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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Saarbrücken, Beschl. v. 12.10.2023 - 5 Qs 69/23

Eigener Leitsatz:

Ein Verteidiger kann dann noch nachträglich als Pflichtverteidiger bestellt werden, wenn die Voraussetzungen für die Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt ihrer – rechtzeitigen, d. h. vor Abschluss oder Einstellung des Verfahrens erfolgten – Beantragung vorlegen haben und die Entscheidung über die Bestellung aufgrund justizinterner Gründe unterblieben ist.


5 Qs 69/23

In pp.

In der Strafsache
gegen pp.

wegen Bedrohung u.a.

hier: (Sofortige) Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines Pflichtverteidigers

Verteidiger:

hat die 5. Große Strafkammer des Landgerichts Saarbrücken am 12.10.2023 beschlossen:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Beschuldigten vom 14.09.2023 wird der Beschluss des Amtsgerichts Saarbrücken vom 11.09.2023, Az. 8 Gs 2622/23, aufgehoben und dem Beschuldigten für das Ermittlungsverfahren gemäß 8 140 Abs. 2 StPO Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

I.

Gegen den Beschuldigten war bei der Staatsanwaltschaft Saarbrücken, Az. 06 Js 666/23, ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Bedrohung u. a. anhängig. Mit Abschlussbericht vom 22.06.2023 wurde das Verfahren durch die PI Sulzbach der Staatsanwaltschaft zu weiteren Entscheidung vorgelegt. Mit Faxschreiben vom selben Tag hat Rechtsanwalt pp. die Verteidigung des Beschuldigten angezeigt und auf das Bestehen einer gesetzlichen Betreuung des Beschuldigten unter Vorlage des Betreuerausweises verwiesen. Er beantragte die Beiordnung als Pflichtverteidiger, da der Beschuldigte nicht im Stande sei, sich selbst zu verteidigen.

Mit Verfügung vom 13.07.2023 wurde der Anzeigeerstatter auf den Privatklageweg verwiesen.

Mit weiterer Verfügung vom 18.07.2023 wurde die Sache dem Amtsgericht zur Entscheidung vorgelegt, welches den Antrag durch angefochtenen Beschluss vom 11.09.2023 zurückgewiesen hat. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss Bezug genommen. Durch Schreiben seines Verteidigers vom 14.09.2023 hat der Beschuldigte gegen diesen Beschluss „Beschwerde“ erhoben. Diese wird damit begründet, dass der Antrag vor Einstellung des Verfahrens gestellt worden sei. Mit Verfügung vom 02.10.2023 hat die Staatsanwaltschaft Saarbrücken gegenüber dem Amtsgericht beantragt, der Beschwerde nicht abzuhelfen und die Sache der Kammer zur Entscheidung vorzulegen. Das Amtsgericht hat die Beschwerde als „sofortige Beschwerde“ gewertet und der Kammer vorgelegt.

II.

1. Die (sofortige) Beschwerde vom 14.09.2023 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Saarbrücken vom 11.09.2023 ist nach §§ 142 Abs. 7, 311 Abs. 2 StPO zulässig, insbesondere binnen Wochenfrist erhoben.

2. Sie ist in der Sache auch begründet.

Nach der aktuell überwiegend vertretenen Ansicht in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung kann ein Verteidiger jedoch auch noch nachträglich bestellt werden, wenn die Voraussetzungen für die Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt ihrer – rechtzeitigen, d. h. vor Abschluss oder Einstellung des Verfahrens erfolgten – Beantragung vorlegen haben und die Entscheidung über die Bestellung aufgrund justizinterner Gründe unterblieben ist (MüKoStPO/Kämpfer/ Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 142 Rn. 14 mit Nachweisen aus der Rspr.: LG Hamburg BeckRS 2018, 15059; Beschl. v. 12.9.2017 – 60 Qs 276/17; LG Frankenthal BeckRS 2017, 141442; LG Magdeburg BeckRS 2016, 115168; LG Neubrandenburg BeckRS 2016, 20411 (jedenfalls für Jugendstrafverfahren); LG Hamburg BeckRS 2014, 07839; LG Potsdam BeckRS 2014, 11707: LG Frankfurt a. M. StV 2013, 19 (für einen Fall nach § 140 Abs. 1 Nr. 4); LG Dresden StV 2011, 666; LG Halle StV 2011, 667; LG Köln BeckRS 2011, 25712; LG Itzehoe NStZ 2011, 56: LG Stade BeckRS 2011, 25711; LG Düsseldorf NStZ 2010, 296: LG Halle StraFo 2010, 149; LG Bonn StraFo 2009, 106; LG Dortmund StraFo 2009, 106; AG Ulm BeckRS 2022, 30320). Diese Auffassung wird bestärkt durch das Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, da hierdurch insgesamt der frühzeitige Zugang insbesondere auch mittelloser Beschuldigter gewährleistet werden soll (OLG Bamberg BeckRS 2021, 14711 Rn. 14 ff.; OLG Nürnberg StraFo 2021, 71; LG Mainz BeckRS 2022, 27767, LG Frankfurt (Oder) StraFo 2022, 316; LG Hamburg BeckRS 2021, 20600; LG Aurich BeckRS 2020, 10940; LG Bochum NStZ-RR 2020, 352 (353); LG Bonn BeckRS 2020, 7166; LG Bremen StraFo 2020, 454; LG Hechingen BeckRS 2020, 14359; LG Nürnberg-Fürth BeckRS 2020, 10878).

