Gericht / Entscheidungsdatum: LG Zweibrücken, Beschl. v. 23.08.2023 – 2 StVK 241/23 Vollz
Eigener Leitsatz:
Zur ausreichenden Begründung der Ermessensentscheidung, mit der im Strafvollzug Lockerungen als Disziplinarmaßnahme widerrufen werden.
In pp.
1. Die Widerrufsverfügung des Vollzugsabteilungsleiters der Justizvollzugsanstalt Zweibrücken vom 09.05.2023 -Widerruf von Lockerungenwird aufgehoben.
2. Es wird festgestellt, dass der in der Disziplinarverfügung vom 09.05.2023 verhängte Entzug von 7 Tagen Fernsehempfang und 7 Tagen Entzug Freizeit und Gemeinschaft rechtswidrig gewesen ist.
3. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Antragstellers trägt die Staatskasse.
4. Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 1.000,00 € festgesetzt.
Gründe:
I.
I.1
Der Antragsteller wendet sich mit seinem Antrag vom 17.05.2023 gegen zwei gegen ihn gerichtete Maßnahmen der Antragsgegnerin vom 09.05.2023:
1. gegen den Widerruf der gewährten Lockerungen
2. gegen die verhängte Disziplinarmaßnahme -Entzug von Fernsehempfang, Freizeit und GemeinschaftI.
I.2
Der Antragsteller befindet sich in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Zweibrücken. Er verbüßt eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren, 3 Monaten wegen Verstoßes gegen das BtMG. Das Strafende ist für den 16.05.2025 vorgemerkt, der 2/3-Prüftermin für eine Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB ist am 16.04.2024.
Der Hintergrund der von der Antragsgegnerin ergriffenen Maßnahmen ist der Aktennotiz des Herrn JVOS^BB vom 03.03.2023 (BI. 52 d.A.) zu entnehmen, in der es heißt:
„In meinem heutigen Frühdienst auf Abteilung B, schloss ich gegen 6:40 Uhr die Gefangenen im kurzen Flur zum Ausrücken auf. Dabei beorderte ich Herrn zur Kontrolle ans Abteilungsbüro. Als ich ihn aufforderte vor zu gehen, lief der Gefangene, unmittelbar hinter Herrn wobei dieser Herrn Q etwas übergab. Daraufhin schickte ich Herrnm ebenfalls zur Kontrolle. Da die beiden nun noch eine kurze Zeit warten mussten, weil noch andere Gefangene vom langen Flur kontrolliert wurden, übergab Herr nun etwas an Herrn Dieser steckte das übergebene in seine rechte Parkatasche. Ich forderte ihn unverzüglich auf den Parka auszuziehen und ihn mir zu geben. In der Tasche fand ich eine gedrehte Zigarette, welche er zusätzlich zu einer Tabakration dabeihatte. Die Zigarette wurde von mir sichergestellt und der Abteilung Sicherheit zur Prüfung übergeben.“
Mit Verfügung vom 09.05.2023 (BI. 56 d.A.) widerrief die Antragsgegnerin daraufhin nach Anhörung des Antragstellers die ihm gewährten Lockerungen. Die Begründung lautete wie folgt:
„Aufgrund der neuen Erkenntnisse im Rahmen positiv auf NPS getesteter Asservate, die kurzzeitig im Besitz des Gefangenen waren und von ihm weitergegeben wurden, werden dem Gefangenen ihm gewährten Lockerungen (§ 45 Abs. 1 LJVollzG) gern. § 101 Abs. 3 Nr. 1 LJVolizG widerrufen.“
Zugleich verhängte die Antragsgegnerin am 09.05.2023 eine Disziplinarmaßnahme von 7 Tagen Entzug Fernsehempfang und 7 Tagen Entzug Freizeit und Gemeinschaft gegen den Antragsteller. Die Disziplinarmaßnahme wurde vom 09.05.2023 bis 15.05.2023 vollzogen. Auf BI. 51 (Rückseite) d.A. wird verwiesen.
