Diese Homepage verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf die Website zu analysieren. Außerdem gebe ich Informationen zu Ihrer Nutzung meiner Website an meine Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter.

OK Details ansehen Datenschutzerklärung

Entscheidungen

Haftfragen

Untersuchungshaft, Invollzugsetzung, Begründung der Entscheidung, Besetzung des Gerichts

Gericht / Entscheidungsdatum: VerfGH Berlin, Beschl. v. 18.10.2023 – 77/23

Leitsatz:

Zu den Anforderungen an die Begründung der Entscheidung, mit der ein Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt wird.


VerfGH Berlin, Beschl. v. 18.10.2023 – 77/23

In pp.

Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen einen Beschluss des Kammergerichts vom 24. Juli 2023, mit dem ein vom Amtsgericht Tiergarten am 11. August 2022 gegen ihn erlassener Haftbefehl nach zwischenzeitlicher Aufhebung durch das Landgericht Berlin wieder in Vollzug gesetzt wurde. Er befindet sich seit dem 28. Juli 2023 in Untersuchungshaft.

Die Staatsanwaltschaft Berlin legt dem Beschwerdeführer zur Last, zwischen dem 1. März 2020 und dem 11. Juni 2020 in neun Fällen unerlaubt mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemeinschaftlich Handel getrieben zu haben, davon in sieben Fällen als Mitglied einer Bande. Sie stützt sich dabei im Wesentlichen auf Erkenntnisse, die aus sog. EncroChat-Daten gewonnen wurden.

Die aufgrund der Vorwürfe am 26. Mai 2023 beim Landgericht Berlin erhobene Anklage der Staatsanwaltschaft Berlin ließ das Landgericht Berlin am 29. Juni 2023 unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zu. Zugleich beschloss es, das Verfahren analog § 262 Abs. 2 StPO auszusetzen, da die Entscheidung des Rechtsstreits von europarechtlichen Fragen zur Verwertbarkeit von EncroChat-Daten als Beweismittel abhänge; diese wolle das Gericht zunächst – wie bereits in dem Parallelverfahren C-670/22 – dem Europäischen Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV zur Entscheidung vorlegen. Des Weiteren hob das Landgericht Berlin einen schon am 22. August 2022 gegen den Beschwerdeführer erlassenen, und zuvor bereits mehrfach vom Landgericht Berlin außer und vom Kammergericht wieder in Vollzug gesetzten Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergartens auf. Die erneute Aufhebung begründete es damit, dass die von § 112 Abs. 1 StPO vorausgesetzte hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit angesichts der in dem Parallelverfahren noch ausstehenden Antwort des Europäischen Gerichtshofs nicht gegeben sei; überdies sei die Anordnung einer Untersuchungshaft unverhältnismäßig, da eine Hauptverhandlung in der Sache – schon vor dem Hintergrund, dass derzeit noch offen sei, wann der Europäische Gerichtshof entscheiden werde – voraussichtlich nicht vor 2024 durchgeführt werden könne. Auf eine hiergegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft Berlin, der sich die Generalstaatsanwaltschaft Berlin mit einem entsprechenden Antrag anschloss, setzte das Kammergericht den Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten mit Beschluss vom 24. Juli 2023 unter teilweiser Aufhebung des landgerichtlichen Beschlusses wieder in Vollzug. Zur Begründung führte es unter Bezugnahme auf seine vorangegangenen Beschlüsse vom 28. April 2023 und 16. Juni 2023 im Wesentlichen aus, dass auch unter Berücksichtigung des kooperativen Verhaltens des Beschwerdeführers weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe, der nach wie vor nicht durch mildere Maßnahmen als den Vollzug der Untersuchungshaft ausgeräumt werden könne.

Der Beschwerdeführer hat am 28. Juli 2023 Verfassungsbeschwerde erhoben. Er ist der Auffassung, dass der Beschluss des Kammergerichts vom 24. Juli 2023 ihn in seinem Freiheitsgrundrecht nach Art. 8 Abs. 1 S. 2 der Verfassung von Berlin - VvB - sowie seinem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 15 Abs. 5 VvB verletzt. Das Gericht habe bei der Entscheidung Inhalt und Reichweite des Freiheitsgrundrechts grundlegend verkannt, insbesondere fehle es an aktuellen Ausführungen zum weiteren Vorliegen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft. Überdies sei der 1. Strafsenat des Kammergerichts bei der Entscheidung aufgrund seines lediglich kommissarischen Vorsitzes nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen.