Demgegenüber hat die überwiegend obergerichtliche Rspr. Eine rückwirkende Beiordnung in der Vergangenheit ausgeschlossen (BGH NStZ-RR 2009, 338; StV 1989, 378; OLG Brandenburg NStZ 2020, 625; OLG Hamburg StraFo 2020, 486; OLG Oldenburg BeckRS 2015, 20542; OLG Celle BeckRS 2012, 20314; OLG Düsseldorf BeckRS 2015, 12982; StraFo 2003, 04; KG BeckRS 2013, 13934; 2012, 18316; StraFo 2006, 200; OLG München BeckRS 2012, 02861; OLG Rostock BeckRS 2010, 09553; OLG Hamm NStZ-RR 2009, 113; OLG Schleswig BeckRS 2008, 07388; OLG Bamberg NJW 2007, 3796; 1997, 238; s. a. LG Heilbronn BeckRS 2017, 131209). Diese Auffassung ist teilweise auch für die neue Rechtslage bestätigt worden (OLG Braunschweig BeckRS 2021, 3268; OLG Hamburg StraFo 2020, 486; OLG Bremen NStZ 2021, 253; LG Bielefeld BeckRS 2021, 32488; LG Bonn BeckRS 2021, 27463; LG Heilbronn StraFo 2022, 317; LG Stendal BeckRS 2021, 20592; zust. Bleckat StraFo 2022, 182f.).

Der Ausschluss rückwirkender Bestellung gilt nach überwiegend obergerichtlicher Rechtsprechung auch, wenn ein Antrag, rechtzeitig gestellt, über ihn aber (versehentlich) nicht entschieden wurde (OLG Braunschweig BeckRS 2015, 02332; OLG Stuttgart BeckRS 2015, 05292; OLG Hamm BeckRS 2011, 17170; OLG Köln NStZ-RR 2011, 325; KG StraFo 2006, 200; LG Schwerin BeckRS 2021, 20593; s. aber aA OLG Koblenz StV 1995, 537). Die rückwirkende Bestellung soll auch dann nicht möglich sein, wenn das Gericht die prozessuale Überholung durch unrichtige Sachbehandlung verursacht hat (OLG Hamm BeckRS 2012, 24285), nicht aber, wenn ein Antrag ohne Begründung abgelehnt wurde (LG Potsdam StraFo 2004, 381). Schließlich soll es zu keiner Bestellung kommen, wenn die Voraussetzungen für eine Verfahrenseinstellung vorliegen (LG Oldenburg BeckRS 2013, 04923; anders wohl LG Potsdam BeckRS 2014, 11707).

Nach dieser Auffassung dient die Bestellung des Pflichtverteidigers nicht dem Kosteninteresse des Betroffenen oder seines Verteidigers, sondern verfolge allein den Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Betroffener in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet ist (KG StraFo 2020, 326). Hieran ändere auch die Umsetzung der PKH-Richtlinie nichts, denn ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe bestehe ebenfalls nur, „wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist“; ein Interesse der Rechtspflege an der Beiordnung nach Verfahrens- oder Instanzenabschluss gebe es aber nicht (OLG Hamburg StraFo 2020, 486; OLG Bremen NStZ 2021, 253; OLG Braunschweig StRR 2021, Nr. 6, 19, vgl. auch Müller-Metz NStZ-RR 2021, 216; Beutel NStZ 2022, 328; Bleckat StraFo 2022, 182; KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 142 Rn. 16).

Die Kammer schließt sich für den vorliegenden Fall der Ansicht an, dass eine Beiordnung zulässig ist: Der Antrag auf Beiordnung wurde am 22.06.2023 und somit vor Abschluss des Verfahrens am 13.07.2023 gestellt. Der Antrag wurde mit Verfügung vom 18.07.2023 erst nach der Verfahrenseinstellung dem Amtsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Die Ablehnung der Beiordnung durch das Amtsgericht vom 11.09.2023 beruht lediglich darauf, dass das Verfahren zwischenzeitlich auf den Privatklageweg verwiesen worden sei. Die in zeitlicher Hinsicht unsachgemäße Behandlung eines Antrags auf Beiordnung durch die Gerichte darf nicht zu Lasten des Beschuldigten gehen. Daher sind rückwirkende Bestellungen im Falle rechtzeitig gestellter Beiordnungsanträge schon zur Verwirklichung des Rechts auf ein faires Verfahren geboten (MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 142
Rn. 14 mit Nachweisen aus der Rspr.).

Die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 StPO waren im Zeitpunkt der Antragstellung am 22.06.2023 gegeben, indem ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vorliegt, da sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Der Beschuldigte steht unter umfassender gesetzlicher Betreuung. Diese umfasst die Sorge für die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidungen über freiheitsentziehende Unterbringung, Entscheidungen über freiheitsentziehende Maßnahmen, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Rechts- Antrags- und Behördenangelegenheiten. Der weite Umfang der gesetzlichen Betreuung belegt, dass Zweifel an der Fähigkeit des Beschuldigten zur Selbstverteidigung bestehen (vgl. OLG Hamm, NJW 2003, 3286 f.; LG Berlin Beschl. v. 19.09.2018 — 502 Qs 102/18; BeckRS 2018, 39322 Meyer-Goßner, StPO, 61. Aufl. 2018, § 140, Rn. 30; Thomas/Kämpfer, MüKo-StPO, 1. Aufl.
2014, § 140, Rn. 49; Laufhütte/Willnow, KK-StPO, 7. Aufl. 2013, § 140, Rn. 24; BeckOK StPO/Krawezyk StPO 8 140 Rn. 45 mit weiteren Fundstellen).

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO in entsprechender Anwendung.


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