I.3.
Mit Schreiben vom 17.05.2023, hat der Antragsteller über seinen Verfahrensbevollmächtigten dagegen vorgetragen, dass der Sachverhalt unzutreffend wiedergegeben sei. Er werde von dem Bediensteten BBft zu Unrecht falsch belastet, der gegen den Antragsteller eine „Aversion“ habe. In Anbetracht des bislang positiven Vollzugsverlaufes sei schlichtweg lebensfremd anzunehmen, er hätte einen verbotenen Gegenstand besessen. Dass sich der Vorgang nicht zugetragen haben könne, wie in der Aktennotiz vermerkt, ergebe sich daraus, dass die Antragsgegnerin diesbezüglich keine Strafanzeige gegen den Antragsteller erstattet hätte.
Der Sachverhalt sei unvollständig ermittelt worden. Dafür spreche beispielsweise, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung -Widerruf Lockerung und Disziplinarmaßnahmekeine Videoüberwachung über den Bereich gesichtet worden sei. Es käme hinzu, dass die Antragsgegnerin den Vorgang lediglich auf die Aussage des Bediensteten MBBoestützt habe. Insbesondere auf die Befragung der ebenfalls zum fraglichen Zeitpunkt anwesenden Bediensteten MB* hätte man verzichtet. Die Aussage des angeblich in den Vorfall involvierten MBB* sei nicht berücksichtigt worden. Wie sich nunmehr nach Vorlage durch die Antragsgegnerin im gerichtlichen Verfahren ergebe, sei der Vorfall weder von der Bediensteten von ^em Mitgefangenen BBBP bestätigt worden.
Die Entscheidung der Antragsgegnerin weise Ermessensfehler auf. Sie sei nicht verhältnismäßig.
Anhand der beiden Verfügungen vom 09.05.2023 bleibe unklar, ob die Antragsgegnerin überhaupt eine Abwägung mit den berechtigten Interessen des Antragstellers vorgenommen habe. Es sei ein unzulässiges Nachschieben von Gründen, wenn sich die Antragsgegnerin im derzeitigen gerichtlichen Verfahren erstmals darauf berufe, der Antragsteller hätte angeblich schon zuvor gezeigt, dass er sich nicht immer an die Regelungen bezüglich des Gewahrsams von Gegenständen gehalten habe.
Das besondere Feststellungsinteresse hinsichtlich der zwischenzeitlichen Erledigung der Disziplinarmaßnahme bestünde.
Er beantragt,
• 1.die Widerrufsverfügung des Vollzugsabteilungsleiters der Justizvollzugsanstalt Zweibrücken vom 09.05.2023 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller die im Vollzugsplan vorgesehen Lockerungen zu gewähren, hilfsweise den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden;
• 2.Die Disziplinarverfügung des Aufsichtsdienstleiters der Justizvollzugsanstalt Zweibrücken vom 09.05.2023 aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an die Antragsgegnerin zurückzuverweisen, hilfsweise festzustellen, dass der in der Disziplinarverfügung verhängte Entzug von Fernsehempfang, Freizeit und Gemeinschaft rechtswidrig war.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Anträge zurückzuweisen.
Sie trägt im Wesentlichen vor, es sei eine Schutzbehauptung, wenn der Antragsteller eine bewusste Falschbelastung durch den Bediensteten anführe. Ein solches sei bereits deshalb abwegig, da sich der Antragsteller zu keinem Zeitpunkt über den Bediensteten beschwert hätte.
