Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Stuttgart, Beschl. v. 01.02.2024 - 5-2 StE 7/20
Eigener Leitsatz:
1. Zur Bewilligung einer Pauschgebühr in einem Umfangsverfahren mit rund 300 Stehordnern Akten.
2. Bei der Bewilligung einer Pauschgebühr (in einem Staatsschutzverfahren) ist die Pauschgebühr i.d.R. unter Außerachtlassung der Terminsgebühren über eine Erhöhung der Grund- und Verfahrensgebühren zu bemessen.
3. Die durch COVID-19 bzw. den Erreger SARS-CoV-2 bestehenden Einschränkungen sind bei der Bemessung einer Pauschgebühr ggf. zu berücksichtigen.
5 - 2 StE 7/20
Oberlandesgericht Stuttgart
- 5. Strafsenat -
Beschluss
In der Strafsache
gegen pp.
Verteidiger:
Rechtsanwalt
wegen des Verdachts der Gründung einer sowie der Rädelsführerschaft, der Mitgliedschaft in und der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung u.a.
hat das Oberlandesgericht Stuttgart — 5. Strafsenat — durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht am 1. Februar 2024 beschlossen:
Dem gerichtlich bestellten Verteidiger, Rechtsanwalt PP., wird auf seinen Antrag und nach Anhörung der Vertreterin der Staatskasse für die Vertretung des Angeklagten pp. im Ermittlungsverfahren und im Verfahren erster Instanz vor dem Senat des Oberlandesgerichts Stuttgart ein Vorschuss auf eine Pauschvergütung in Höhe von 226.703 Euro (in Worten: zweihundertsechsundzwanziptausendsiebenhundertunddrei Euro)
bewilligt.
Die Ansprüche des Verteidigers auf Erstattung von Auslagen und Umsatzsteuer bleiben unberührt. Festgesetzte oder schon ausbezahlte Gebühren sind anzurechnen.
Gründe:
Der Antragsteller, gerichtlich bestellter Verteidiger des Angeklagten pp., begehrt mit Antrag vom 14. September 2022 die Bewilligung eines Vorschusses auf die Pauschgebühr gemäß § 51 Abs. 1 Satz 5 RVG. Die Bezirksrevisorin beim Oberlandesgericht Stuttgart hat am 30. März 2023 Stellung genommen. Das gegen den Angeklagten pp. gerichtete Verfahren dauert nach Revisionseinlegung des Angeklagten pp. gegen das Urteil des Senats vom 30. November 2023 an.
Der Antragsteller beantragt, „einen angemessenen Vorschuss auf eine Pauschvergütung gern. § 51 Abs. 1 Satz 5 RVG zu gewähren", dessen Höhe er „in das Ermessen des Senats" stellt.
1. Der Antragsteller referiert zunächst den Senatsbeschluss vom 9. August 2022 und führt sodann aus. „Der hiesige Antragsteller sieht zwecks Vermeidung von Wiederholungen davon ab, zum Vorstehenden detaillierte Ausführungen zu machen: alle Einzelheiten sind dem Parallelbeschluss zu entnehmen." Es liege, so der Antragsteller weiter, auf der Hand, dass alle Voraussetzungen, die den Senat im Parallelverfahren veranlasst hätten, einen Vorschuss auf die Pauschgebühr zu gewähren, auch bei ihm vorliegen würden. Auch sein Mandant befinde sich seit Verfahrensbeginn in Untersuchungshaft (was zum Zeitpunkt des Antrages zutraf), auch er sei Einzelanwalt, auch für ihn lohne sich eine Rückfahrt zwischen den Hauptverhandlungsterminen nicht und auch bei ihm würden die Dinge so liegen, dass der ganz überwiegende Teil seiner Zeit und Arbeitskraft durch das vorliegende Verfahren in Anspruch genommen würden, das folglich seine Haupteinnahmequelle darstelle.
