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Entscheidungen

Haftfragen

Untersuchungshaft, Außervollzugsetzung, Invollzugsetzung, Verurteilung, lange Freiheitsstrafe

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Hamm, Beschl. v. 30.01.2024 - 2 Ws 12/24

Leitsatz des Gerichts:

Zu den Anforderungen an die "neu hervorgetretenen Umstände" bei nunmehr erfolgter Verurteilung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe.


In pp.

1. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
2. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Iserlohn vom 06.01.2023, Az. 5 Gs 5/23, bleibt unter den im Beschluss des Amtsgerichts Iserlohn vom 02.03.2023 genannten Auflagen (gl. Az.) außer Vollzug gesetzt.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dem Angeklagten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse, § 467 Abs. 1 StPO analog.
4. Anordnung des mitunterzeichnenden Senatsvorsitzenden: Der Angeklagte ist in vorliegender Sache unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Iserlohn erließ unter dem 06.01.2023 gegen den Angeklagten Haftbefehl wegen des Verdachts des versuchten besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Der Haftbefehl legt dem Angeklagten zur Last, am 00.08.2020 um 02:30 Uhr den Nebenkläger mit einer ungeladenen Softairwaffe bedroht und aufgefordert zu haben, ihm eine Umhängetasche mit Bargeld in Höhe von mindestens 37.745, 00 Euro zu übergeben. Als der Nebenkläger sich geweigert habe, habe der Angeklagte ihm zunächst einen und im weiteren Verlauf noch weitere Faustschläge ins Gesicht versetzt, wodurch der Nebenkläger in seinem Bewusstsein erheblich eingetrübt gewesen sei und einen Knochenbruch unter dem rechten Auge sowie eine Rippenprellung erlitten habe. Nach dem Hinzukommen und Eingreifen der Zeugin P. sei der Angeklagte ohne Beute zu Fuß vom Tatort geflohen. Der Angeklagte sei der Tat insbesondere deshalb dringend verdächtig, weil eine serologische Spur im Mundbereich an der durch den Täter bei der Tat getragenen Sturmmaske dem Angeklagten habe zugeordnet werden können. Es bestehe der Haftgrund der Flucht gem. § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO. Der Angeklagte sei ohne bekannten Wohnsitz. Bei seiner Meldeanschrift in D. handele es sich - nach Angaben seines Bewährungshelfers - um die Anschrift seiner Eltern, an der er sich aber nicht aufhalte. Es sei davon auszugehen, dass sich der Angeklagte aufgrund der verfahrensgegenständlichen Tat vor den Strafverfolgungsbehörden verborgen halte. Bei dem vorliegenden Tatvorwurf sei eine Mindeststrafe von fünf Jahren vorgesehen; auch bei einer unter Umständen vorzunehmenden Milderung wegen Versuchs, welche sich nicht aufdränge, sei eine Mindeststrafe von zwei Jahren anzunehmen, die den Angeklagten offenbar zur Flucht bewege. Hilfsweise sei aus diesen Gründen auch von Fluchtgefahr auszugehen.

Am 15.02.2023 wurde der Angeklagte festgenommen.

Der Haftbefehl wurde dem Angeklagten am 16.02.2023 durch den Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Düsseldorf eröffnet und in Vollzug gesetzt (Az. 150 Gs 337/23).

Auf den am gleichen Tage durch den Angeklagten gestellten Haftprüfungsantrag und die Anträge auf Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung hat der Ermittlungsrichter am Amtsgericht Iserlohn am 02.03.2023 Termin zur mündlichen Haftprüfung durchgeführt; bei diesem hat der Verteidiger des Angeklagten Unterlagen übergeben, die belegten, dass der Beschuldigte mit seiner schwangeren Verlobten ab März 2023 eine Wohnung in D. angemietet habe. Des Weiteren hat der Angeklagte einen seit Sommer 2021 bestehenden Arbeitsvertrag überreicht; diesbezüglich gab der Angeklagte an, die letzten 1 ½ Jahre in Süddeutschland gearbeitet zu haben, wohingegen nunmehr ein Einsatz als Projektleiter im Bereich der Brand- und Wasserschadenssanierung im Raum D. beabsichtigt sei. Daraufhin hat das Amtsgericht den Haftbefehl vom 06.01.2023 mit Beschluss vom 02.03.2023 außer Vollzug gesetzt und dem Angeklagten aufgegeben, sich dreimal wöchentlich bei der zuständigen Polizeiwache zu melden, allen Ladungen Folge zu leisten und sich straffrei zu führen.

