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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Unfähigkeit der Selbstverteidigung, Betreuer, rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Hagen, Beschl. v. 19.12.2023 - 43 Qs 43/23

Eigener Leitsatz:

1. Der Angeklagte kann sich nicht selbst verteidigen kann, wenn gegenüber Behörden und somit auch in einem Strafverfahren die Voraussetzungen für eine Betreuerbestellung gegeben sind.
2. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist ggf. ausnahmsweise zulässig.


Landgericht Hagen

Beschluss

In der Strafsache
gegen pp.

Verteidiger: Rechtsanwalt Dr. Ralf Bleicher aus Dortmund,

wegen Verdachts des Diebstahls

sofortige Beschwerde gegen Beiordnung eines Pflichtverteidigers

hat die 3. große Strafkammer des Landgerichts Hagen auf die sofortige Beschwerde des früheren Angeklagten vom 16. August 2023 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Lüdenscheid vom 10. August 2023 durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, den Richter am Landgericht und die Richterin am Landgericht am 19. Dezember 2023 beschlossen:

Der Beschluss des Amtsgerichts Lüdenscheid vom 10. August 2023 (54 Ds 4/23) wird teilweise aufgehoben und dahingehend neu gefasst, dass dem früheren Angeklagten Rechtsanwalt pp, aus Dortmund ohne Einschränkung als Pflichtverteidiger beigeordnet wird.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem früheren Angeklagten darin entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:

In der Anklageschrift vom 03.01.2023 legte die Staatsanwaltschaft Hagen dem früheren Angeklagten zur Last, am 15.11.2022 aus einem Lebensmittelmarkt in Lüdenscheid eine Packung Tiefkühlpizza im Wert von 3,19 € entwendet zu haben. In ihrer Übersendungsverfügung an das Amtsgericht Lüdenscheid beantragte die Staatsanwaltschaft, dem Beschwerdeführer einen Pflichtverteidiger zu bestellen. Das Amtsgericht gab daraufhin dem Beschwerdeführer zusammen mit der Zustellung der Anklageschrift Gelegenheit, einen Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin seines Vertrauens zu benennen. Nachdem hierzu keine Stellungnahme eingegangen war, bestellte das Amtsgericht mit Beschluss vom 15.05.2023 dem Beschwerdeführer Rechtsanwalt 111. aus Lüdenscheid als Pflichtverteidiger.

Mit Schriftsatz vom 06.07.2023 meldete sich Rechtsanwalt pp. als Verteidiger für den Beschwerdeführer. Mit weiterem Schriftsatz vom 03.08.2023 teilte er mit, er vertrete diesen bereits seit etwa 20 Jahren in dessen strafrechtlichen Angelegenheiten. Der Beschwerdeführer stehe unter Betreuung. Diese umfasse u.a. den Aufgabenkreis Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern. Es werde daher die Entpflichtung von Rechtsanwalt pp. und die Bestellung von Rechtsanwalt pp. zum neuen Pflichtverteidiger beantragt.

Auf telefonische Nachfrage des Amtsgerichts erklärten sich Rechtsanwalt pp. und die Staatsanwaltschaft Hagen jeweils mit einem Pflichtverteidigerwechsel einverstanden, letztere aber nur, soweit der Staatskasse durch die Umbestellung keine zusätzlichen Kosten entstünden.

Das Amtsgericht Lüdenscheid hob daraufhin mit Beschluss vom 10.08.2023 (54 Ds
4/23) die Bestellung des Rechtsanwalts pp. auf und bestellte dem Beschwerdeführer Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger, dies jedoch „mit der Maßgabe, dass der Staatskasse durch die Umbestellung keine zusätzlichen Kosten entstehen dürfen".

Im Hauptverhandlungstermin vom 18.08.2023 wurde das Verfahren gemäß § 153 Abs. 2 StPO eingestellt. Die Kosten des Verfahrens wurden der Landeskasse, seine eigenen notwendigen Auslagen dem Beschwerdeführer auferlegt.

Mit seiner am 18.08.2023 beim Amtsgericht eingegangenen sofortigen Beschwerde vom 16.08.2023 wendet sich der frühere Angeklagte gegen den Beiordnungsbeschluss des Amtsgerichts vom 10.08.2023, soweit die Bestellung von Rechtsanwalt pp. darin mit der Maßgabe erfolgte, dass der Staatskasse durch die Umbestellung keine zusätzlichen Kosten entstehen dürfen. Zur Begründung trägt er vor, seine ordnungsgemäße Anhörung zur von der Staatsanwaltschaft beantragten Pflichtverteidigerbestellung hätte über seinen Betreuer erfolgen müssen. Dies sei versäumt worden.

Die Staatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 24.10.2023 beantragt, die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Sie ist auch in der Sache begründet.