2. Die Bezirksrevisorin beim Oberlandesgericht Stuttgart bejaht in ihrer Stellungnahme die Gewährung einer Pauschgebühr dem Grunde nach. Sie benennt als bis zum 28. März 2023 gesetzlich entstandene Gebühren:
Grundgebühr RVG VV Nr. 4101 192,00 €
Verfahrensgebühr im vorbereitenden Verfahren RVG VV Nr. 4105 161,00 €
Terminsgebühr RVG VV Nr. 4103 166,00 €
Verfahrensgebühr RVG VV Nr. 4119 385,00 €
Terminsgebühren RVG VV Nr. 4121/4122/4123 91.642,00 €
Terminsgebühren RVG VV Nr. 4122 nach Teil 4 Vorbemerkung 4 Abs. 3 S. 2 für kurzfristig
ausgefallene Termine 3.102.00 €
95.648.00 €
Die Bezirksrevisorin orientiert sich in ihrer Stellungnahme am Beschluss des Senats vom 9. August 2022. Die dort vorgenommene Bemessung der Pauschgebühr legt sie ihrer Stellungnahme zugrunde.
3. Der Antragsteller tritt der Stellungnahme der Bezirksrevisorin mit Schriftsatz vom 8. April 2023 bei. Nach Abschluss des Hauptverfahrens vor dem Senat hat der Antragsteller mit Schriftsatz vom 8. Januar 2024 ergänzend vorgetragen: Abermals geht er davon aus, dass seinem Antrag „weitestgehend" die Darlegungen des Senats im Beschluss vom 9. August 2022 zugrunde gelegt werden können. Es sei offensichtlich, dass sich die „anwaltliche Mühewaltung" im vorliegenden Verfahren von sonstigen Sachen in exorbitanter Weise abgehoben habe. Nach wie vor gehe er davon aus, dass der Senat auch im vorliegenden Fall der „überzeugend dargelegten" Berechnungsmethode aus dem Beschluss vom 9. August 2022 folgen werde, sodass von weiteren Ausführungen abgesehen werden könne.
B.
Ein Vorschuss in Höhe von 226.703 € erscheint sachgerecht.
I.
Ein Antrag auf Gewährung einer Pauschgebühr gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG für das gesamte Verfahren (und nicht allein für die bis zum jetzigen Zeitpunkt abgeschlossenen Verfahrensabschnitte) wäre (noch) unzulässig (zum Streitstand: Gerold/ Schmidt/Burhoff, RVG, 26. Aufl. 2023, § 51 Rdnr. 48), da das Verfahren nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, so dass der Antragsteller zutreffend auch einen Vorschuss geltend machen kann (vgl. Senat, Beschluss vom 9. März 2020 - 5 - 3 StE 6/19; Beschluss vom 9. August 2022 — 5 - 2 StE 7/20). Ein solcher ist, wie im vorliegenden Verfahren, immer dann möglich, wenn dem/r Rechtsanwalt/Rechtsanwältin „insbesondere wegen der langen Dauer des Verfahrens und der Höhe der zu erwartenden Pauschgebühr nicht zugemutet werden kann, die Festsetzung der Pauschgebühr abzuwarten" (OLG München, Beschluss vom 1. Juni 2017 — 1 AR 209/17 u.a. — juris).
II.
Die (inzwischen) bis zum 30. November 2023 jedenfalls entstandenen gesetzlichen Gebühren betragen nach Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG in der zu beachtenden Fassung — der Antragsteller hat sich mit Schriftsatz vom 16. April 2020 gegenüber dem Bundesgerichtshof legitimiert und wurde mit Verfügung des Vorsitzenden vom 4. Februar 2021 bestellt - 122.911,00 €. Diese sind dem Antragsteller in Anbetracht der von ihm entfalteten Tätigkeit nicht zumutbar. Vielmehr erscheint eine Erhöhung auf (derzeit) 226.703 € im Wege des Vorschusses sachgerecht und angemessen.