Die Staatsanwaltschaft Hagen hat wegen der in dem Haftbefehl bezeichneten Tat unter dem 15.04.2023 Anklage erhoben, welche das Landgericht Hagen - 9. große Strafkammer - mit Beschluss vom 06.07.2023 zur Hauptverhandlung zugelassen hat. Zugleich hat die Strafkammer den Haftbefehl des Amtsgerichts Iserlohn vom 06.01.2023 aus den Gründen seiner Anordnung aufrechterhalten und nach Maßgabe des Beschlusses des Amtsgerichts Iserlohn vom 02.03.2023 weiterhin außer Vollzug gelassen.

Die Hauptverhandlung vor der 9. großen Strafkammer des Landgerichts Hagen wurde an elf Verhandlungstagen zwischen dem 30.08.2023 und dem 13. Dezember 2023, zu denen der Angeklagte sämtlich erschien, durchgeführt. Im Termin am 13.12.2023 beantragte die Staatsanwaltschaft, den Angeklagten wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren zu verurteilen. Der Verteidiger des Angeklagten beantragte Freispruch. Nach Unterbrechung der Hauptverhandlung zwischen 12:15 und 14:31 Uhr verkündete die Kammer ein Urteil, mit dem der Angeklagten wegen versuchten besonders schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde.

Im Anschluss an die Urteilsverkündung verkündete die Kammer den angefochtenen Beschluss, mit dem sie den Haftbefehl des Amtsgerichts Iserlohn vom 06.01.2023 unter Aufhebung des Außervollzugsetzungsbeschlusses des Amtsgerichts Iserlohn vom 02.03.2023 wieder in Vollzug gesetzt hat. Zur Begründung hat sie ausgeführt, es lägen neu hervorgetretene Umstände vor, die die Verhaftung des Angeklagten erforderlich machten. Eine Invollzugsetzung komme namentlich dann in Betracht, wenn der Angeklagte nach dem Eindruck der Kammer bis zuletzt auf eine bewährungsfähige Strafe gehofft habe, eine solche jedoch nicht verhängt werde. Dies müsse erst recht gelten, wenn der Angeklagte - wie vorliegend - bis zuletzt davon ausgegangen sei, freigesprochen zu werden. Die gesamte Hauptverhandlung sei davon geprägt gewesen, nach der Überzeugung der Kammer falsch aussagende Entlastungszeugen und sonstige Entlastungsbeweismittel zu präsentieren, so dass die Kammer im Zusammenspiel mit dem persönlichen Eindruck von dem Angeklagten zu der Überzeugung gelangt sei, der Angeklagte sei in dem festen Glauben, auf dieser Grundlage freigesprochen zu werden. Angesichts der nunmehr entgegen dieser Erwartung erfolgten Verurteilung seien weder die im Haftverschonungsbeschluss getroffenen Auflagen, noch sonstige Auflagen geeignet, den Zweck der Untersuchungshaft angesichts der fortbestehenden Fluchtgefahr zu erreichen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den angefochtenen Beschluss Bezug genommen.

Der Angeklagte wurde am 13.12.2023 festgenommen und befindet sich seitdem (erneut) in Untersuchungshaft.

Gegen das Urteil hat der Verteidiger des Angeklagten unter dem 14.12.2023 Revision eingelegt.

Mit Schriftsatz vom 10.01.2023 hat er gegen den Beschluss des Landgerichts vom 13.12.2023 Beschwerde eingelegt und eine weitere Begründung angekündigt.

Das Landgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 11.01.2023 nicht abgeholfen.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt unter dem 24.01.2023, die (Haft-)Beschwerde des Angeklagten als unbegründet zu verwerfen. Sie verteidigt unter ergänzenden Ausführungen den landgerichtlichen Beschluss und verweist zudem darauf, dass die durch das Landgericht geschilderte Präsentation falsch aussagender Entlastungszeugen mit der Konstellation einer unlauteren Einwirkung auf Verfahrensbeteiligte vergleichbar sei, die nach obergerichtlicher Rechtsprechung ebenfalls als neu hervortretender Umstand anerkannt worden sei.

