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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit, Schwere der Tat, Gesamtstrafe

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Erfurt, Beschl. v. 31.01.2024 - 7 Qs 313/23

Eigener Leitsatz:

1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist ausnahmsweise dann zulässig, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zu diesem Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über die Beiordnung aufgrund gerichtsinterner bzw. behördeninterner Vorgänge unterblieben ist.
2. Ein Fall der notwendigen Verteidigung ist u.a. dann gegeben, wenn eine Freiheitsstrafe von einem Jahr zu erwarten ist. Dabei sind auch Verurteilungen aus anderen Verfahren, wenn diese zur Bildung einer Gesamtstrafe führen, zu berücksichtigen.


Landgericht Erfurt

7 Qs 313/23

Beschluss

In dem Strafverfahren
gegen pp.

Verteidiger:

wegen Beleidigung u.a.

hier: Beiordnung einer Pflichtverteidigerin

hat die 7. Strafkammer des Landgerichts Erfurt durch Vizepräsidentin des Landgerichts, Richter und Richterin am Landgericht am 31.01.2024 beschlossen:

1. Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin pp. gegen den Beschluss des Amtsgerichts Weimar vom 02.04.2023 wird dieser aufgehoben.
2. Der Beschwerdeführerin wird rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragstellung Rechtsanwältin pp. als Pflichtverteidigerin beigeordnet.
3. Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens und die der Beschwerdeführerin entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

Mit Anklageschrift vom 24.01.2022 warf die Staatsanwaltschaft Erfurt der Beschwerdeführerin vor, am 20.08.2021 in Weimar eine versuchte gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung begangen zu haben, strafbar gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Ziffer 2, 185, 194, 22, 23, 52 StGB. Mit Schriftsatz vom 10.10.2022 beantragte die Verteidigerin, sie der Beschwerdeführerin als Pflichtverteidigerin beizuordnen. Mit Schriftsatz vom 27.10.2022 regte die Verteidigerin die Einstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO an und begründete dies damit, dass es weitere (näher bezeichnete) Verfahren gegen die Beschwerdeführerin gebe, in welchen sie im Falle einer Verurteilung mit einer empfindlichen Strafe zu rechnen habe. Mit Beschluss vom 22.11.2022 stellte das Amtsgericht Weimar auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren im Hinblick auf die zu erwartende Strafe in dem Verfahren 630 Js 13877/22 gemäß § 154 Abs. 2 StPO ein. In dem Verfahren 630 Js 13877/22 wurde die Beschwerdeführerin durch Urteil des Amtsgerichts Weimar vom 14.04.2023, rechtskräftig seit dem gleichen Tag, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die letzte Tat in diesem Verfahren fand am 04.04.2022 statt. Die Anklage wurde am 19.12.2022 erhoben. In der Zeit vom 09.06. bis 08.07.2022 befand sich die Beschwerdeführerin in Untersuchungshaft. Die dem Haftbefehl des Amtsgerichts Weimar vom 19.05.2022 zugrundeliegenden Taten wurden am . 30.10.2021, 04.01.2022, 27.03.2022, 23.03.2022 und 04.04.2022 begangen.

Mit Beschluss vom 02.04.2023 lehnte das Amtsgericht Weimar den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers ab, da die Anklage in dem Verfahren 630 Js 13877/22 erst nach der Verfahrensbeendigung im hiesigen Verfahren erfolgte. Diese Entscheidung wurde weder der Beschwerdeführerin noch der Verteidigerin förmlich zugestellt. Mit Schriftsatz vom 25.04.2023 legte die Verteidigerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts Weimar Beschwerde ein. Die Beschwerdeakte wurde der Beschwerdekammer durch die Staatsanwaltschaft Erfurt am 15.11.2023 mit dem Antrag, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen, übersandt. Wegen der Begründung wird auf die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom 15.02.2023 Bezug genommen.

II.

Das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde ist statthaft, § 142 Abs. 7 StPO. Es ist auch im Übrigen zulässig eingelegt worden. Insbesondere musste die Beschwerdeführerin die Frist des § 311 Abs. 2 StPO nicht beachten, da das Amtsgericht die angefochtene Entscheidung nicht förmlich zugestellt hatte.

Das Rechtsmittel ist in der Sache begründet.