1. Nach derzeitigem Stand nach 173 Hauptverhandlungstagen bis zum 30. November 2023 sind folgende Gebühren von Gesetzes wegen entstanden:
Grundgebühr RVG VV Nr. 4101 192,00
Verfahrensgebühr im vorbereitenden Verfahren RVG W 4105 161,00
Terminsgebühr RVG VV Nr. 4103 166,00
Verfahrensgebühr RVG VV Nr. 4119 385,00
Terminsgebühr RVG VV 4121 x 41 21.197,00
Terminsgebühr RVG VV 4122 x 87 63.423,00
Terminsgebühr RVG VV 4123 x 26 24.466,00
Terminsgebühr RVG VV 4120 x 11 4.664,00
Terminsgebühr RVG VV 4122 x 3 1.908,00
Terminsgebühr RVG VV 4123 x 2 1.696,00
RVG Teil 4 Vorbemerkung 4 Abs. 3 Satz 2 x 9 4.653.00
Summe 122.911,00
2. Gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG ist Voraussetzung der Bewilligung einer Pauschgebühr, die über die gesetzlichen Gebühren hinausgeht, dass diese wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache nicht zumutbar sind. Die Bewilligung einer Pauschgebühr stellt dabei die Ausnahme dar: die anwaltliche Mühewaltung muss sich von sonstigen, auch überdurchschnittlichen Sachen, in exorbitanter Weise abheben (BGH, Beschluss vom 1. Juni 2015 - 4 StR 267/11; Senat, Beschluss vom 9. August 2022 — 5 - 2 StE 7/20). Dem Rechtsanwalt muss wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit seiner Tätigkeit durch die gesetzlichen Gebühren eine unzumutbare Benachteiligung entstehen (Senat, Beschluss vom 1. Juni 2016 - 5 Ars 17/16; Senat, Beschluss vom 24. März 2022 - 5 - 2 StE 7/20; Senat, Beschluss vom 9. August 2022 - 5 - 2 StE 7/20).
Es bedarf keiner näheren Ausführungen, dass vorliegend ein solcher Fall gegeben ist und die gesetzlichen Gebühren von 122.911,00 € nicht hinreichend sind: 253 Band Stehordner Ermittlungsakten und sieben Nachlieferungen mit 27 Band Akten, 38 Band Gerichtsakten sowie Beiakten. Zwischen dem 13. April 2021 und dem 30. November 2023 wurde an 173 Tagen verhandelt. Bereits dieser Umfang ist absolut außergewöhnlich und trägt die Festsetzung einer Pauschgebühr.
3. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats unter Außerachtlassung der Terminsgebühren einen Ausgleich über eine Erhöhung der Grund- und Verfahrensgebühren herbeizuführen (Senat, Beschluss vom 9. August 2022 - 5 - 2 StE 7/20).
a) Ausgangspunkt dieser Annahme ist die gesetzgeberische Grundentscheidung, allein bei den Terminsgebühren eine Abstufung vorzunehmen, die sich bei sog. Umfangsverfahren auswirken kann.
aa) Bei der Grundgebühr und der Verfahrensgebühr im vorbereitenden Verfahren ist keine, bei der Verfahrensgebühr im gerichtlichen Verfahren ist lediglich eine Differenzierung nach den Gerichten vorgenommen, bei denen der Verteidiger seine Tätigkeit entfaltet. Bezogen auf die Grundgebühr bedeutet dies, dass diese bei - davon soll im Folgenden ausgegangen werden - inhaftierten Mandanten immer (bezogen auf die im Zeitpunkt der Mandatierung geltende Fassung des RVG) 192 € beträgt, bezogen auf die Verfahrensgebühr im vorbereitenden Verfahren, dass diese immer 161 € beträgt und bezogen auf die Verfahrensgebühr im gerichtlichen Verfahren, dass diese 161 €, 180 € oder 385 € betragen kann.
bb) Anders verhält es sich bei der Terminsgebühr, was im Wesentlichen zunächst daran liegt, dass sie „je Hauptverhandlungstag" anfällt. Allerdings ist hier bereits die Bandbreite im Ausgangspunkt größer. Das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz differenziert zunächst, wie bereits dargestellt, nach den Gerichten, bei denen der/die Verteidigerin seine/ihre Tätigkeit entfaltet, dann aber in drei Stufen (Dauer bis fünf Stunden, Dauer fünf bis acht Stunden und Dauer mehr als acht Stunden) nach der jeweiligen Hauptverhandlungsdauer (jeweils mit Zuschlag):
- beim Amtsgericht: 268 €/ 378 €/ 488 €
- bei der Strafkammer 312 €/ 440 €/ 568€
- beim Oberlandesgericht und bei bestimmten Strafkammern: 517 €/ 729 €/ 941 €.
Hinzu kommt nun aber als wesentliches Kriterium schlicht die Anzahl der Hauptverhandlungstage, so dass in Umfangsverfahren — und genau um solche geht es hier - per se ein weit ausdifferenzierteres System zur Verfügung steht und Wirkung entfaltet als dies bei Grund- und Verfahrensgebühren der Fall ist und sein kann.
b) Der Senat lässt im Regelfall daher die Terminsgebühren unangetastet, nimmt aber bei Grund- und Verfahrensgebühren Modifikationen vor und überschreitet dabei, sofern geboten, auch die Schwelle des § 41 Abs. 1 Satz 4 RVG.
