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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 19.12.2023 - 6 Qs 226/23

Eigener Leitsatz:

In Ausnahmefällen ist die nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers zulässig.


LG Dessau-Roßlau
6 Qs 196 Js 29157/23 (226/23)

Beschluss

In der Strafsache
gegen pp.

Verteidiger:

wegen gefährlicher Körperverletzung

hat die 6. Große Strafkammer (Beschwerdekammer) des Landgerichts Dessau-Roßlau durch die unterzeichnenden Richter am 19.12.2023 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde des Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Dessau-Roßlau vom 14.11.2023 - Az. 11 Gs 1020123 - aufgehoben und ihm wird Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bestellt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschuldigten insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.

Gründe:

Das Amtsgericht hat durch den o.a. Beschluss, auf den Bezug genommen wird, die Beiordnung des Wahlverteidigers des Beschuldigten als Pflichtverteidiger zurückgewiesen. Gegen diesen dem Verteidiger am 22.11.2023 zugestellten Beschluss wandte sich der Beschuldigte durch anwaltlichen Schriftsatz vom 27.11.2023 mit der „Beschwerde", eingegangen beim Amtsgericht am gleichen Tag.

Das Verfahren gegen den Beschuldigten ist durch die Staatsanwaltschaft am 07.11.2023 gem. § 154 Abs. 1 StPO vorläufig eingestellt worden. Der Antrag des Beschuldigten, seinen Wahlverteidiger als Pflichtverteidiger zu bestellen, datiert vom 20.09.2023 und ging am selben Tag bei dem Amtsgericht Dessau-Roßlau ein.

Die „Beschwerde" ist als das gem. § 142 Abs. 7 S. 1 StPO statthafte und zulässige Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde auszulegen und begründet.

Die Bestellung gebietet sich auch nachträglich aus § 140 Abs. 2 Var. 2 StPO. Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge erforderte hier die Bestellung eines Pflichtverteidigers, da gegen den Beschuldigten wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt wurde, er mehrfach einschlägig vorbestraft ist und er durch mit der hier vorgeworfenen Tat vom 11.05.2023 gesamtstrafenfähiges Urteil des Amtsgerichts Dessau-Roßlau vom 01.06.2023 wegen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt worden ist. Im Übrigen wird auf den Beschluss des Amtsgerichts Dessau-Roßlau vom 15.08.2023 - Az. 11 Gs 731/23 - verwiesen, durch den es dem Beschuldigten in einem parallel laufenden Ermittlungsverfahren Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet hat.

In dem hiesigen Verfahren geht es darüber hinaus um Grundfragen des Rechts der Pflichtverteidigung, insbesondere die nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Abschluss eines Verfahrens durch eine Einstellung bei der Staatsanwaltschaft.

Insoweit herrscht ein erheblicher Meinungsstreit in der obergerichtlichen Rechtsprechung.

Nach der einen Auffassung ist eine solche bereits grundsätzlich nicht möglich. Die für die sofortige Beschwerde notwendige Beschwer falle nach Einstellung des Verfahrens aufgrund prozessualer Überholung weg (OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020, 2 Ws 112/20, juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2021, 1 Ws 12/21, juris, LG Berlin, Beschluss vom 25.01.2021, 511 Qs 3/21, BeckRS 2021, 3090, LG Osnabrück, Beschluss vom 16.11.2020, 1 Qs 47/20, juris).

Demgegenüber wird die Auffassung vertreten, dass wegen der Reform der §§ 141 ff. StPO aufgrund der zugrunde liegenden Richtlinie 2016/1919/ EU ein zwischenzeitlicher Wegfall des konkreten Verteidigungsbedürfnisses einer (nachträglichen) Bestellung eines Pflichtverteidigers jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn trotz Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO über den rechtzeitig gestellten Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung aus justizinternen Gründen nicht entschieden worden sei bzw. die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren habe (vgl. etwa OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020, Ws 962/20,Ws 963/20, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 29.04.2021, 1 Ws 260/21, juris; LG Flensburg, Beschluss vom 09.12.2020, II Qs 43/20, juris; LG Bochum, Beschluss vom 18.09.2020, 11-10 Qs 6/20, juris; LG Magdeburg, Beschluss vom 20.02.2020, 29 Qs 2/20-, juris; LG Hechingen, Beschluss vom 20.05.2020, 3 Qs 35/20, juris; LG Bonn, Beschluss vom 28.04.2020, 21 Qs-225 Js 2164/19-25/20, juris; zweifelnd: Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Aufl., § 142, Rn. 20).