II.

Die erhobene Beschwerde ist gem. § 304 StPO zulässig und auch in der Sache begründet. Denn die Voraussetzungen für eine Invollzugsetzung des Haftbefehls gem. § 116 Abs. 4 StPO liegen nicht vor.

1. Der Beschluss genügt bereits nicht den diesbezüglichen Begründungsanforderungen. Denn die Strafkammer hat im angefochtenen Beschluss Ausführungen lediglich zu den von ihr angenommenen Gründen für die Invollzugsetzung, namentlich zum Vorliegen besonderer Umstände i. S. d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO gemacht, nicht aber zu den allgemeinen, für Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft geltenden Voraussetzungen.

Insoweit fehlt es insbesondere an Ausführungen zum dringenden Tatverdacht. Zwar ist in Fällen, in denen mit der Verkündung des Urteils zugleich durch Beschluss die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet wird, grundsätzlich nicht zu fordern, dass sich dieser mit dem dringenden Tatverdacht auseinandersetzt, weil dieser durch die Verurteilung hinreichend belegt ist. Liegen allerdings die Urteilsgründe zum Zeitpunkt der Beschwerde noch nicht vor, hat das erstinstanzliche Gericht eine zumindest grobe Beweiswürdigung in der Haftentscheidung oder in der (Nicht-)Abhilfeentscheidung vorzunehmen, um dem Beschwerdegericht eine Überprüfung zu ermöglichen (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 05.06.2008, Az. 3 Ws 220/08, NStZ 2008, 649). Diese für die Haftfortdauerentscheidung gem. § 268b StPO geltenden Erwägungen gelten in gleicher Weise in der vorliegenden Konstellation, in der die Strafkammer nach Urteilsverkündung über die Invollzugsetzung eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls entschieden hat, insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass der Urteilstenor im vorliegenden Fall von der rechtlichen Würdigung der Tat in Haftbefehl und Anklage abweicht.

2. Hierauf kommt es vorliegend letztlich aber nicht entscheidend an, denn darüber hinaus fehlt es nach Einschätzung des Senats auch am Vorliegen der Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO, unter denen ein bislang außer Vollzug gewesener Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt werden kann.

a) Das in § 116 Abs. 4 StPO zum Ausdruck kommende Gebot, die Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls durch den Richter nur dann zu widerrufen, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der Beurteilungsgrundlage zur Zeit der Gewährung der Verschonung verändert haben, gehört zu den bedeutsamsten (Verfahrens-) Garantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.06.2012, 2 BvR 720/12, - juris, und BVerfG, Beschluss vom 11.07.2012 - 2 BvR 1092/12 - BeckRS 2012, 55231). Ist ein Haftbefehl einmal unangefochten außer Vollzug gesetzt worden, so ist jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich. Der erneute Vollzug des Haftbefehls durch den Richter gemäß der hier allein in Betracht kommenden Nr. 3 der Vorschrift ist nur zulässig, wenn neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen. Dagegen kann eine lediglich andere Beurteilung des unverändert gebliebenen Sachverhalts einen Widerruf nicht rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.06.2012, 2 BvR 720/12, - juris und BVerfG, Beschluss vom 11.07.2012 - 2 BvR 1092/12 - Beck RS 2012, 55231).

Neu im Sinne des § 116 Abs. 4 S. 3 StPO sind nachträglich eingetretene oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordene Umstände nur dann, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären. Das maßgebliche Kriterium für den Widerruf besteht demnach in einem Wegfall der Vertrauensgrundlage der Aussetzungsentscheidung. Ob dies der Fall ist, erfordert vor dem Hintergrund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) eine Beurteilung sämtlicher Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerfG, Beschluss v. 17.12.2020, Az. 2 BvR 1787/20, BeckRS 2020, 37348; BVerfG, Beschluss vom 11.06.2012, 2 BvR 720/12, - juris, BVerfG, Beschluss vom 11.07.2012 - 2 BvR 1092/12 - Beck RS 2012, 55231, BVerfG, Beschluss vom 15.08.2007, 2 BvR 1485/07, - juris; Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl., 2023, § 116 Rn. 28).