4.Ein Umfangsverfahren von herausragender Qualität liegt vor.
a) § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG stellt zunächst auf den besonderen Umfang und / oder die besondere Schwierigkeit des Verfahrens oder einzelner Verfahrensabschnitte ab.
Dabei sind zunächst die in concreto zu vergleichenden Verfahren in den Blick zu nehmen: das sind in Ermangelung weiterer Kriterien exakt die in RVG VV Nr. 4118 genannten, also solche, die im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Schwurgericht oder der Strafkammer nach den §§ 74a und 74c GVG zu verhandeln sind. Bereits diese Aufzählung belegt, dass das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz insoweit in aller Regel von rechtlich eher schwierigen, für die jeweils betroffenen Menschen bedeutsamen
und mit erheblichen Rechtsfolgen einhergehenden Verfahren ausgeht.
b) Der Senat (Beschluss vom 9. August 2022 — 5 - 2 StE 7/20) stellt entscheidend auf den Umfang der Sache mit der Messzahl Aktenbestand als zuverlässigstes, weil letztlich einzig wirklich objektivierbares Kriterium ab, während andere, wie Dauer und Schwierigkeit der Hauptverhandlungstermine, die Zahl der Angeklagten, der Abstimmungsbedarf unter den Verteidigern, der Besprechungsaufwand in und außerhalb der Hauptverhandlung sowie erhöhte rechtliche Schwierigkeiten in der Bearbeitung von Staatsschutzsachen nur schwer zu fassende Kriterien bleiben, die zudem immer wertender Betrachtung unterliegen, mithin fehlerbehaftet bleiben.
Zusammenfassend gilt, dass bereits aufgrund des Aktenumfanges von derzeit knapp 320 Stehordnern sowie elektronischer Daten ein Umfangsverfahren von herausragender Qualität vorliegt. In tatsächlicher Hinsicht ist ein überschaubarer Zeitpunkt zwischen Sommer / Herbst 2019 und Februar 2020 mit einer allerdings beträchtlichen Anzahl handelnder Personen in den Blick zu nehmen. Rechtliche Schwierigkeiten sind vorhanden, sie bewegen sich allerdings im eher „klassischen" Feld eines Staatsschutzverfahrens mit Bezügen zum Allgemeinen Teilen des Strafgesetzbuchs.
Der Vergleich mit dem Senat mit ca. vier Richter-Arbeitskraftanteilen in diesem Verfahren mag Anhaltspunkt sein, doch hatte der Senat zwölf Angeklagte n ihrer Person und ihrem Verfahrensbezug in den Blick zu nehmen, hatte und hat (zunächst) elf bestehende Haftbefehle zu jeder Zeit zu beachten und zu bewerten und schließlich das Verfahren, den Verfahrensgang und insbesondere das Beweisprogramm unter Beachtung der Anträge, Widersprüche und Stellungnahmen des Generalbundesanwalts sowie von 24 Verteidiger*innen in jeder Hinsicht zu gestalten. Dem standen pro Angeklagten zwei Verteidiger*innen gegenüber, die sich nicht gegenseitig vertreten, sondern als gleichwertige und sich ergänzende Verteidiger*innen gemeinsam dieses Verfahren zu bewältigen hatten — ein in jeder Hinsicht zu treffendes Verhältnis, das durchaus — insoweit durchaus dem Senat vergleichbar — arbeitsteiliges Vorgehen nicht nur ermöglicht, sondern notwendig gemacht hat und einem solchen gerade auch Rechnung tragen sollte. Die ab September 2021 durch die Terminierung entstandene Terminierungslücke an jedem Mittwoch war dem Vor- und Nachbereitungsaufwand des Senats geschuldet. Freilich hatten auch die im Verfahren weiter tätigen Verfahrensbeteiligten — also Vertreter des Generalbundesanwalts und Verteidiger*innen — einen solchen, der jedoch angesichts der bereits dargestellten Unterschiede signifikant anders war. Tagen mit einem intensiven Bezug zum eigenen Mandanten und daher intensiver Vorbereitung standen völlig andere gegenüber. Hinzukam entscheidend, dass von jedem Ort aus mittels elektronischer Medien gearbeitet werden kann und gerade deutschlandweit agierende Verteidiger*innen — bei zugegeben hohem Reiseaufwand und hoher persönlicher Belastung — an ganz verschiedenen Orten tagesaktuell ihrer Verpflichtung nachkommen können, so sie dies auch wollen.