Der Vorwurf des nicht ausreichend ermittelten Sachverhalts sei nicht haltbar. Die beiden beteiligten Gefangenen sowie der Bedienstete welcher den Vorgang beobachtet hätte, seien angehört worden. Die Sichtung der Videoaufzeichnung sei nicht zielführend, da der relevante Bereich davon nicht hätte eingesehen werden können. Das ggf. Vorliegen von vorherigen Hausordnungsverstößen fließe grundsätzlich immer im Rahmen des Ermessens mit in die Entscheidungen über eine Disziplinarmaßnahme ein. Die Tatsache, dass dies auf der Verschriftlichung der Disziplinarmaßnahme oder dem Widerruf der Lockerungseignung nicht aufgeführt sei, sei kein Beleg für ein unzulässiges Nachschieben von Gründen. Die Voraussetzungen des Widerrufs einer begünstigenden Maßnahme Lockerung, § 101 Abs. 4 LJVollzG -überwiegen des Interesses der Anstalt an der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung gegenüber dem Vertrauen auf den Erhalt der Lockerungseignungseien erfüllt.
II.
Die Anträge auf gerichtliche Entscheidung haben Erfolg.
II.1. Antrag gegen den Widerruf der Lockerungen v, 09.05.2023
II.1.1.
Der Antrag ist zulässig.
Gegen eine Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzuges kann gerichtliche Entscheidung beantragt werden (§ 109 Abs. 1 Satz 1 StVollzG).
Der Antragsteller wendet sich dagegen, dass ihm die ursprünglich gewähren Vollzugslockerungen widerrufen worden sind, sodass er in seinen Rechten verletzt sei (§ 109 Abs. 2 StVollzG).
Relevant ist vorliegend die Anfechtungskonstellation. Bei erfolgreicher Anfechtung würde die ursprüngliche Eignung für Vollzugslockerungen wieder aufleben, ohne dass es nach Auffassung des Antragstellers einer weiteren Verpflichtung gerichtet an die Antragsgegnerin bedürfe, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
II.1.2.
Der Antrag hat in der Sache Erfolg. Die Entscheidung der Antragstellerin erweist sich als rechtswidrig und der Antragsteller ist dadurch in seinen Rechten verletzt.
a) Als Rechtsgrundlage für den Widerruf der gewährten Vollzugslockerungen maßgeblich ist § 101 Abs. 3 Nr. 1 LJVollzG. Danach können rechtmäßige Maßnahmen ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, wenn aufgrund nachträglich eingetretener oder bekannt gewordener Umstände Maßnahmen hätten unterbleiben können.
Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 LJVollzG können Aufenthalte außerhalb der Anstalt ohne Aufsicht (Lockerungen) den Strafgefangenen zur Erreichung des Vollzugszieles gewährt werden. Nach § 45 Abs. 2 Satz 1 LJVollzG dürfen Lockerungen gewährt werden, wenn verantwortet werden kann zu erproben, dass die Strafgefangenen sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe nicht entziehen und die Lockerungen nicht zu Straftaten missbrauchen werden. Diese Eignung hat die Antragsgegnerin ursprünglich in rechtmäßiger Weise bejaht.
Nach § 101 Abs. 4 LJVollzG dürfen begünstigende Maßnahmen nach § 101 Abs. 3 LJVollzG -um solche handelt es sich bei der Gewährung von Lockerungennur aufgehoben werden, wenn die vollzuglichen Interessen an der Aufhebung in Abwägung mit dem schutzwürdigen Vertrauen der Betroffenen auf den Bestand der Maßnahmen überwiegen.
b) Die Antragsgegnerin begründet in der Verfügung ihre Entscheidung damit, dass aufgrund der neuen Erkenntnisse im Rahmen positiv auf NPS getesteter Asservate, die kurzzeitig im Besitz des Antragstellers gewesen und von ihm weitergegeben worden seien die gewährten Lockerungen (§ 45 Abs. 1 LJVollzG) gern. § 101 Abs. 3 Nr. 1 LJVollzG widerrufen werden.