Dabei sind die Grenzen, innerhalb derer eine Haftverschonung wegen neu hervortretender Umstände widerrufen werden kann, eng gesteckt, denn das Gericht ist an die Beurteilung der Umstände, auf denen die Aussetzung beruht, grundsätzlich gebunden. Die Schwelle für eine Widerrufsentscheidung ist hiernach grundsätzlich sehr hoch anzusetzen. Dabei ist im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung stets zu berücksichtigen, dass der Angeklagte inzwischen Gelegenheit hatte, sein Verhalten gegenüber dem Strafverfahren zu dokumentieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.07.2012, 2 BvR 1092/12, BeckRS 2012, 55231).

Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft können zwar geeignet sein, den Widerruf einer Haftverschonung und die Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt jedoch voraus, dass von der Prognose des Haftrichters bezüglich der Straferwartung der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht (vgl. OLG Hamm Beschl. v. 30.06.2016, Az. III-3 Ws 242/16). Wenn demgegenüber zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls mit der späteren Strafe zu rechnen gewesen ist und der Angeklagte die ihm erteilten Auflagen korrekt erfüllt und sich dem Verfahren gestellt hat, darf die Haftverschonung nicht widerrufen werden. Selbst der Umstand, dass der um ein günstiges Ergebnis bemühte Angeklagte durch das Urteil die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen muss, kann einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, sofern der Angeklagte die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Verfahrensausgangs während der Zeit der Außervollzugsetzung des Haftbefehls stets vor Augen hatte und er gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nachgekommen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.07.2012, 2 BvR 1092/12, BeckRS 2012, 55231; Senatsbeschluss vom 07.08.2012, Az. 2 Ws 252/12, BeckRS 2012, 18209).

b) Die letztgenannte Fallgestaltung ist nach Einschätzung des Senas vorliegend gegeben.

Die Strafkammer ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass eine erhebliche Abweichung zwischen der durch den Haftrichter prognostizierten Straferwartung und der durch den Tatrichter verhängten Freiheitsstrafe nicht feststellbar ist, eine Invollzugsetzung vorliegend daher nicht zu begründen vermag. Denn der Haftrichter ist bei Erlass des Haftbefehls von einer für die Tat einschlägigen Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren ausgegangen, da sich eine Milderung wegen Versuchs nicht aufdränge. Dass die durch die Strafkammer tatsächlich verhängte Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten erheblich nach oben von der Prognose des Haftrichters abweicht, ist - unter Würdigung der bereits im Haftbefehl genannten konkreten Tatumstände und Tatfolgen sowie der Person des (erheblich einschlägig vorbestraften) Angeklagten - nicht anzunehmen.

Soweit die Strafkammer sodann aber ausführt, der die Invollzugsetzung rechtfertigende Umstand liege in der enttäuschten Erwartung des Angeklagten, freigesprochen zu werden, vermag dies nach Einschätzung des Senats eine Invollzugsetzung des Haftbefehls nicht zu begründen.