5. Die durch COVID-19 bzw. den Erreger SARS-CoV-2 bestehenden Einschränkungen machen weitere Modifikationen notwendig.
Das Verfahren und insbesondere die inzwischen abgeschlossene Hauptverhandlung waren maßgeblich durch COVID-19 beeinflusst. Die terminierten Sitzungstage vom 20. und 21. April 2021, vom 4., 5. und 19. Mai 2021, vom 12. Oktober 2021, vom 21. Dezember 2021, vom 18. Januar 2022, vom 8., 10., 15., 17., 22. und 24 März 2022, vom 26. und 28. April 2022, vom 3., 5., 10. und 12. Mai 2022, vom 11., 12., 14., 18., 20., 25., 27. und 28. Oktober 2022 sowie vom 28. Februar- 2023 konnten ausschließlich wegen der Pandemie nicht stattfinden. Neben diesen 29 durch COVID-19 bedingten Aufhebungen wurden im Zeitraum bis zum Auslaufen der Pandemiemaßnahme in Baden-Württemberg insgesamt neun weitere Hauptverhandlungstage aufgehoben.
Damit stehen im Zeitraum durch die Pandemie bedingter Maßnahmen (vgl. Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2) 122 stattgefundenen Hauptverhandlungstagen neun Aufhebungen gegenüber, wie sie in jedem Verfahren möglich sind, aber 29, die ausschließlich auf COVID-19 zurückzuführen sind. Zwölf der 29 ausgefallenen Sitzungstage liegen zwischen dem 8. März 2022 und dem 12. Mai 2022 sowie acht weitere zwischen dem 11. und dem 28. Oktober 2022, mithin gab es in diesem Verfahren zwei Zeitsegmente, in denen COVID-19 bedingt kaum Hauptverhandlungen stattfinden konnten. Der Senat sieht hier das Bedürfnis, über die Gewährung weiterer Verfahrensgebühren (im Detail: s.u.) einen Ausgleich zu schaffen. Ein „Sonderopfer", gerade in diesem bzw. in einem vergleichbaren Verfahren bestellt zu sein, ist ohne Ausgleich nicht abzuverlangen.
Dabei sind die Unterschiede zu Verteidigern*innen, die während der pandemischen Lage in mehreren (und damit weniger umfangreichen) Verfahren bestellt waren, evident. Es gab infolge geringerer Dauer der jeweiligen Verfahren und einer geringeren Anzahl von Beteiligten weniger Ausfälle und diese konnten in gewissem Umfang durch andere Verfahren kompensiert werden. Ganz entscheidend ist für den Senat jedoch, dass vorliegend in enger Absprache mit dem Gesundheitsamt der Landeshauptstadt Stuttgart ein äußerst klar definiertes und umgesetztes „Coronaregime" installiert und durchgehalten wurde. Es wäre widersprüchlich würden Verteidigern*innen, die in einem solchen Verfahren tätig waren, das dadurch zwangsläufig entstehende höhere Risiko von Sitzungsausfällen überbürde werden.
6. Aus all dem folgt:
a) Grund- und Verfahrensgebühren sind angesichts des Umfangs, der Dauer und er Schwierigkeit — bezogen auf das durchschnittliche Verfahren im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht.- zu erhöhen und zwar Grundgebühr pauschal um das 30-fache, die Vorverfahrensgebühr pauschal um das 30-fache und die Verfahrensgebühr (quantifizierbar) jeweils pro drei Band Akten, damit derzeit um das 106-fache.
b) Die Terminsgebühren werden entsprechend den Vorgaben des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes berechnet. Allerdings gebieten auch insoweit Umfang, Dauer und durchaus auch Schwierigkeit - bezogen auf das durchschnittliche Verfahren im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht -eine Erhöhung pro Woche, in der Hauptverhandlungen stattgefunden haben. Unbeschadet der Anzahl der in der Woche stattgefundenen Hauptverhandlungstage wird eine weitere Verfahrensgebühr immer dann fällig, wenn und soweit die/der Antragstellerin der in Frage stehenden Woche an sämtlichen Hauptverhandlungstagen anwesend war, um so einen Ausgleich für die Mühewaltung zu schaffen.
