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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: AG Stuttgart, Beschl. v. 20.12.2023 - 36 Gs 11711/23

Eigener Leitsatz:

Unter besonderen Umständen ist die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers zulässig. Dies kann der Fall sein, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO vorlagen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte.


36 Gs 11711/23

Amtsgericht Stuttgart

Beschluss

In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.

wegen Betruges

hat das Amtsgericht Stuttgart durch die Richterin am Amtsgericht am 20. Dezember 2023 beschlossen:

Der Beschuldigten wird gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO i. V. m. § 142 StPO rückwirkend bis zum Zeitpunkt des Absehens von der Verfolgung gern. § 154 Abs. 1 StPO mit Verfügung vom 15.11.2023 Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bestellt.

Gründe:

Gegen die ehemals Beschuldigte wurde von Seiten der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts des Betrugs ermittelt. Mit Schreiben vom 01.11.2023 legitimierte sich Rechtsanwalt Pp. für die Beschuldigte und beantragte unter Ankündigung der Niederlegung des Wahlmandats die Beiordnung als Pflichtverteidiger bereits im Ermittlungsverfahren. Mit Verfügung vom 15.11.2023 sah die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung gem. § 154 Abs. 1 StPO wegen einer Verurteilung vom 10.08.2022 zu der Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 15 Euro im Verfahren 3 Cs 959 Js 78309/22 ab. Ausweislich der aus der Akte ersichtlichen Vollstreckungsübersicht befand sich die Beschuldigte seit dem 10.01.2023 wegen verschiedener Ersatzfreiheitsstrafen in (Ersatz-)Strafhaft. Seit dem 25.02.2023 verbüßt sie eine vorn Amtsgericht Quedlinburg mit Urteil vom 25.04.2019 - 8 Ls 905 Js 73449/18 - verhängte Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten in der JVA Halle; Strafzeitende ist auf den 15.11.2024 notiert. Unter dem 12.12.2023, hier eingegangen am 13.12.2023, übersandte die Staatsanwaltschaft die Akte dem hiesigen Ermittlungsgericht zur Entscheidung über den Beiordnungsantrag vom 01.11.2023. Dem Antrag wird entgegengetreten. Das Verfahren sei mit Verfügung vom 15.11.2023 gern. § 154 Abs. 1 StPO eingestellt worden. Der Verteidiger habe sich zunächst als Wahlverteidiger legitimiert; die Beschuldigte sei daher vertreten gewesen.

Die Voraussetzungen für die Beiordnung von Rechtsanwalt Pp. liegen trotz zwischenzeitlichen Absehens von der Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft vor. Zwar bestehen grundsätzlich erhebliche Bedenken gegen eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung nach Verfahrensabschluss, da die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht dem Kosteninteresse des Beschuldigten oder seines Verteidigers dient, sondern allein dem Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sor-gen, dass ein Beschuldigter in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird (OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 - 2 Ws 112/20 -; LG Regensburg, Beschluss vom 30.12.2020 - 5 Qs 188/20 -, juris Rn. 11; AG Karlsruhe, Beschluss vom 12.11.2020 — 2 Gs 3/20 —, juris Rn. 1 ff.; BGH, NStZ-RR 2009, 348). Unter besonderen Umständen ist eine rückwirkende Bestellung allerdings zulässig. Dies kann der Fall sein, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO vorlagen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte (OLG Stuttgart, Beschluss vom 15.12.2022 — 4 Ws 529/22 —, juris; AG Karlsruhe, a.a.O., Rn. 2); dies ergibt sich bereits aus dem rechtsstaatlichen Gebot des fairen Verfahrens (Artikel 20 Abs. 3 GG, Artikel 6 Abs. 1 EMRK), wonach einem Beschuldigten durch eine verfahrensfehlerhafte Behandlung von Seiten der Justiz keine erheblichen Nachteile entstehen dürfen. Die Belastung mit Verteidigerkosten stellt für einen (ehemaligen) Beschuldigten bei Vorliegen der übrigen genannten Voraussetzungen jedoch gerade einen solchen erheblichen Nachteil dar.

So liegt der Fall hier: Zum Zeitpunkt des Antrags auf Beiordnung von Rechtsanwalt Pp. vom 01.11.2023 lagen nach den obigen Feststellungen, die Voraussetzung einer notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor, da sich die Beschuldigte seit Anfang Januar 2023 in Strafhaft befunden hat/befindet und zu diesem Zeitpunkt ein Absehen von der Verfolgung noch nicht erfolgt war. Eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag unterblieb vorliegend allein auf-grund justizinterner Vorgänge, da dieser entgegen § 142 Abs. 1 S. 2 StPO nicht unverzüglich dem Ermittlungsgericht zur Entscheidung vorgelegt wurde (die Pflichtverteidigerbestellung hat je-doch so rechtzeitig zu erfolgen, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden, wobei eine Prüfungs- und Überlegungsfrist von einer, maximal zwei Wochen zu verstehen ist (LG Bochum, Be-schluss vom 18.09.2020 - 11-10 Qs 6/20 juris Rn. 30)). Dass das Absehen von der Strafverfolgung vor dem Hintergrund der Verurteilung vom 10.08.2022 im Verfahren 3 Cs 950 Js 78309/22 ggf. absehbar war, rechtfertigt keine andere Beurteilung, nachdem sich die Ausnahmevorschrift des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 StPO beschränkt (OLG Stuttgart, Beschluss vom 15.12.2022 — 4 Ws 529/22 —, juris; LG Hannover, Beschluss vom 08.04.2022 — 40 Qs 12/22 —, juris Rn. 4 m.w.N. und Verweis auf LG Hamburg, Beschluss vom 15.06.2021 — 622 Qs 22/21; LG Freiburg, Beschluss vom 26.08.2020 — 16 Qs 40/20; LG Würz-burg, Beschluss vom 10.11.2020 — 6 Qs 197/20; vgl. auch LG Frankfurt, Beschluss vom 30.09.2021 — 5/31 Qs 22/21 —, juris). Einer analogen Anwendung der Regelung steht bereits entgegen, dass eine planwidrige Regelungslücke nicht erkennbar ist: Die fehlende, dem § 141 Abs. 2 S. 3 StPO entsprechende Regelung im Absatz 1 derselben Norm ist derart augenfällig, dass der Gesetzgeber diese geschlossen, bzw. gar nicht erst eröffnet hätte, wenn dies seinem Willen entsprochen hätte (LG Hannover, Beschluss vom 08.04.2022 — 40 Qs 12/22 —, juris Rn. 4 m.w.N.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 15.12.2022 — 4 Ws 529/22 —, juris).


Einsender: RA J.-R. Funck, Braunschweig,

Anmerkung:


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