Die Kammer geht von demjenigen Sachverhalt aus, den der Bedienstete Sl in seiner Aktennotiz vom 21.04.2023 in nachvollziehbarer Weise erfasst hat. – Die Beweiserhebung der Kammer richtet sich nach den Regeln des Freibeweisverfahrens (siehe nur Calliess/Müller/Dietz, StVollzG 10. Auflage, § 115 Rn. 4; siehe auch § 115 I Satz 1 StVollzG). Ob und gegebenenfalls inwieweit die Strafvollstreckungskammer über die Wahrheit der von den Beteiligten behaupteten Tatsachen eigene Ermittlungen anzustellen oder anzuordnen (§ 308 II StPO) hat, beurteilt sich nach § 244 II StPO i.V. m. § 120 I StVollzG (siehe etwa Calliess/Müller/Dietz a. a. O., § 115 Rn. 3 m.w. Nachw.). Wenn und soweit der Strafvollstreckungskammer eine von den Beteiligten übereinstimmend geschilderte oder auch von nur einem Beteiligten behauptete Tatsache aus von der Kammer darzulegenden nachvollziehbaren Gründen – etwa dem Hinweis darauf, dass eine bestimmte Tatsache von der Vollzugsanstalt auf eine bestimmte Weise festgestellt wurde und gegen die Zuverlässigkeit der verwendeten Beweismittel keine Bedenken bestehen – wahr erscheint, so besteht eine Pflicht zur eigenständigen Erhebung der Beweise und eventuell weiteren Sachaufklärung nur insoweit, als bestimmte Tatsachen dazu drängen oder sie zumindest nahe legen. Fehlt es an solchen Tatsachen, kann sich das Gericht auf den Akteninhalt als Erkenntnisquelle beschränken, denn die Grundsätze der Mündlichkeit, der Unmittelbarkeit und der Öffentlichkeit finden im Freibeweisverfahren gerade keine Anwendung.
Greifbare Anhaltspunkte sind für die Version des Antragstellers nicht ersichtlich, der Sachverhalt sei von dem Bediensteten erfunden worden, um dem Antragsteller im Wege einer „Retourkutsche“ zu schaden. Die Behauptungen des Antragstellers wertet die Kammer als reine Schutzbehauptungen, denn es ist nicht vorgetragen worden, worin der Grund des Bediensteten Wiese liegen sollte, eine Abneigung gegenüber dem Antragsteller zu haben. Ein Motiv für eine Intrige fehlt gänzlich. Ohne, dass es nach dem Vorgenannten noch darauf ankommt, hätten sich mit Sicherheit einfachere Situationen angeboten -ohne etwaige Zeugen-, in dem der Bedienstete BlB^den Antragsteller zu Unrecht hätte belasten können und dies im gravierenderen Maße, z.B. durch Konstruktion eines längeren Besitzes eines verbotenen Gegenstandes. Aus der Aktennotiz folgt hingegen der kurzzeitige Besitz eines Verbotenen Gegenstandes. Der Hinweis des Antragstellers auf den bisherigen Vollzugsverlauf verhängt nicht, um zu veranschaulichen, dass es lebensfremd sei, anzunehmen, der Antragsteller hätte einen verbotenen Gegenstand aufbewahrt. Ausweislich des von dem Antragsteller vorgelegten Vollzugs- und Eingliederungsplan vom 23.04.2023 zeigt sich, dass gegen den Antragsteller in der Voranstalt ein Verweis ausgesprochen worden war, weil der Antragsteller Kleidung eines entlassenen Mitgefangenen im Besitz hatte. Wiederholt waren Ermahnungen erforderlich. Der Sachverhalt ist von der Antragstellerin vollständig ermittelt worden. Es existieren keine Videoaufzeichnungen über den ausschließlich interessierenden Bereich. Dies hat die Antragsgegnerin zuletzt auch nochmals mit Schriftsatz vom 31.07.2023 (BI. 75 d.A.) klargestellt, was von dem Antragsteller zuletzt nicht mehr angegriffen worden ist. Es kann dahinstehen, ob man es als Versäumnis der Antragsgegnerin bei der Sachverhaltsaufklärung einzustufen hat, dass die weitere Bedienstete erst im Nachgang angehört und ihre Stellungnahme zur Akte gereicht wurde, denn die Aussage ist nicht ergiebig. Die Bedienstete ^B^hat zwar die Übergabe einer Sache nicht gesehen, sie widerlegt gleichwohl auch nicht die Aktennotiz des Bediensteten Dies passt zu der Darstellung der Antragsgegnerin, wonach lediglich der Bedienstete den Vorfall beobachtet hatte. Neue Erkenntnisse, die die Glaubhaftigkeit der Ausführungen in der Aktennotiz in Frage stellen oder die Glaubwürdigkeit des Bediensteten OlB erschüttern, folgen daraus ebenso wenig, wie aus der nachträglich eingereichten Stellungnahme des ebenfalls an dem Vorfall Beteiligten Ob sich der Vorgang ereignet hat, wie beschrieben, entscheidet sich im Übrigen nicht an der Frage, ob gegen den Antragsteller insoweit Strafanzeige erstattet worden ist.