c) Schließlich findet ein angemessener Ausgleich für die Risiken der COVID-19 Infektion statt: abermals werden pro infolge COVID-19 ausgefallenem Sitzungstag zwei Verfahrensgebühren fällig. Dies gilt immer dann nicht, wenn ein/e Verteidigerin entweder für diesen Tag in Ansehung von RVG Teil 4 Vorbemerkung 4 Abs. 3 Satz 2 eine Gebühr erhält oder entweder aufgrund einer Vorabinformation durch den Senat oder aus anderen Gründen nicht erschienen ist, da ansonsten die Gebühren der/des erschienenen Verteidigers/in von denen der — aus welchen Gründen auch immer — nicht erschienen nachteilig abweichen würden.
7. Rechnerisch bedeutet dies für den Antragsteller (bei einer Berechnung bis einschließlich 173. Hauptverhandlungstag vom 30. November 2023):
Grundgebühr RVG VV Nr. 4101 5.760,00
Verfahrensgebühr im vorbereitenden Verfahren RVG VV Nr. 4105 4.830,00
Terminsgebühr RVG VV Nr. 4103 166,00
Verfahrensgebühr RVG VV Nr. 4119 40.810,00
eine Verfahrensgebühr pro Sitzungswoche (vgl. B. II. 6. lit. b.) 35.420,00
Terminsgebühr RVG W 4121 x 41 21.197,00
Terminsgebühr RVG W4122 x 87 63.423,00
Terminsgebühr RVG W 4123 x 26 24.466,00
Terminsgebühr RVG W 4120 x 11 4.664,00
Terminsgebühr RVG W 4122 x 3 1.908,00
Terminsgebühr RVG W 4123 x 2 1.696,00
RVG Teil 4 Vorbemerkung 4 Abs. 3 Satz 2 x 9 4.653,00
COVID-19-Ausfallgebühren RVG VV Nr. 4119 17.710.00
Summe € 226.703,00
8. Wird die so errechnete, dem Senat angemessen erscheinende Pauschgebühr, die als Vorschuss geltend gemacht wird, auf die Anzahl der Monate heruntergebrochen, die der Antragsteller bislang in diesem Verfahren tätig ist, wird deutlich, dass jedenfalls ein hinreichender Ausgleich ermöglicht wird. Damit trägt der Senat dem „Grundrecht des Pflichtverteidigers auf freie Berufsausübung" (BVerfG, Beschluss vom 20. März 2007 — 2 BvR 51/07 — juris) Rechnung, denn es wird sichergestellt, dass dem Antragsteller die Verteidigung in diesem Verfahren kein unzumutbares Opfer abverlangt.
Allerdings ist die „Bestellung zum Pflichtverteidiger [...] eben auch und gerade eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu öffentlichen Zwecken" (BVerfG a.a.O.). Sinn der sog. Pflichtverteidigung, so das Bundesverfassungsgericht, ist es nicht, dem Anwalt „zu seinem eigenen Nutzen und Vorteil eine zusätzliche Gelegenheit beruflicher Betätigung zu verschaffen" (BVerfG a.a.O.). Vielmehr besteht ihr Zweck ausschließlich darin, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass Beschuldigte in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhalten und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird. Der Umstand, dass der so entstehende Vergütungsanspruch unter den als angemessen geltenden Rahmengebühren des Wahlverteidigers liegt, ist, worauf das OLG München (Beschluss vom 25. November 2021 — 7 St (K) 4/21 — juris) hinweist, durch einen vom Gesetzgeber im Sinne des Gemeinwohls vorgenommenen Interessenausgleich, der auch das Interesse an einer Einschränkung des Kostenrisikos berücksichtigt, gerechtfertigt, sofern die Grenze der Zumutbarkeit für den Pflichtverteidiger gewahrt ist. Sicherzustellen bleibt aber immer (OLG München a.a.O.), dass die Verteidigung dem/der Verteidiger*in kein unzumutbares Opfer abverlangt. Genau dieses ist ratio legis von § 51 RVG.
Einsender: RA Dr. G. Herzogenrath-Amelung, Alteglofsheim
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