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Entscheidungen

Verwaltungsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis, Fahreignungs-Bewertungssystem, nicht vollständige Akteneinsicht

Gericht / Entscheidungsdatum: BayVGH, Beschl. v. 29.01.2024 – 11 CS 23.2036

Eigener Leitsatz:

Der Wirksamkeit einer Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem steht nicht entgegen, wenn dem Fahrerlaubnisinhaber unvollständig vor Erlass des Bescheids Akteneinsicht gewährt worden ist. Das führt nicht zur Nichtigkeit des Verwaltungsakts.


In pp.

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 6.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antragsteller wendet sich gegen den Sofortvollzug hinsichtlich der Entziehung seiner kroatischen Fahrerlaubnis (Klassen AM, B, BE, C1, C1E, C und CE) und der Verpflichtung zur Vorlage seines Führerscheins.

Mit Schreiben vom 9. September 2021 ermahnte das Landratsamt Passau (Führerscheinstelle) den Antragsteller, weil er durch Verkehrszuwiderhandlungen am Tattag des letzten Verstoßes vier Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem erreicht habe. Dieses Schreiben wurde ihm laut Zustellungsurkunde am 10. September 2021 durch Einwurf in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt.

Mit Schreiben vom 31. Januar 2022 verwarnte das Landratsamt den Antragsteller wegen Erreichens von sechs Punkten. Dieses Schreiben wurde ihm laut Zustellungsurkunde am 1. Februar 2022 ebenfalls durch Einwurf in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt.

Mit Schreiben vom 25. August 2023 hörte das Landratsamt den Antragsteller zu Entziehung der Fahrerlaubnis an, weil im Fahreignungsregister zehn Punkte erfasst seien. Hierzu ließ er durch seinen Bevollmächtigten mit Schreiben vom 6. und 11. September 2023 Akteneinsicht beantragen und vortragen, ihm sei weder eine Ermahnung noch eine Verwarnung zugegangen.

Mit Bescheid vom 13. September 2023 entzog das Landratsamt dem Antragsteller die Fahrerlaubnis und verpflichtete ihn unter Anordnung des Sofortvollzugs, den Führerschein zur Eintragung eines Sperrvermerks vorzulegen. Die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Entziehung der kroatischen Fahrerlaubnis habe die Wirkung der Aberkennung des Rechts, hiervon in der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch zu machen.

Am 20. Oktober 2023 wurde der Sperrvermerk in den Führerschein des Antragstellers eingetragen.

Mit Schriftsatz vom 29. September 2023 ließ der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Klage gegen den Bescheid erheben, über die das Verwaltungsgericht noch nicht entschieden hat. Mit Schriftsatz vom gleichen Tag ließ der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage beantragen und zur Begründung ausführen, er sei nicht ordnungsgemäß ermahnt und verwarnt worden. Er habe zu keinem Zeitpunkt eine Ermahnung oder Verwarnung erhalten. Der vom Landratsamt zur Einsicht elektronisch übermittelten Akte, die keine Postzustellungsurkunden enthalte, lasse sich nicht entnehmen, ob und wann eine Ermahnung bzw. Verwarnung zugestellt worden sei. Für deren Zugang trage das Landratsamt die Beweislast.

Mit Beschluss vom 26. Oktober 2023 hat das Verwaltungsgericht den Antrag abgelehnt. Der Antragsteller sei vor der Entziehung der Fahrerlaubnis ordnungsgemäß ermahnt und verwarnt worden. Diese seien ihm laut den vorgelegten Postzustellungsurkunden zugegangen. Sein Vortrag, er habe diese nicht erhalten, sei nicht glaubhaft bzw. als Schutzbehauptung unerheblich. Bloßes Bestreiten genüge hierfür nicht.

Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt, lässt der Antragsteller vortragen, der Bescheid leide an einem besonders schwerwiegenden Fehler, der zur Nichtigkeit führe. Dem Antragsteller sei vor dessen Erlass nur unvollständig Akteneinsicht gewährt worden und das Landratsamt habe zudem nicht auf die nur unvollständige Übermittlung hingewiesen. Aus den übersandten Akten habe sich nicht ergeben, dass die entsprechenden Schreiben dem Antragsteller tatsächlich zugegangen seien. Durch die Vorenthaltung von Aktenteilen sei gegen das Recht auf effektive Verteidigung und den Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen worden. Eine Heilung des Fehlers sei durch den Hinweis auf die Möglichkeit einer vollständigen Akteneinsicht nicht eingetreten.