Letztlich kommt es darauf nicht an, denn die Antragsgegnerin hat es zunächst versäumt, die Vorschrift des § 101 Abs. 4 LJVollzG zu prüfen, wonach begünstigende Maßnahmen – und um eine solche begünstigende Maßnahme handelt es sich bei der Gewährung von Vollzuglockerungennur aufgehoben werden dürfen, wenn die vollzuglichen Interessen an der Aufhebung in Abwägung mit dem schutzwürdigen Vertrauen der Betroffenen auf den Bestand der Maßnahmen überwiegen. Die insoweit vom Gesetz geforderte Interessenabwägung hat die Antragsgegnerin nicht vorgenommen – jedenfalls findet sich hierzu nichts in der angegriffenen Verfügung-.
Das Gericht hat darüber hinaus jedoch nach § 115 Abs. 5 StVollzG, soweit die Vollzugsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, auch zu prüfen, ob die Maßnahme oder ihre Ablehnung oder Unterlassung rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Bei dem Widerruf nach § 101 Abs. 3 LJVollzG handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, was bereits der Wortlaut der Vorschrift (begünstigende Maßnahmen „können“ widerrufen werden) klarstellt. Ausweislich der angegriffenen Verfügung hat die Antragsgegnerin aber von dem ihr zustehenden Ermessen hinsichtlich des Widerrufs keinerlei Gebrauch gemacht. So führt die Antragsgegnerin, nachdem sie kurz festhält, warum die materiellrechtlichen Voraussetzungen eines Widerrufs gegeben seien, lediglich aus, dass die Lockerungen nach § 101 Abs. 3 Nr. 1 LJVollzG widerrufen werden. Die Annahme ist gerechtfertigt, dass sich die Antragsgegnerin des ihr zustehende Ermessen bei der Entscheidung über den Widerruf nicht bewusst war und sie dieses deshalb nicht ausgeübt hat. Insoweit liegt ein Fall des Ermessensnichtgebrauchs als Unterfall eines beachtlichen Ermessensfehlers auf Seiten der Antragsgegnerin vor, zu dessen Prüfung die Kammer nach § 115 Abs. 5 StVollzG veranlasst ist. Es finden sich in der angegriffenen Verfügung keinerlei erforderliche Ausführungen zum Gebrauch des der Antragsgegnerin zustehenden Ermessens. Dies gilt umso mehr, als dass in die anzustellenden Ermessenserwägungen wiederum die in die Abwägung nach § 101 Abs. 4 LJVollzG einzustellenden Umstände einzufließen haben, welche die Antragsgegnerin wie ausgeführt gänzlich nicht behandelt hat.
Die Antragsgegnerin hat zwischenzeitlich im gerichtlichen Verfahren zwar ihre Rechtsaulfassung deutlich gemacht, dass § 101 Abs. 4 LJVollzG bei der Prüfung des Widerrufs der Lockerungseignung zu beachten ist und dazu im Fall des Antragstellers näher begründet, warum der Vorfall veranschaulicht, dass eine notwendige Absprachefähigkeit, welche für die Gewährung von Vollzugslockerungen erforderlich ist, aus ihrer Sicht noch nicht in ausreichendem Maße gegeben ist (BI. 47-48 d.A.).