Die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Verteidigers gemäß § 140 Abs. 2 S. 1 StPO lagen hier - wie seitens der Staatsanwaltschaft in ihrer Übersendungsverfügung vom 03.01.2023 beantragt - bereits im Zeitpunkt der Zustellung der Anklageschrift vor.

Nach § 140 Abs. 2 StPO - ein anderer Beiordnungsgrund ist hier auszuschließen -bestellt der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen einen Pflichtverteidiger, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. Hier war hinsichtlich des Beschwerdeführers die Bestellung eines Pflichtverteidigers geboten, da er ausweislich der Bestellungsurkunde des Amtsgerichts Lüdenscheid vom 06.12.2022 (19 XVII 598/22 H) gegenüber Behörden und somit auch in einem Strafverfahren der geeigneten Vertretung bedurfte.

Gemäß § 142 Abs. 5 S. 1 StPO ist dem Beschuldigten vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers Gelegenheit zu geben, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger zu bezeichnen. Ein vom Beschuldigten innerhalb der Frist bezeichneter Verteidiger ist nach § 142 Abs. 5 S. 2 StPO zu bestellen, wenn dem kein wichtiger Grund entgegensteht.

Diese Anhörung des früheren Angeklagten zur Person des ihm beizuordnenden Pflichtverteidigers hätte hier über den für ihn für den betreffenden Aufgabenkreis bestellten Betreuer erfolgen müssen. Dies hat das Amtsgericht, wohl auch in Unkenntnis der eingerichteten Betreuung, versäumt.

Zwar hat das Amtsgericht unmittelbar, nachdem es durch die Vorlage der Bestellungsurkunde Kenntnis von der Betreuung erlangt hatte, durch den Umbestellungsbeschluss vom 10.08.2023 entsprechend § 142 Abs. 5 S. 2 StPO den vom früheren Angeklagten bezeichneten Verteidiger beigeordnet, allerdings nur „mit der Maßgabe, dass der Staatskasse durch die Umbestellung keine zusätzlichen Kosten entstehen dürfen".

Mit dieser Einschränkung orientierte sich das Amtsgericht erkennbar an dem von der Rechtsprechung entwickelten Grundsatz, dass eine nachträgliche rückwirkende Be-stellung eines Verteidigers nicht mehr möglich ist, sobald einzelne Gebührenansprüche des Pflichtverteidigers auslösende Teile des Strafverfahrens bereits abgeschlossen sind (vgl. etwa OLG Hamm, Beschluss vom 24.10.2012,111-3 Ws 215/12, m. weit. Nachw.).

Die Strafprozessordnung enthält zwar keine ausdrückliche Regelung, bis zu welchem Zeitpunkt ein Verteidiger bestellt werden kann. Aus dem Gesamtzusammenhang der §§ 140 ff. StPO ergibt sich aber, dass die Bestellung eines Verteidigers allein dem Zweck dient, das Verfahren justizförmig und rechtsstaatlich zu führen, wenn in bestimmten schwerwiegenden Fällen der Beschuldigte bzw. der Angeklagte eines rechtskundigen Beistands bedarf. Die Beiordnung erfolgt damit allein im öffentlichen Interesse und nicht im Kosteninteresse des jeweils Betroffenen. Daraus folgt weiter, dass ein Verteidiger im Laufe eines Verfahrens nur so lange bestellt werden kann, wie er überhaupt noch eine Tätigkeit entfalten kann. Etwaige bisherige Tätigkeiten hat der Verteidiger in solchen Fällen als Wahlverteidiger erbracht. Eine nachträgliche Bestellung würde mithin nur noch dem verfahrensfremden Zweck dienen, eine bereits abgeschlossene Tätigkeit in diejenige eines bestellten Verteidigers umzuwidmen, um ihm einen Vergütungsanspruch gegen die Landeskasse zu verschaffen (vgl. OLG Hamm, a.a.O.).

Hier war jedoch ausnahmsweise die uneingeschränkte rückwirkende Bestellung des vom früheren Angeklagten gewünschten Pflichtverteidigers geboten. Wäre nämlich bereits im Rahmen der Zustellung der Anklageschrift die Anhörung des Beschwerde-führers zur Person des für ihn zu bestellenden Verteidigers ordnungsgemäß über dessen Betreuer erfolgt, hätte im Lichte des Umstandes, dass Rechtsanwalt pp. den Beschwerdeführer bereits seit vielen Jahren in dessen strafrechtlichen An-gelegenheiten vertreten hat, dieser auch im vorliegenden Verfahren unmittelbar dessen Beiordnung beantragt.

Der mit der sofortigen Beschwerde nur hinsichtlich der vorgenannten Einschränkung angefochtene Beschluss des Amtsgerichts Lüdenscheid vom 10.08.2023 war daher antragsgemäß im vorgenannten Sinne neu zu fassen.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1
StPO.


Einsender: RA Dr. R. Bleicher, Dortmund

Anmerkung:


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