Gericht / Entscheidungsdatum: LG Lübeck, Beschl. v. 16.01.2024 – 6 Qs 48/23
Eigener Leitsatz:
Kommt es im Verfahren zur Beantwortung der Frage, ob sich gegen die Beschuldigte ein Verdacht wegen Steuerhinterziehung gem. § 370 Abs. 1 AO erhärten lässt und ob ggf. im weiteren Verfahren eine entsprechende Schuld der Beschuldigten festgestellt werden kann, neben den §§ 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 68 EStG auch auf die Verordnung (EG) 883/2004 an, ist die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig im Sinn des § 140 Abs. 2 StPO
In pp.
1. Auf die sofortige Beschwerde der Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Lübeck vom 05. Dezember 2023 (Az. 76 Gs 85/23) wird dieser aufgehoben.
2. Der Beschuldigten wird Rechtsanwältin pp. als Pflichtverteidigerin beigeordnet.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Beschuldigten trägt die Staatskasse.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft Lübeck führt gegen die Beschuldigte ein Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung. Sie wirft der Beschuldigten vor, Kindergeld über die Familienkasse Elmshorn bezogen zu haben, obwohl ihr Ehemann in Dänemark berufstätig war.
Die Beschuldigte ist Mutter von fünf Kindern. In ihrem Antrag auf Kindergeld für ihr Kind pp. geboren am pp., vom 21.03.2001 und in ihrem Antrag für das weitere Kind pp., geboren am pp. mit Datum vom 18.02.2003 (wohl richtigerweise pp.) versicherte die Beschuldigte, alle leistungserheblichen Änderungen unverzüglich mitzuteilen. In ihrem Antrag auf Kindergeld für Kind pp., geboren am pp., vom 24.04.2004 bestätigte sie dies erneut. Seit April 2005 ist der Ehemann der Beschuldigten in Dänemark erwerbstätig. Dies teilte die Beschuldigte der Familienkasse nicht mit. In ihrem Antrag auf Kindergeld für die weiteren Kinder pp. und pp, geboren am pp. vom 07.09.2009, in dem sie auch ihre drei älteren Kinder angab, erklärte die Beschuldigte, dass ihr Ehemann und Kindesvater nicht außerhalb Deutschlands als Arbeitnehmer tätig ist. In dem Zeitraum von März 2018 bis Dezember 2018 sowie ab April 2020 ging die Beschuldigte einer Erwerbstätigkeit in Deutschland nach.
Die Familienkasse erfuhr von der Erwerbstätigkeit des Ehemannes der Beschuldigten erstmals am 22.03.2019 durch die Mitteilung der Beschuldigten vom 25.01.2019.
Die Beschuldigte könnte insgesamt Kindergeldzahlungen in Höhe von 97.558,36 € zu Unrecht erhalten haben.
Mit Schreiben vom 15.11.2023 teilte die Staatsanwaltschaft Lübeck der Beschuldigten den Tatvorwurf der Steuerhinterziehung mit und belehrte sie auch über die Voraussetzungen der Bestellung eines Pflichtverteidigers, woraufhin die Beschuldigte die Bestellung von Frau Rechtsanwältin ...zur Pflichtverteidigerin beantragte. Das Amtsgericht Lübeck lehnte diesen Antrag mit Beschluss vom 05.12.2023, zugestellt am 07.12.2023 ab, da kein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1, 2 StPO vorliege. Mit dem Schriftsatz vom 12.12.2023, per Fax eingegangen am 14.12.2023, legte die Beschuldigte Beschwerde gegen den Beschluss vom 05.12.2023 ein.
II.
1. Die zulässige - insbesondere fristgerechte - sofortige Beschwerde ist begründet.
Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 Var. 3 StPO vor.
Nach § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Gem. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO ist der Beschuldigten auch bereits im Ermittlungsverfahren ein Pflichtverteidiger zu bestellen.
Schwierig ist die Rechtslage, wenn bei der Anwendung des materiellen oder des formellen Rechts auf den konkreten Sachverhalt bislang nicht ausgetragene Rechtsfragen entschieden werden müssen (OLG Stuttgart Beschl. v. 08.11.2001 – 3 Ss 251/01, BeckRS 2007, 8398; KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, § 140 StPO, Rn. 29) oder wenn nicht abschließend geklärte Rechtsfragen namentlich aus Bereichen außerhalb des Kernstrafrechts entscheidungserheblich sind oder wenn die Subsumtion im Einzelfall problematisch ist (KG, Beschl. v. 09.02.2016 – 121 Ss 231/15 –, NStZ-RR 2016, 208).
Zur Beantwortung der Frage, ob sich gegen die Beschuldigte ein Verdacht wegen Steuerhinterziehung gem. § 370 Abs. 1 AO erhärten lässt und ob ggf. im weiteren Verfahren eine entsprechende Schuld der Beschuldigten festgestellt werden kann, wird es neben den §§ 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 68 EStG auch auf die Verordnung (EG) 883/2004 ankommen, da der Kindesvater seit April 2005 in Dänemark erwerbstätig ist. Dabei wird unter Anwendung der Prioritätsregel des Art. 68 VO (EG) 883/2004 zu prüfen sein, welcher Staat vorrangig zur Zahlung von Kindergeld zuständig gewesen ist. Steht der vorrangig zuständige Staat fest, folgen aus Art. 68 Abs. 2 VO (EG) 883/2004 die Konsequenzen für die Leistungen der nachrangigen Staaten. Nach Art. 68 Abs. 2 S. 2 VO (EG) 883/2004 wird die Leistungspflicht des nachrangigen Staates in Höhe der vorrangig zu erbringenden Leistung ausgesetzt. Handelt es sich um Leistungen, die durch (selbständige) Beschäftigung oder Rentenbezug ausgelöst werden, hat der nachrangige Staat den Differenzbetrag zu gewähren, sofern seine Leistungen die des vorrangigen Staates übersteigen (BeckOGK/Schreiber, 01.03.2020, Art. 68 VO (EG) 883/2004, Rn. 13).
In einem ähnlich gelagerten Fall mit einem grenzüberschreitenden Sachverhalt bejahte das Landgericht Nürnberg-Fürth bereits die Notwendigkeit der Verteidigung wegen der Schwierigkeit der Rechtslage gem. § 140 Abs. 2 StPO (vgl. Beschl. v. 23.07.2021 – 12 Qs 45/21 –, BeckRS 2021, 20061, Rn. 7 ff.).
Unter Berücksichtigung, dass es hier bei einem grenzüberschreitenden Sachverhalt um hohe Kindergeldbeträge geht, die konkrete Anwendung von Art. 68 VO (EG) 883/2004 bereits mehrfach Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung war (vgl. BFH Urt. v. 18.02.2021 – III R 27/19 –, BeckRS 2021, 10563; BFH Urt. v. 18.02.2021 – III R 2/20 –, BeckRS 2021, 16170; vgl. hierzu LG Nürnberg-Fürth Beschl. v. 23.07.2021 – 12 Qs 45/21 –, BeckRS 2021, 20061) und auch die konkurrenzrechtliche Einordnung problematisch ist (vgl. hierzu OLG Nürnberg NZWiSt 2015, 421), ist die Subsumtion im Einzelfall schwierig und wird einen juristischen Laien regelmäßig überfordern, sodass die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO in analoger Anwendung.
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