Denn der Senat geht davon aus, dass der Angeklagte die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Verfahrensausgangs während der Zeit der Außervollzugsetzung im o. g. Sinne sowohl mit Blick darauf, dass er wegen der verfahrensgegenständlichen Tat verurteilt werden könnte, als auch mit Blick auf die im Falle einer Verurteilung zu erwartende Strafhöhe vor Augen gehabt haben muss, wenngleich er die Hoffnung gehabt haben mag, mittels entlastender Beweismittel durchgreifende Zweifel an seiner Täterschaft zu wecken. Die Möglichkeit einer Verurteilung kann dem durch einen Verteidiger verteidigten Angeklagten bereits deshalb als naheliegende Möglichkeit des erstinstanzlichen Verfahrensabschlusses nicht verborgen geblieben sein, weil gegen ihn wegen der ihm zur Last gelegten Tat ein Haftbefehl ergangen war, welcher nach seinem Erlass auch nicht wieder aufgehoben wurde. Die Außervollzugsetzung des Haftbefehls lässt die Frage des dringenden Tatverdachts unberührt und hat ihren Grund einzig darin, dass weniger einschneidende Mittel zur Ausräumung der angenommenen Fluchtgefahr für ausreichend erachtet wurden. Der letztlich bis zum 13.12.2023 fortbestehende Haftbefehl vom 06.01.2023 führt hinsichtlich des angenommenen dringenden Tatverdachts aus, dass von der Innenseite der durch den Täter bei der Tat getragenen Sturmhaube im Mundbereich eine serologische Spur gesichert worden sei, deren Auswertung eine Zuordnung zum Angeklagten ergeben habe. Zunächst sei eine Zuordnung dieser Spur zu dem bereits in der DNA-Datenbank NRW vorhandenen DNA-Profil des Angeklagten erfolgt; ein später durchgeführter Abgleich mit einer erneut beim Angeklagten entnommenen serologischen Probe habe dieses Ergebnis bestätigt. Die Aufrechterhaltung dieses auf einem DNA-Abgleich basierenden Haftbefehls bis zur Urteilsverkündung durch die 9. Strafkammer dokumentiert, dass diese von fortbestehendem dringenden Tatverdacht ausgegangen ist; bereits deshalb verbietet sich nach Einschätzung des Senats die durch das Landgericht vorgenommene Argumentation, aus dem Verteidigungsverhalten des Angeklagten, namentlich der Beteuerung seiner Unschuld und der Präsentation entlastender Beweismittel, folge, dass er bis zuletzt mit einem Freispruch gerechnet habe, mit der Folge einer so wesentlichen Erhöhung der Fluchtgefahr durch die gleichwohl erfolgte (erstinstanzliche) Verurteilung, dass sie eine Invollzugsetzung rechtfertige. Auch wenn er auf einen Freispruch gehofft haben mag, muss dem durch seinen Verteidiger anwaltlich beratenen Angeklagten bereits aufgrund des fortbestehenden Haftbefehls die Möglichkeit einer Verurteilung bewusst gewesen sein und ihn gleichwohl nicht davon abgehalten haben, sich dem Verfahren zu stellen. Dies wird auch dadurch belegt, dass der Angeklagte auch nach dem Stellen des Schlussantrages der Staatsanwaltschaft, der auf Verurteilung des Angeklagten wegen Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren lautete und welcher ihm die Möglichkeit einer Verurteilung erneut eindringlich vor Augen geführt haben dürfte, nach mehr als zwei Stunden Unterbrechung der Hauptverhandlung zur Urteilsverkündung erschienen ist und sich weiterhin dem Verfahren gestellt hat.

Auch die durch die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 24.01.2024 angestellte Hilfserwägung, dass auch eine Vergleichbarkeit mit der Konstellation einer unlauteren Einwirkung auf Verfahrensbeteiligte, welche ebenfalls als neu hervorgetretener Umstand i. S. d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO anerkannt sei, vorliegend eine Invollzugsetzung rechtfertige, verfängt nach Ansicht des Senats nicht. Zwar vermag das Hinzutreten eines weiteren Haftgrundes im Einzelfall die Wiederinvollzugsetzung zu begründen (Schmitt in: Meyer-Goßner, a. a.O. § 116 Rn. 28). Die durch das Landgericht im angefochtenen Beschluss gemachten Ausführungen lassen indes nicht erkennen, dass der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr bestünde; das Landgericht selbst hat die Invollzugsetzung auch nicht auf diesen Haftgrund gestützt. Für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sind nach Ergehen eines erstinstanzlichen, mit der Revision angegriffenen Urteils, Erwägungen anzustellen, welche das bisherige Verhalten des Angeklagten und etwaiger Mitbeschuldigter ebenso wie die Frage der Rekonstruierbarkeit der den Feststellungen zugrunde liegenden Beweisergebnisse in den Blick nehmen (vgl. für die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen gem. § 119 StPO aus Gründen der Verdunkelungsgefahr OLG Köln, Beschluss v. 15.03.2021, Az. 2 Ws 133/21, zitiert nach beckonline). Ein nur auf Verdunkelungsgefahr gestützter Haftbefehl muss in der Regel nach Abschluss des Verfahrens im letzten Tatsachenrechtszug aufgehoben werden (vgl. Schmitt in: Meyer/Goßner, a. a. O., § 112 Rn. 35).