Die Ermessensentscheidung muss jedoch zum Zeitpunkt des Erlass der Entscheidung ausreichend begründet werden. Es besteht daher nicht nur eine Aufklärungsverpflichtung, sondern auch eine Begründungspflicht, die Grundlagen der Entscheidung sind im Einzelnen wiederzugeben. Genügt die Begründung den Anforderungen nicht, kann sie weder durch ergänzenden Vortrag der Vollzugsbehörde im gerichtlichen Verfahren, noch durch eigene Ermittlungen der Strafvollstreckungskammer ersetzt werden (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 12.05.2017 -1 Ws 235/16 Vollz, Rn. 17; KG, Beschluss vom 27.02.2014 – 2 Ws 55/14 Vollz, Rn. 25; OLG Hamburg, Beschluss vom 09.01.2020 – 5 Ws 61/19 Vollz, Ls. 2). Teilt die Antragsgegnerin mit, das ggf. Vorliegen von vorherigen Hausordnungsverstößen fließe grundsätzlich immer im Rahmen des Ermessens mit in die Entscheidung ein, die Tatsache, dass dies nicht verschriftet wurde kein,Beleg für ein unzulässiges Nachschieben von Gründen sei, trifft dies bei der Kammer nicht auf Zustimmung. Etwas anderes könnte vielleicht dann gelten, wenn es im konkreten Fall lediglich darum ginge, eine gedanklich bereits existierende, lediglich aus Zeitgründen nicht schriftlich ausgeführte Begründung nachträglich zu fixieren (KG, a.a.O). So liegt der Fall hier jedoch nicht. Es ist aus Sicht der Kammer, wie bereits dargelegt, nun nicht mehr nachvollziehbar, ob sich die Antragstellerin zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Widerruf der Lockerungseignung bewusst gewesen ist, dass ihr ein Ermessensspielraum zukommt und welche Gesichtspunkte maßgeblich waren. Dies darf sich nicht zum Nachteil der Antragstellerin auswirken (KG, a.a.O.).
II.2. Antrag gegen die Disziplinarmaßnahme v. 09.05.2023
II.2.1.
Der hilfsweise gestellte Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Disziplinarverfügung ist zulässig.
Im Falle der Erledigung der Hauptsache nach Stellung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung spricht die Strafvollstreckungskammer gern. § 115 Abs. 3 auf Antrag aus, dass eine Maßnahme rechtswidrig gewesen ist, wenn der Antragsteller ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat (BeckOK Strafvollzug Bund/Euler StVollzG, § 115 Rn. 12).
In der Sache geht es darum, dass sich der Antragsteller gegen eine Disziplinarmaßnahme wehrt, 7 Tage Entzug Fernsehempfang und 7 Tage Entzug Freizeit und Gemeinschaft, wobei die Maßnahme bereits in der Zeit vom 09.05.2023 bis 15.05.2023, d. h. vor der Antragstellung auf gerichtliche Entscheidung, vollzogen worden ist. Bei gewichtigen Grundrechtseingriffen kommt ein schutzwürdiges Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage auch bei einer Erledigung vor Antragstellung in Betracht, wenn der Betroffene gerichtlichen Rechtsschutz nach dem typischen Verfahrensablauf kaum erlangen kann, etwa weil die Vollzugsbehörde, ohne damit ein vorausgegangenes Unrecht einzuräumen, die Erledigung vor einer gerichtlichen Kontrolle selbst herbeigeführt hat (BVerfG BeckRS 2021, 2068; BVerfG NJW 2013, 1943 mwN; vgl auch BVerfG bei Roth NStZ 2014, 624 (631); zum Rechtsschutzinteresse bei Zwangsbehandlungen vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2017, 125). IÜ kann der Antragsteller Rechtsschutz unter Umständen lediglich durch einen – im StVollzG nicht normierten, aber allgemein anerkannten – allgemeinen Feststellungsantrag erlangen; ein solcher Antrag ist gegenüber Anfechtungsoder Verpflichtungsantrag allerdings subsidiär (vgl. OLG Frankfurt a. M. NStZ-RR 2004, 29; KG BeckRS 2019, 22083; BeckOK Strafvollzug, a.a.O. Rn. 15).