Die Beteiligten haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer weder in seinem Freiheitsgrundrecht nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB (1.) noch in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 15 Abs. 5 VvB (2.).

1. Der Beschluss des Kammergerichts vom 24. Juli 2023 verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinem Freiheitsgrundrecht nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB. Anders als er meint, leidet die von ihm angegriffene fachgerichtliche Entscheidung an keinem verfassungsrechtlich zu beanstandenden Begründungs- oder Abwägungsdefizit.

Zwar ist dem Beschwerdeführer darin Recht zu geben, dass das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde auf Grund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB) so ausgestaltet sein muss, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht. Dem ist durch eine verfahrensrechtliche Kompensation des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs, namentlich durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen Rechnung zu tragen. Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen. Folglich sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten. In diesem Zusammenhang hat sich das die Haftfortdauer anordnende Gericht auch zur voraussichtlichen Gesamtdauer des Verfahrens, zu der für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehenden Straferwartung und - unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57 StGB - zum hypothetischen Ende einer möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe zu verhalten. Diese Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (Beschlüsse vom 26. Juli 2017 - VerfGH 90 A/17 -, juris, Rn. 23 und vom 22. November 2005 - VerfGH 146/05 -, juris, Rn. 31 ff.; wie alle hier zitierten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes abrufbar unter gesetze.berlin.de; vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Beschlüsse vom 4. April 2006 - 2 BvR 523/06 -, juris Rn. 18, vom 11. Juni 2008 - 2 BvR 806/08 -, juris Rn. 33 und vom 17. Januar 2013 - 2 BvR 2098/12, juris Rn. 42 ff.).

Diesen Anforderungen wird der Beschluss des Kammergerichts zur (erneuten) Invollzugsetzung des Haftbefehls vom 11. August 2022 wegen Vorliegens von Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 der StPO jedoch gerecht.

So stellt das Kammergericht zur Begründung seiner Entscheidung unter Bezugnahme auf seine vorangegangenen Beschlüsse vom 28. April und 16. Juni 2023 eine ausführliche Gesamtabwägung an. Dabei berücksichtigt es u. a. auch das kooperative Verhalten des Beschwerdeführers, etwa dass dieser sich nach der Entlassung aus der Haft in Neuruppin am 20. Januar 2023 weder ins Ausland abgesetzt hat noch im Inland untergetaucht ist, sich am 4. Mai 2023 freiwillig dem Ermittlungsrichter gestellt hat und den neuerlichen Haftverschonungsauflagen bislang nachgekommen ist. Zugleich hält es in nachvollziehbarer Weise an seinen bereits in den vorangegangenen Entscheidungen vom 28. April und 16. Juni 2023 angestellten und aus Sicht des Kammergerichts auch weiterhin zutreffenden Erwägungen fest.

Soweit der Beschwerdeführer meint, das Ergebnis der Abwägungen des Kammergerichts hätte anders ausfallen müssen, führt dies noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung. Vielmehr sind die Ausführungen des Kammergerichts hinreichend ausführlich, in sich schlüssig und vertretbar und daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

2. Die Entscheidung des 1. Strafsenats des Kammergerichts verletzt den Beschwerdeführer auch nicht in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 15 Abs. 5 S. 2 VvB). Die Besetzung des tätig gewordenen Spruchkörpers ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Zwar kann das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt sein, wenn die Wiederbesetzung einer freigewordenen Vorsitzendenstelle nicht in angemessener Zeit vorgenommen wird (vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Dreierausschussbeschluss vom 3. März 1983 - 2 BvR 265/83 -, juris). Der 1. Strafsenat des Kammergerichts wird auch bereits seit dem 1. Januar 2023, zum Entscheidungszeitpunkt mithin schon seit knapp sieben Monaten, kommissarisch geführt. Bei der Beurteilung der Angemessenheit des Zeitraums ist jedoch zu berücksichtigen, ob die Wiederbesetzung ungerechtfertigt verzögert wird oder ob die Umstände des Einzelfalls – wie z. B. vorliegend eine Konkurrentenklage – der zügigen Auswahl und Ernennung eines geeigneten Nachfolgers entgegenstehen. Letzteres ist hier der Fall.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.

Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof abgeschlossen.

Die Entscheidung ist mit 4:2 Stimmen ergangen.


Einsender:

Anmerkung:


zurück zur Übersicht

Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.

Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".