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Entscheidungen

OWi

Bußgeldverfahren, kostenträchtige Beweiserhebungen, rechtliches Gehör, falsche Sachbehandlung, Nichterhebung

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Stuttgart, Beschl. v. 26.10.2023 - 4 Ws 368/23

Eigener Leitsatz:

Dem Betroffenen ist im (gerichtlichen) Bußgeldverfahren vor der Anordnung kostenträchtiger Beweiserhebungen rechtliches Gehör zu gewähren. Die Nichtgewährung ist daher als offensichtlicher Verfahrensverstoß zu behandeln, der die Nichterhebung der durch die Beweiserhebung entstandenen Verfahrenskosten zur Folge hat.


4 Ws 368/23

Oberlandesgericht Stuttgart

4. STRAFSENAT

Beschluss

In dem Bußgeldverfahren
gegen pp.

wegen Verkehrsordnungswidrigkeit

hat das Oberlandesgericht Stuttgart - 4. Strafsenat - am 26. Oktober 2023 beschlossen:

1. Auf die weitere Beschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts - 1. Strafkammer - Ravensburg vom 7. August 2023
aufgehoben.
2. Die Kostenrechnung der Landesoberkasse Baden-Württemberg vom 9. Februar
2023 (Kassenzeichen pp. wird dahingehend abgeändert, dass Kosten in Höhe von 20,50 Euro erhoben werden.
3. Die Entscheidung ergeht gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.

Gründe:

I.

1. Das Regierungspräsidium Karlsruhe - Zentrale Bußgeldstelle - erließ am 20. Juni 2022 einen Bußgeldbescheid gegen den Betroffenen wegen Nichteinhaltung des erforderlichen Abstands als Führer eines Pkw, begangen am 13. April 2022 auf der Bundesautobahn 96 auf Gemarkung Leutkirch in Fahrtrichtung Lindau, und setzte eine Geldbuße in Höhe von 75 Euro fest. Gegen den Bußgeldbescheid legte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 28. Juni 2022 form- und fristgerecht Einspruch ein und nahm zur Begründung auf die von dem Betroffenen im Anhörungsverfahren mit Schreiben vom 8. Juni 2022 abgegebene Stellungnahme Bezug, in der er den ihm vorgeworfenen Abstandsverstoß erklärte und aufgrund von ihm geltend gemachter Unsicherheiten bei dessen Feststellung die Reduzierung der Geldbuße auf 55 Euro anregte.

2. Nach Eingang der Akten beim Amtsgericht Leutkirch im Allgäu am 22. August 2022 bestimmte der Referatsrichter mit Verfügung vom 21. Dezember 2022 Termin zur Hauptverhandlung auf den 9. Februar 2023 und ordnete das persönliche Erscheinen des Betroffenen an. Mit Schriftsatz vom 16. Januar 2023 bat der Betroffene um Prüfung einer Entscheidung im Beschlussverfahren und der Verhängung einer Geldbuße von 55 Euro. Zudem verwies er darauf, dass der Abstandsunterschreitung ein Überholmanöver eines Lkws vorausgegangen sei, durch das die nachfolgenden Fahrzeuge „aufgelaufen" seien. Mit Verfügung vom 19. Januar 2023 ordnete der Referatsrichter die Ladung des Sachverständigen Dipl.-Ing. pp. mit dem Beweisthema „vorwerfbarer Abstandsverstoß aus technischer Sicht" zu dem bestimmten Hauptverhandlungstermin sowie die Ausfolgung der Akten an diesen an.

3. Mit Schreiben vom 31. Januar 2023, das am selben Tag beim Amtsgericht Leutkirch im Allgäu einging, nahm der Betroffene den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid Ziffer I. 1. zurück. Bereits vor dessen Eingang hatte der Referatsrichter den Sachverständigen mit E-Mailnachricht vom selben Tag gebeten, die Bearbeitung des Gutachtenauftrags einzustellen, da der Betroffene die Einspruchsrücknahme in einem zuvor geführten Telefonat angekündigt hatte. Am 10. Februar 2023 bezahlte der Betroffene den im Bußgeldbescheid Ziffer I. 1. festgesetzten Gesamtbetrag.

