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Entscheidungen

StGB/Nebengebiete

Landfriedensbruch, Strafzumessung

Gericht / Entscheidungsdatum: BayObLG, Beschl. v. 22.11.2023 - 202 StRR 86/23

Leitsatz des Gerichts:

1. Nach § 125 Abs. 1 StGB macht sich nur derjenige strafbar, der sich an den Gewalttätigkeiten bzw. Bedrohungen als Täter oder Teilnehmer aktiv beteiligt; eine bloße Anwesenheit am Ort des Tatgeschehens genügt hierfür nicht.
2. Die strafschärfenden Wertungen des Tatgerichts, dass die Tat aus „absolut nichtigem Anlass“ begangen wurde und „keine Provokation“ seitens der Opfer vorangegangen war, sind rechtsfehlerhaft, weil hierdurch dem Angeklagten in unzulässiger Weise das Fehlen eines Strafmilderungsgrund angelastet wird.
3. Generalpräventive Erwägungen können – im Rahmen der Schuldangemessenheit – die Verhängung einer höheren als der sonst angemessenen Strafe nur rechtfertigen, wenn eine gemeinschaftsgefährliche, außergewöhnliche Zunahme von Straftaten, wie sie zur Aburteilung stehen, festgestellt wird, wobei regelmäßig erforderlich ist, dass das Tatgericht dies unter Darstellung statistischen Materials belegt.


In pp.

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aschaffenburg vom 5. Juli 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts Aschaffenburg zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht – Jugendschöffengericht als Jugendschutzgericht – Aschaffenburg hat den Angeklagten am 28.03.2023 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei tateinheitlichen Fällen, sexuellen Missbrauchs von Kindern, sexuellen Missbrauchs von Kindern ohne Körperkontakt mit dem Kind in zwei tateinheitlichen Fällen sowie Besitzes kinderpornographischer Schriften in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Besitz jugendpornographischer Schriften, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, in der Berufungshauptverhandlung mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung des Angeklagten hat das Landgericht – Jugendkammer als Jugendschutzkammer – Aschaffenburg, welches die Berufungsbeschränkung insgesamt für wirksam erachtet hat, mit Urteil vom 05.07.2023 als unbegründet verworfen. Mit seiner gegen das Berufungsurteil gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts. Mit Zuleitungsschrift vom 22.09.2023 beantragt die Generalstaatsanwaltschaft, die Revision des Angeklagten durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die statthafte (§ 333 StPO) und auch im Übrigen zulässige (§ 341 Abs. 1, §§ 344, 345 StPO), auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils (§ 349 Abs. 4 StPO) und zur Zurückverweisung der Sache.

1. Im Fall II. 2.b) des amtsgerichtlichen Urteils ist das Landgericht zu Unrecht von der Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch gemäß § 318 Satz 1 StPO ausgegangen und hat deshalb keine eigenen Feststellungen zum Schuldspruch getroffen. Aufgrund der Sachrüge ist dies vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen, weil das Fehlen erforderlicher Feststellungen durch die Berufungskammer einen sachlich-rechtlichen Mangel des Berufungsurteils darstellt (st.Rspr., vgl. zuletzt BayObLG, Beschl. v. 12.10.2023 – 202 StRR 72/23 bei juris).

a) Zwar ist die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch grundsätzlich zulässig. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn die dem Schuldspruch im angefochtenen Urteil zugrunde liegenden Feststellungen tatsächlicher oder rechtlicher Art unklar, lückenhaft, widersprüchlich oder derart knapp sind, dass sich Art und Umfang der Schuld nicht in dem zur Überprüfung des Strafausspruchs notwendigen Maße bestimmen lassen und die erstinstanzlichen Feststellungen deshalb keine ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Berufungsgerichts sein können (st.Rspr., vgl. BGH, Beschl. v. 27.04.2017 - 4 StR 547/16 = BGHSt 62, 155 = NJW 2017, 2482 = NZV 2017, 433 = StraFo 2017, 280; Urt. v. 02.12.2015 - 2 StR 258/15 = StV 2017, 314 = BeckRS 2016, 3826), oder wenn unklar bleibt, ob sich der Angeklagte überhaupt strafbar gemacht hat (st.Rspr., vgl. etwa BGH, Urt. v. 06.08.2014 – 2 StR 60/14 = NStZ 2014, 635 und Urt. v. 19.03.2013 – 1 StR 318/12 = wistra 2013, 463; BayObLG, Beschl. v. 03.07.2023 – 202 StRR 34/23 bei juris = BeckRS 2023, 17751 u. 18.03.2021 - 202 StRR 19/21 bei juris = BeckRS 2021, 14721; BayObLG a.a.O.).

b) Derartige zur Unwirksamkeit der Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch führende Defizite haften dem erstinstanzlichen Urteil hinsichtlich des Schuldspruchs im Fall II. 2.b) der Feststellungen an, weil schon unklar bleibt, ob sich der Angeklagte insoweit wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes gemäß § 176 Abs. 1 StGB strafbar gemacht hat.

aa) Die tatrichterlichen Feststellungen des Ersturteils erschöpfen sich darin, dass der Angeklagte, der gerade in seinem Pkw saß, dem im Tatzeitpunkt 10-jährigen Kind, dessen Alter dem Angeklagten bekannt war, „wissentlich und willentlich an die rechte Brust“ griff.

bb) Aufgrund dieser knappen Feststellungen bleibt offen, ob der Angeklagte den Tatbestand des § 176 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllt hat.