Mit Schreiben vom 1. Dezember 2023 hat der Verwaltungsgerichtshof dem Bevollmächtigten des Antragstellers die vollständige Behördenakte zukommen lassen. In seiner Stellungnahme hierzu äußerte dieser die Auffassung, es sei nicht Aufgabe des Gerichts, sondern der Behörde, die vollständige Akte bei Beantragung der Akteneinsicht zu übermitteln. Eine Heilung sei daher nicht eingetreten.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.

II.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.

1. Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl I S. 310, 919), vor Erlass des Bescheids vom 13. September 2023 zuletzt geändert durch das zum 1. Juli 2023 in Kraft getretene Gesetz vom 12. Juli 2021 (BGBl I S. 3091), gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem (§ 40 i.V.m. Anlage 13 der Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV – vom 13.12.2010 [BGBl I S. 1980], zuletzt geändert durch Verordnung vom 20.7.2023 [BGBl I Nr. 199]) ergeben. Bei einer ausländischen Fahrerlaubnis hat die Entziehung die Wirkung einer Aberkennung des Rechts, von der Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen (§ 3 Abs. 1 Satz 2 StVG). Punkte ergeben sich mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG). Die kraft Gesetzes (§ 4 Abs. 9 StVG) sofort vollziehbare Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem setzt voraus, dass der Fahrerlaubnisinhaber zuvor das Stufensystem des § 4 Abs. 5 StVG ordnungsgemäß durchlaufen hat (§ 4 Abs. 6 StVG), d.h. dass die Behörde ihn bei Erreichen von vier oder fünf Punkten ermahnt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG) und bei Erreichen von sechs oder sieben Punkten verwarnt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG) hat.

Die Beschwerdebegründung beschränkt sich darauf, die Entziehung der Fahrerlaubnis sei wegen eines besonders schwerwiegenden und daher nicht heilbaren Fehlers (nur unvollständige Gewährung der begehrten Akteneinsicht und Vorenthaltung von Aktenteilen) nichtig. Den ursprünglich erhobenen Einwand, der Antragsteller habe die Ermahnung und Verwarnung nicht erhalten, hat dessen Bevollmächtigter zuletzt nach Übersendung der vollständigen Behördenakte durch den Senat nicht mehr aufrechterhalten. Aus den Zustellungsurkunden vom 10. September 2021 und 1. Februar 2022 geht auch zweifelsfrei hervor, dass der Postbedienstete die korrekt adressierte Ermahnung und Verwarnung jeweils in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt hat, weil die Übergabe in der Wohnung nicht möglich war. Diese Art der Ersatzzustellung ist gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VwZVG i.V.m. § 180 ZPO zulässig, wenn in der Wohnung weder die Person, der zugestellt werden soll (hier der Antragsteller), noch ein erwachsener Familienangehöriger, eine in der Familie beschäftigte Person oder ein erwachsener ständiger Mitbewohner angetroffen wird. Die Zustellungsurkunden zur Ermahnung und Verwarnung, die hierzu die notwendigen Angaben enthalten (§ 182 Abs. 2 Nr. 4 ZPO), begründen insoweit vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen (§ 182 Abs. 1 Satz 2, § 418 Abs. 1 ZPO). Den grundsätzlich möglichen Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen (§ 418 Abs. 2 ZPO) hat der Antragsteller nicht erbracht. Bloßes unsubstantiiertes Bestreiten ist hierfür – wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt – nicht ausreichend (stRspr, vgl. BVerfG, B. v. 9.1.2023 – 2 BvR 2697/18NStZ-RR 2023, 86 – juris Rn. 9; BayVGH, B. v. 19.7.2021 – 11 CS 21.1280 – juris Rn. 28; B. v. 30.11.2020 – 11 CS 20.2273 – juris Rn. 13 m.w.N.).