Zwar ist die nachträgliche Bestellung eines Verteidigers nach Verfahrensabschluss grundsätzlich unzulässig. Die Beiordnung erfolgt im Strafprozess nicht im Kosteninteresse, sondern dient allein dem Zweck, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten (vgl.: BGH, Beschluss vom 20.07.2009, Az.: 1 StR 344/08, juris, Rn. 4). Dieser Grundsatz gilt auch nach der Neuordnung des Rechts der notwendigen Verteidigung unverändert fort (vgl.: Willnow in Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl. 2023, Rn. 16 zu § 142 StPO).

Die Kammer hat jedoch bereits in Übereinstimmung mit der heute herrschenden Auffassung entschieden, dass ausnahmsweise von dem vorgenannten Grundsatz dann abzuweichen ist, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zu diesem Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über die Beiordnung aufgrund gerichtsinterner bzw. behördeninterner Vorgänge unterblieben ist. In einem solchen Fall dient die Beiordnung nicht dazu, dem Verteidiger nachträglich einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu „verschaffen", vielmehr soll verhindert werden, dass sich interne Umstände, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hat, zu Lasten eines Be- oder Ange-schuldigten auswirken (vgl.: LG Erfurt, Beschlüsse vom 16.06.2021, Az.: 7 Qs 120/21, BeckRs 2021, 16792, vom 07.09.2022, Az.: 7 Qs 250/22, vom 04.05.2023, Az. 7 Qs 128/23 - m.w.N.; so u.a. auch: OLG Stuttgart, Beschluss vom 15.12.2022, Az.: 4 Ws 259/22, juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020, Az. Ws 962/20 - , juris; LG Hamburg, Beschluss vom 05.04.2022, Az.: 612 Qs 6/22, juris; LG Mainz, Beschluss vom 11.10.2022, Az.: 1 Qs 39/22, juris).

So liegt der Sachverhalt hier. Der Beiordnungsantrag wurde mit Schriftsatz vom 10.10.2022 und damit rechtzeitig vor Verfahrensabschluss gestellt. Die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung gem. § 140 Abs. 2 StPO lagen auch vor. Nach h.M. ist i.d.R. dann gem. § 140 Abs. 2 StPO ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben, wenn eine Freiheitsstrafe von einem Jahr zu erwarten ist (vgl.: LG Erfurt, Beschluss vom 07.03.2023, Az.: 7 Qs 58/23 - m.w.N.). Dabei sind auch Verurteilungen aus anderen Verfahren, wenn diese zur Bildung einer Gesamtstrafe führen, zu berücksichtigen.

Eine solche Straferwartung war hier unter Berücksichtigung des Verfahren 630 Js 13877/22 gegeben. Dass die Anklage in dem Verfahren 630 Js 13877/22 erst nach Verfahrensbeendigung im hiesigen Verfahren erfolgte, ändert daran nichts. Auf eine Anklageerhebung kommt es nicht an, sondern darauf, dass eine tragfähige Basis für das Treffen einer Prognose vorliegt (vgl. LG Erfurt, Beschluss vom 20.02.2023, Az. 7 Qs 32/23 m.w.N.). Eine solche war schon aufgrund des im Haftbefehl des Amtsgerichts Weimar vom 19.05.2022 dargelegten dringenden Tatverdachts für durch die Beschwerdeführerin begangene Verbrechen anzunehmen.

Schließlich wurde die Pflichtverteidigerbestellung auch justizintern verzögert. Gem. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO ist der angeklagten Person, wenn - wie hier - ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, unverzüglich ein Verteidiger zu bestellen. Dagegen wurde vorliegend verstoßen, weil über den am 10.10.2022 gestellten Antrag bis zum Verfahrensabschluss am 22.11.2022 versehentlich nicht entschieden wurde.

Entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft befriedigt die rückwirkende Beiordnung auch nicht nur das Kosteninteresse der Verteidigerin. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Fall der notwendigen Verteidigung soll eine effektive Unterstützung und Absicherung der angeklagten Person bewirken. Dieser Zweck wird unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt wird, weil über den Antrag nicht vor Verfahrensabschluss entschieden wurde (vgl.: OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020, Az. Ws 962/20 - , juris, so auch LG Erfurt, Beschluss vom 04.05.2023, Az. 7 Qs 128/23).

Nach alldem ist der Beschluss des Amtsgerichts Weimar aufzuheben und die Verteidigerin rück-wirkend als Pflichtverteidigerin zu bestellen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 Abs. 1 StPO entsprechend.


Einsender: RAin A. Klein, Erfurt

Anmerkung:


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