(1) Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung können Berührungen anderer Körperstellen als des primären Geschlechtsorgans nicht ohne weiteres als sexuelle Handlungen „von einiger Erheblichkeit“ im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB angesehen werden. Insbesondere reichen kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen unbedeutende Berührungen, darunter auch der bekleideten Brust, dafür grundsätzlich nicht aus (BGH, Beschl. v. 06.05.2020 – 2 StR 543/19 bei juris = StV 2021, 307 = BGHR StGB § 184h Nr 1 Erheblichkeit 4 = BeckRS 2020, 12562; 29.01.2019 – 2 StR 490/18 bei juris = StV 2019, 550 = BeckRS 2019, 4612; Urt. v. 21.09.2016 – 2 StR 558/15 = NStZ 2017, 528 = NStZ-RR 2017, 43 = BGHR StGB § 184h Nr 1 = BeckRS 2016, 20610; Beschl. v. 08.07.2014 – 2 StR 175/14 bei juris = StV 2014, 733 [Ls] = BeckRS 2014, 16722; 23.07.2013 – 1 StR 204/13 bei juris = NStZ 2013, 708 = BeckRS 2013, 16713).

(2) Zur Einschätzung der Erheblichkeit sind nähere Urteilsfeststellungen insbesondere zu Art, Dauer und Intensität der Berührungen erforderlich, die einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das betroffene Rechtsgut bedürfen. Aufgrund der unzulänglichen Darstellungen des Tatgeschehens im amtsgerichtlichen Urteil ist eine solche Beurteilung jedoch nicht möglich ist.

2. Zwar ist die Beschränkung der Berufung in den übrigen Fällen wirksam. Allerdings sind die Strafzumessungserwägungen des Landgerichts insoweit rechtsfehlerhaft.

a) Die Jugendkammer hat im Hinblick auf die Missbrauchsvorwürfe zum Nachteil des Kindes E. im Fall II. 2.a) ausdrücklich straferschwerend gewertet, dass der Angeklagte das besondere Vertrauensverhältnis zu dem Kind und deren Mutter ausgenutzt habe. Das Bestehen eines besonderen Vertrauensverhältnisses und seine Ausnutzung wird durch die getroffenen Feststellungen indes nicht belegt. Ein besonderes Vertrauensverhältnis ergibt sich weder aus den Feststellungen des Amtsgerichts, noch hat das Landgericht hierzu eigene Feststellungen getroffen. Zwar geht das Landgericht in seinem Urteil davon aus, dass dem Angeklagten das Kind E. „anvertraut“ worden sei. Diese Wertung wird jedoch nicht durch konkrete Tatsachen untermauert. Im Gegenteil erscheint die Annahme eines Vertrauensverhältnisses umso unwahrscheinlicher, als das Landgericht dem Angeklagten ebenfalls straferschwerend anlastet, er habe sich von der Tatbegehung auch nicht dadurch abhalten lassen, dass schon anlässlich eines im Jahre 2020 laufenden familiengerichtlichen Verfahrens der Mutter des Kindes nahegelegt worden sei, den Kontakt zum Angeklagten abzubrechen.

b) Gleiches gilt im Ergebnis für die weitere – offenbar die Fälle II. 2.a) und 2.b) betreffende – strafschärfende Erwägung, wonach der Angeklagte von dem Vertrauen, das ihm die nahezu gleichaltrigen Kinder L. und S. aufgrund ihrer Freundschaft zu dem Kind E. entgegengebracht haben, „profitiert“ habe. Unabhängig davon, dass auch hier jegliche Feststellungen zu einem besonderen Vertrauensverhältnis und deren Ausnutzung durch den Angeklagten fehlen, lässt die Wendung, der Angeklagte habe davon „profitiert“, besorgen, dass das Landgericht dem Angeklagten unter Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB die Tatbegehung als solche straferschwerend angelastet hat.

c) Soweit das Landgericht dem Angeklagten straferschwerend anlastet, er habe sich nicht schon „durch das im schon Jahre 2020 laufende familiengerichtliche Verfahren, in dem seine problematische Beziehung“ zur Familie des Kindes E. thematisiert und der Mutter des Kindes nahegelegt worden sei, den Kontakt zum Angeklagten abzubrechen, von der Tatbegehung abhalten lassen, fehlt in den Urteilsgründen auch hierzu ein beweiswürdigender, die Feststellungen tragender Beleg.

d) Nachdem die Jugendkammer diesen Umstand auch für die Fälle des Schuldspruchs wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Besitz jugendpornographischer Schriften, strafschärfend gewertet hat, können die Einzelstrafen für sämtliche verbleibenden Taten keinen Bestand haben.

III.

Aufgrund der aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mängel ist das angefochtene Urteil auf die Revision des Angeklagten mit den Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO) und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Aschaffenburg zurückzuverweisen.


Einsender: RiBayObLG Dr. G. Gieg, Bamberg

Anmerkung:


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