Das Feststellungsinteresse als Voraussetzung für die Überprüfung der Rechtswidrigkeit einer Maßnahme besteht bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen, bei drohender Wiederholungsgefahr, bei fortbestehender Beeinträchtigung des Antragstellers, aus Gründen seiner Rehabilitierung oder zur Geltendmachung von Amtshaftungs- und Schadensersatzprozessen, die nicht von vornherein aussichtslos sind (BVerwG NJW 1980, 2426; OLG Saarbrücken ZfStrVo 1983, 60; OLG Hamm ZfStrVo 1982, 186; KG StV 1987, 541; Calliess/Müller-Dietz Rn. 13; LNNV/Bachmann Abschn. P Rn. 81 mwN; BeckOK Strafvollzug, a.a.O. Rn. 16.). Die Kammer kann offen lassen, ob es sich bei der gegen den Antragsteller verhängten Disziplinarmaßnahme um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff handelt, denn das Feststellungsinteresse folgt aus der begehrten Rehabilitation des Antragstellers. Der 2/3-Prüftermin ist am 16.04.2023 und es ist naheliegend, dass der Umstand einer erfolgten Disziplinarmaßnahme Eingang in die Prüfung der Voraussetzungen der vorzeitigen Haftentlassung finden würde.
II.2.2.
Der Antrag ist in der Sache begründet. Die verhängte Disziplinarmaßnahme war rechtswidrig und hat den Antragsteller in seinen Rechten verletzt.
a) Nach § 97 Abs. 1 Nr. 4 LJVollzG können Disziplinarmaßnahmen angeordnet werden, wenn die Gefangenen rechtswidrig und schuldhaft verbotene Gegenstände in die Anstalt einbringen, sich an deren Einbringung beteiligen, sie besitzen oder weitergeben.
Nach § 55 Abs. 1 LJVollzG dürfen die Gefangenen Gegenstände nur mit Zustimmung der Anstalt im Gewahrsam haben, annehmen oder abgeben.
Der Entzug des Fernsehempfangs ist als mögliche Disziplinarmaßnahme in § 97 Abs. 3 Nr. 2 LJVollzG, der Entzug des Aufenthalts in der Gemeinschaft und der Teilnahme von Freizeitveranstaltungen in § 97 Abs. 3 Nr. 3 LJVollzG geregelt.
b) Zum anlassbezogenen Sachverhalt kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden, sodass die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind.
Wiederum finden sich in der Verfügung vom 09.05.2023 (BI. 51 Rückseite) über die Verhängung der Disziplinarmaßnahme keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsgegnerin zum Zeitpunkt der Entscheidung bewusst gewesen ist, dass die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme in ihrem Ermessen liegt. Es bleibt ungewiss, welche Beurteilungsgrundlagen bei der Entscheidung eine Rolle gespielt haben, ob eine Disziplinarmaßnahme und welche Disziplinarmaßnahme zu verhängen ist. Insoweit liegt ein Fall des Ermessensnichtgebrauchs als Unterfall eines beachtlichen Ermessensfehlers auf Seiten der Antragsgegnerin vor, zu dessen Prüfung die Kammer nach § 115 Abs. 5 StVollzG veranlasst ist.
Dass die Antragsgegnerin im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens nähere Ausführungen zu ihrer Ermessensausübung gemacht hat (BI. 46 d.A.), stellt sich als unzulässiges Nachschieben von Gründen dar. Es kann der Blick gerichtet werden auf die Darstellung unter 11.1.2. b)
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Absatz 1, Absatz 4 StVollzG, § 467 StPO.
Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf §§ 60, 52 Absatz 1,2 GKG.
Einsender: RA T. Kettler, Mannheim
Anmerkung:
Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.
Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".