaten ergibt sich aus der Einlassung der Beschuldigten - soweit ihr gefolgt werden kann - sowie den Zeugenaussagen der drei geschädigten Mitpatienten (J., K. und B.).
Auch dürften sich aus dem Gutachten des forensischen Sachverständigen Z. dringende Anhaltspunkte dafür ergeben, dass von der Beschuldigten auch in dem geschützten Rahmen der zivilrechtlichen Unterbringung weiterhin bei Wutausbrüchen mit - den Anlasstaten gleichgelagerten - erheblichen Prognosetaten i.S.v. § 63 StGB zu rechnen ist. Dabei verkennt der Senat nicht, dass nach höchstrichterlicher Rechtsprechung Verhaltensweisen gegenüber Mitpatienten innerhalb einer (geschlossenen) Betreuungseinrichtung im Hinblick auf prognostische Aussagekraft - je nach Einzelfall - für die Gefährlichkeitsprognose ein geringeres Gewicht beigemessen werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 8. 7. 1999 - 4 StR 269-99 = NStZ 1999, 611, beckonline; BGH , Beschl. v. 15.1.2020 - 1 StR 604/19 = NStZ-RR 2020, 140, beckonline; a.A. BGH, Beschl. v. 24.10.2019 − 5 StR 410/19 = NStZ 2020, 278, beckonline; Fischer, a.a.O., § 63, Rn. 49). Der dringende Tatverdacht betreffend die hiesigen Anlasstaten dürfte jedenfalls - nach den Umständen des Einzelfalls bei einer Gesamtbetrachtung - dazu geeignet sein, eine ausreichende Gefahreneinschätzung für eine erhebliche Prognosetat zu stellen, zumal die vorgeworfenen Anlasstaten offensichtlich keinen konkreten Bezug zur Unterbringungssituation hatten, sondern die geschädigten Mitpatienten in Alltagssituationen - wie sie auch außerhalb einer geschlossenen Einrichtung vorkommen - völlig unvorbereitet getroffen haben.
3. Allerdings fehlt es für die Anordnung der einstweiligen Unterbringung an der Verhältnismäßigkeit, da der Schutz der Allgemeinheit vor der Beschuldigten derzeit durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann. Grundsätzlich bedarf es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung vor einer einstweiligen Unterbringung einer näheren Prüfung, ob einer verbliebenen Gefährlichkeit nicht durch eine Betreuung nebst Unterbringung entgegengewirkt werden kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8. 12. 2011 − 2 BvR 2181/11 = NJW 2012, 513, beckonline). Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kommt nur dann als letztes Mittel in Betracht, wenn (therapeutische und sichernde) Maßnahmen außerhalb des Maßregelvollzugs keinen ausreichend zuverlässigen Schutz vor der Gefährlichkeit des Täters bieten. Ist der Betroffene bereits auf anderer Rechtsgrundlage untergebracht, ist zudem erforderlich, dass andere organisatorische Möglichkeiten der außerstrafrechtlichen Maßnahmen zur Einschränkung der Gefährlichkeit ausgeschöpft werden. Strafrechtliche Maßnahmen können erst als letztes Mittel in Betracht kommen (vgl. BGH, Urteil vom 04.08.1998 - 5 StR 223/98 = NStZ-RR 1998, 359, beckonline). Bei schon vorliegender Heimunterbringung sind vor einer Unterbringung im Maßregelvollzug zunächst andere organisatorische und außerstrafrechtliche Mittel auszuschöpfen (vgl. Fischer, a.a.O., § 63, Rn. 49). Es muss geprüft werden, ob eine (einstweilige) Unterbringung im Maßregelvollzug unterbleiben kann, weil andere, weniger einschneidende organisatorische Vorkehrungen innerhalb der geschlossenen Pflegeeinrichtung einen genügenden Schutz für andere Heimbewohner bieten und die ausgehende Gefahr für Mitpatienten in vertretbarer Weise abgemildert werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 04.08.1998 - 5 StR 223/98 = NStZ-RR 1998, 359, beckonline).
Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände ist es derzeit noch unverhältnismäßig, die Beschuldigte einstweilen forensisch unterzubringen; im Einzelnen:
a) Zunächst ist hier zu berücksichtigen, dass die erheblichen Anlasstaten vom 20.10.2022 bereits über ein Jahr zurückliegen und seit der Anlasstat vom 04.04.2023 keine weiteren Taten mehr aktenkundig geworden sind. Dieser zeitliche Horizont gepaart mit dem Umstand, dass der Beschuldigten auch während des 10-jährigen Zeitraums der geschlossenen Heimunterbringung vor der ersten Anlasstat keine schweren Gewaltdelikte vorgeworfen wurden, spricht dafür, dass derzeit die von ihr ausgehende Gefahr sich mehr im Bereich der Eigen- als der Fremdgefährdung bewegt. Das deckt sich im Übrigen auch mit den Einschätzungen der Mitarbeiterinnen des LWL Wohnheims gegenüber dem Sachverständigen Z. in dem forensischen Gutachten vom 15.09.2023 (dort S. 11). Die derzeit von der Beschuldigten ausgehende Gefahr dürfte auch dadurch abgemildert sein, dass sie nach den aktenkundigen Angaben von Mitarbeiterinnen des Wohnverbundes seit den vorgeworfenen Taten mehrfach in - wenn auch eigengefährdenden - Krisensituationen eigeninitiativ nach (zusätzlicher) sedierender Medikation gefragt bzw. sich freiwillig in den Kriseninterventionsraum begeben hat.
b) Des Weiteren mutet die Einschätzung des LWL Wohnverbundes in R. (zuletzt in der Stellungnahme vom 19.12.2023) widersprüchlich an, da der Beschuldigten auf der einen Seite eine massive Fremdgefährdung bescheinigt wird, auf der anderen Seite aber wöchentlich vier (wohl unbegleitete) Stadtausgänge genehmigt werden. In die Prognose für die aktuelle Fremdgefährdung dürfte insoweit auch einzubeziehen sein, dass es bei den Stadtausgängen offenbar zu keinerlei fremdaggressiven Zwischenfällen kommt.
c) Auch die zeitliche Befristung der betreuungsrechtlichen Unterbringung der Beschuldigten macht die Anordnung der Unterbringung nach § 126a StPO hier nicht erforderlich (vgl. zu anderen Fallkonstellationen im Rahmen des PsychKG NRW OLG Hamm Beschl. v. 9.6.2020 - 4 Ws 95/20, BeckRS 2020, 13095 Rn. 33, beckonline; LG Kleve, Beschluss vom 07.07.2011 - 120 Qs-306 Js 392/11/65/11; LG Kleve Beschl. v. 7.7.2011 - 120 Qs-306 Js 392/11/65/11, BeckRS 2011, 20279, beckonline). Hier ist zu berücksichtigen, dass die derzeitige Unterbringung auf der Grundlage von § 1831 BGB bis zum 07.12.2024 befristet ist und somit vom Zeithorizont her die Gemeingefährlichkeit der Beschuldigten für einen Zeitraum abmildert, der länger wäre als beim einstweiligen Unterbringungsbefehl nach § 126a StPO unter Berücksichtigung der Fristen der §§ 121, 122 StPO.
d) Der Senat verkennt nicht, dass die zivilrechtliche Unterbringung nach § 1831 BGB auf der Grundlage des Beschlusses des Amtsgerichts Marsberg vom 07.12.2023 keine Handhabe bietet, die Beschuldigte bei Fremdgefährdung in einem Kriseninterventionsraum abzuschirmen, da dieser entsprechend den Vorgaben von § 1831 BGB nur bei Eigengefährdung eingreift. Indes ist zu berücksichtigen, dass für den Fall einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen Mitbewohnern neben einer Fremdgefährdung der Beschuldigten regelmäßig auch eine Eigengefährdung vorliegen dürfte, sodass der genannte Beschluss als Ermächtigungsgrundlage für einen Freiheitsentzug im Kriseninterventionsraum dienen könnte. Zudem ist - davon geht der Senat mangels anderer Angaben aus - nicht einmal versucht worden, auf der Grundlage des PsychKG NRW für die Fälle der Fremdgefährdung eine Ermächtigung i.S.v. § 20 Abs. i Nr. 2 und 4 PsychKG NRW für eine Unterbringung in einem Kriseninterventionsraum bzw. eine Fixierung zu erreichen. Trotz § 1 Abs. 3 PsychKG NRW erscheint ein solcher Antrag zulässig, da er über den Anwendungsbereich von § 1831 BGB hinaus zur Abwehr einer Fremdgefahr gedacht wäre (vgl. zur Anwendung der öffentlichrechtlichen Vorschriften bei Fremdgefahr neben der Selbstgefahr: BeckOK BGB/Müller-Engels, 68. Ed. 1.11.2023, BGB § 1831 Rn. 28; LG Hildesheim, Beschluss vom 14. Januar 1994 - 5 T 720/93 -, Rn. 6 - 8, juris).
III.
Die Entscheidung zu den Kosten und den Auslagen
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