Diesen Entscheidungen wird entgegengehalten, dass durch die Reform des Rechts der Pflichtverteidigung gerade kein Systemwechsel erfolgt sei. Die Bereitstellung finanzieller Mittel für den Betroffenen sei auch nach der Richtlinie nur vorgesehen, wenn dies „im Interesse der Rechtspflege erforderlich" ist, was jedoch nach Erledigung des Verfahrens nicht mehr der Fall sei. Die Richtlinie sieht gerade nicht vor, einen Beschuldigten nachträglich in jedweder Phase des Verfahrens von den Kosten der Verteidigung frei zu halten. Eine Bestellung eines Pflichtverteidigers dient nicht dem Kosteninteresse des Betroffenen oder des Verteidigers, sondern allein dem Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Betroffener in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhalte und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet sei (BGH, NStZ-RR 2009, 348). Zudem ist eine (nachträgliche) Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach Einstellung des Verfahrens auf etwas Unmögliches gerichtet, weil die Mitwirkung des Verteidigers zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist.

Die Kammer vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass in Ausnahmefällen eine nachträgliche Bestellung möglich ist. Nach der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung ist gem. § 141 Abs. 1 StPO bei entsprechender Antragsstellung unverzüglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen. Unverzüglich heißt dabei jedoch nicht sofort, sondern ohne eine sachlich begründete Verzögerung. Sie muss jedenfalls noch vor einer Vernehmung oder Gegenüberstellung erfolgen (vgl. § 141 Abs. 1 S. 2 StPO). Die Kammer hält im Regelfall eine Frist von etwa einem Monat für eine solche, bei der man noch von einer Unverzüglichkeit ausgehen kann. Die Entscheidung über den weiteren Verfahrensgang, also etwa darüber, ob ein Verfahren eingestellt werden kann und soll, bedarf gewisser Vorbereitung und Überlegung, die der Staatsanwaltschaft nicht verwehrt sein darf.

Es kann jedoch nicht verkannt werden, dass die mit der Reform beabsichtige effektive Gewährleistung des Rechts der notwendigen Verteidigung lediglich dann eintritt, wenn die Entscheidung über die beantragte Pflichtverteidigung in angemessener Zeit nach Antragstellung geklärt wird. Würde man auch weiter eine nachträgliche Bestellung grundsätzlich als nicht möglich ansehen, so ginge die dargestellte Neuregelung ins Leere.

Die Kammer teilt mithin im Ansatz den obigen Grundsatz, dass eine nachträgliche Bestellung regelmäßig nicht in Betracht kommt. Eine Durchbrechung dieses Grundsatzes kommt jedoch bei einer wesentlichen Verzögerung des vorgesehenen Geschehensablaufs in Betracht.

Eine solche liegt im konkreten Fall unter Berücksichtigung aller Umstände vor.

Der Antrag wurde am 20.09.2023 bei dem Amtsgericht gestellt. Dieses hat daraufhin die Staatsanwaltschaft unter Hinweis auf den Beiordnungsantrag mehrfach aufgefordert, die Akte zur Entscheidung über diesen zu übersenden. Erst mit Verfügung vom 07.11.2023, mithin knapp sieben Wochen später, wurde die Staatsanwaltschaft tätig und stellte das Verfahren gem. § 154 Abs. 1 StPO ein. Gewichtige Gründe für diese Sachbehandlung sind weder ersichtlich noch vorgetragen. Würde man bei einer derart zögerlichen Sachbehandlung eine rückwirkende Bestellung als nicht möglich ansehen, so würde das Gebot des § 141 Abs. 1 StPO damit vollständig ins Leere gehen.

Damit ist die Beschwerde erfolgreich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 StPO analog.


Einsender: RA D. Trautwein, Bitterfeld-Wolfen

Anmerkung:


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