Entgegen dem Vorbringen des Antragstellers führt auch die vor Bescheiderlass unvollständig gewährte Akteneinsicht nicht zur Nichtigkeit des Bescheids. Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG). Die Behörde hat ihm Einsicht in die einzelnen Teile der das Verfahren betreffenden Akten zu gestatten, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung der rechtlichen Interessen erforderlich ist (Art. 29 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG). Hier wurden, wie das Landratsamt in seiner Antragserwiderung vom 12. Oktober 2023 eingeräumt hat, dem Bevollmächtigten des Antragstellers auf dessen Gesuch hin die offenbar gesondert geführten Akten der Ermahnung und Verwarnung und damit auch die Zustellungsnachweise nicht elektronisch übermittelt. Aber abgesehen davon, dass ihm die Unvollständigkeit der übermittelten Akte hätte auffallen können, ist ein Verwaltungsakt gemäß Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG nur nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Ohne Hinzutreten besonderer, hier nicht ersichtlicher Umstände ist jedoch die nicht (vollständig) gewährte Akteneinsicht kein besonders schwerwiegender Fehler im Sinne des Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG (vgl. OVG NW, B. v. 26.4.2022 – 6 A 1269/21 – juris Rn. 19 ff.; B. v. 2.2.2016 – 16 B 1267/15 – juris Rn. 3 ff.). Vielmehr ist dies vom Gewicht her mit der unterbliebenen Anhörung eines Beteiligten vergleichbar, die gemäß Art. 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BayVwVfG bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden kann. Auch eine Nichtigkeit gemäß Art. 44 Abs. 2 BayVwVfG ohne Rücksicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1 scheidet hier offensichtlich aus.

Trotz des Verfahrensfehlers vor Erlass des Bescheids kann der Antragsteller auch nicht dessen Aufhebung verlangen. Die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach Art. 44 BayVwVfG nichtig ist, kann nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat (Art. 46 BayVwVfG). Dies ist hier der Fall. Bei der Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem wegen Erreichens von acht oder mehr Punkten nach Durchlaufen des Stufensystems handelt es sich um eine gebundene Entscheidung. Die zuständige Behörde hat diese Maßnahme zu ergreifen und die Fahrerlaubnis zu entziehen; ein Ermessensspielraum kommt ihr dabei nicht zu (§ 4 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG). Gleiches gilt für die Verpflichtung zur Vorlage des ausländischen Führerscheins, um den Sperrvermerk anzubringen (§ 47 Abs. 2 FeV). Das Landratsamt hätte daher auch bei vollständig gewährter Akteneinsicht keine andere Entscheidung treffen können. Der Verfahrensfehler ist somit nach Art. 46 BayVwVfG unbeachtlich (vgl. auch BayVGH, B. v. 7.5.2021 – 11 CS 21.556 – juris Rn. 19; B. v. 9.9.2022 – 11 CS 22.1504 – juris Rn. 25; B. v. 20.9.2022 – 11 ZB 22.1446 – juris Rn. 18).

Daher überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis und der (bereits erfüllten) Verpflichtung zur Vorlage des Führerscheins das Interesse des Antragstellers an der Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage. Bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs fehlt, ist das Erlassinteresse regelmäßig mit dem Vollzugsinteresse identisch (stRspr, vgl. BayVGH, B. v. 26.2.2021 – 11 CS 20.2979 – juris Rn. 23; B. v. 16.11.2016 – 11 CS 16.1957 – juris Rn. 14). Dem Schutz der Allgemeinheit vor Verkehrsgefährdungen kommt angesichts der Gefahren durch die Teilnahme ungeeigneter Kraftfahrer am Straßenverkehr besonderes Gewicht gegenüber den Nachteilen zu, die diesem in beruflicher oder in privater Hinsicht entstehen (vgl. BVerfG, B. v. 19.7.2007 – 1 BvR 305/07 – juris Rn. 6; OVG NW, B. v. 22.5.2012 – B. v. 22.5.2012 – 16 B 536/12 – juris Rn. 33; SächsOVG, B. v. 10.12.2014 – 3 B 148/14 – juris Rn. 22).

2. Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Kosten sind nicht hiervon abweichend gemäß § 155 Abs. 4 VwGO dem Antragsgegner wegen der nicht vollständig gewährten Akteneinsicht aufzuerlegen. Zwar kann grundsätzlich auch vorprozessuales Verhalten eines Beteiligten – hier des Landratsamts – die Anwendung dieser Ausnahmevorschrift rechtfertigen (vgl. Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 155 Rn. 13; BayVGH, B. v. 8.6.2016 – 15 CE 16.1333BayVBl 2017, 565 Rn. 18). Allerdings wusste der Antragsteller oder hätte zumindest wissen müssen, dass er die Ermahnung und Verwarnung erhalten hatte. Er kann sich daher nicht darauf berufen, das Rechtsmittel wegen der Unvollständigkeit der zur Einsicht überlassenen Akte und der Unkenntnis der sich daraus ergebenden Umstände eingelegt zu haben. Im Übrigen hat er auch nach vollständig gewährter Akteneinsicht an seiner Beschwerde festgehalten.

3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5, 46.3 und 46.4 des Streitwertkatalogs der Verwaltungsgerichtsbarkeit.

4. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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