In Anwendung dieser Grundsätze genügen die Ausführungen im angefochtenen Beschluss nicht für die Annahme nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils fortgeltender Verdunkelungsgefahr und damit eines neu hervortretenden Umstandes. Anderes ergibt sich auch nicht in Ansehung der durch die Generalstaatsanwaltschaft zitierten Senatsentscheidung vom 03.09.1998, Az. 2 Ws 375/98, abgedruckt in NStZ-RR 1999, 53. Denn diese Entscheidung hatte einen insoweit anderen Sachverhalt zum Gegenstand, als der Haftbefehl in dem damals zu entscheidenden Fall noch während des erstinstanzlich laufenden Verfahrens in Vollzug gesetzt worden war, nachdem der Angeklagte in einem weiteren gegen ihn gerichteten, laufenden Verfahren den Zeugen, welcher ihn wegen Körperverletzung angezeigt hatte, für den Fall der Nichtrücknahme der Strafanzeige massiv mit Angriffen auf Leib und Leben bedroht hatte. Vor diesem Hintergrund hatte der Senat angenommen, dass dem Angeklagten Drohung, Täuschung und Gewalt als Mittel der Einwirkung auf Zeugen nicht persönlichkeitsfremd seien und daher auch mit Blick auf das der Senatsentscheidung zugrundeliegende Verfahren Verdunkelungsgefahr anzunehmen sei. Diese Erwägungen lassen sich auf den vorliegenden Fall, bei dem - offenbar insbesondere auf der Grundlage eines DNA-Abgleichs - eine erstinstanzliche Verurteilung des Angeklagten bereits erfolgt ist und im Übrigen die genauen Hintergründe für die Präsentation der nach Ansicht der Kammer falschen Entlastungsbeweismittel dem Senat nicht bekannt und in der angefochtenen Entscheidung nicht mitgeteilt werden, nicht übertragen.
Der Beschluss der 9. großen Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 13. Dezember 2023 ist daher aufzuheben.

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Iserlohn vom 06.01.2023 bleibt mithin außer Vollzug, und zwar mit den nach Maßgabe der im Haftverschonungsbeschluss vom 02.03.2023 dem Angeklagten erteilten Weisungen.

3. Abschließend weist der Senat darauf hin, dass der Angeklagte nach seiner (erneuten) Inhaftierung am 13.12.2023 nach Erlass des (Wieder-)Invollzugsetzungsbeschlusses vom gleichen Tage der 9. großen Strafkammer gem. § 115 Abs. 1 StPO spätestens am 14.12.2023 vorzuführen gewesen wäre. Wird ein Beschuldigter - wie hier - aufgrund der wieder in Vollzug gesetzten Haftanordnung festgenommen, ist er grundsätzlich nach §§ 115, 115 a StPO dem zuständigen Richter vorzuführen, zu vernehmen und ist ihm Gelegenheit zu geben, alle Tatsachen geltend zu machen, die zu seinen Gunsten sprechen. Vorliegend war der Angeklagte zwar bereits im Rahmen der Hauptverhandlung von der Kammer vernommen worden und es waren ihm alle Umstände bekannt, die der neuerlichen Haftanordnung zugrunde lagen, einschließlich der erfolgten Verurteilung durch die Kammer vom selben Tage. Der Angeklagte hatte allerdings dennoch einen erneuten Anspruch auf die Gewährung umfassenden rechtlichen Gehörs, zumal ihm solches insbesondere in Bezug auf die Umstände, aufgrund derer die Kammer das Vorliegen neuer Umstände und die Erforderlichkeit der Verhaftung des Angeklagten nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO als begründet ansah, auch im Rahmen der Hauptverhandlung nicht gewährt worden sein dürfte. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gilt in jeder Verfahrenslage, selbst dann, wenn bereits ein Urteil gegen den Beschuldigten bzw. Angeklagten ergangen ist (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 30.06.201, Az. III-3 Ws 242/16; Posthoff/Faßbender in: Gercke/Tamming/Zöller, StPO 7. Aufl. 2013, § 115 Rdn. 13 m. w. N.).

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO analog.


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