4. Mit Kostenrechnung der Landesoberkasse Baden-Württemberg vom 9. Februar 2023 (Kassenzeichen pp.) wurde der Betroffene unter anderem zur Zahlung der von dem Sachverständigen mit Rechnung vom 1. Februar 2023 geltend gemachten Kosten in Höhe von 2.025,98 Euro aufgefordert. Hiergegen legte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 20. Februar 2023 Erinnerung ein und ergänzte deren Begründung mit Schriftsatz vom 5. Mai 2023. Mit Beschluss vom 1. Juni 2023 wies das Amtsgericht Leutkirch im Allgäu die Erinnerung zurück, woraufhin der Betroffene mit Verteidigerschriftsatz vom 7. Juni 2023 Beschwerde einlegte, der das Amtsgericht Leutkirch im Allgäu mit Beschluss vom 12. Juli 2023 nicht abhalf.

5. Mit Beschluss vom 7. August 2023 verwarf das Landgericht - 1. Strafkammer -Ravensburg die Beschwerde des Betroffenen als unbegründet und ließ die weitere Beschwerde zu. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Betroffene mit seiner mit Verteidigerschriftsatz vom 15. August 2023 eingelegten „Rechtsbeschwerde". Das Landgericht - 1. Strafkammer - Ravensburg hat das Rechtsmittel des Betroffenen als weitere Beschwerde ausgelegt und dieser mit Beschluss vom 28. August 2023 nicht abgeholfen.

II.

1. a) Die „Rechtsbeschwerde" des Betroffenen war als weitere Beschwerde auszulegen, da diese das statthafte Rechtsmittel (§ 66 Abs. 4 Satz 1 GKG) darstellt.

b) Die weitere Beschwerde ist zulässig. Sie richtet sich gegen eine Entscheidung des Landgerichts als Beschwerdegericht gemäß § 66 Abs. 2 GKG und wurde durch dieses in der angefochtenen Entscheidung zugelassen. Der Beschwerdeführer hat zudem statthafte Einwendungen geltend gemacht. Gemäß § 66 Abs. 4 Satz 2 GKG kann die weitere Beschwerde nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung auf einer Verletzung des Rechts beruht, wobei die §§ 546, 547 ZPO entsprechend gelten. Der Beschwerdeführer muss daher geltend machen, dass ein absoluter Revisionsgrund im Sinne des § 547 ZPO vorliegt oder die Entscheidung aufgrund einer falschen Anwendung von Rechtsnormen oder Nichtanwendung von Rechtsnormen im Ergebnis fehlerhaft ist (vgl. Laube in BeckOK Kostenrecht, 42. Edition, § 66 GKG Rn. 284 mwN). Der Betroffene macht geltend, das Amtsgericht habe den Sachverständigen entgegen einer jedenfalls im vorliegenden Fall bestehenden Anhörungspflicht ohne vorherige Anhörung des Betroffenen bestellt, macht mithin einen Verstoß gegen den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör (§ 46 Abs. 1 OWG in Verbindung mit § 33 Abs. 3 StPO) und damit einen Rechtsverstoß geltend.

2. Die weitere Beschwerde hat in der Sache Erfolg.

a) Die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung ist kraft Gesetzes (§ 66 Abs. 4 Satz 2 GKG) darauf beschränkt, ob der Entscheidung ein Rechtsfehler zugrunde liegt. Eine Prüfung der Zweckmäßigkeit der Entscheidung findet nicht statt. Danach war ausschließlich zu prüfen, ob die vom Betroffenen beanstandeten Sachverständigenkosten aufgrund fehlerhafter Rechtsanwendung entstanden sind.

b) Das Gericht ist in Bußgeldsachen gemäß § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 OWiG berechtigt, nach Eingang der Akten einzelne Beweiserhebungen anzuordnen, worunter auch die erstmalige Anordnung der Einholung eines Sachverständigengutachtens fällt (vgl. Senge in KK-OWiG, 5. Auflage, § 71 Rn. 26). Eine Gewährung rechtlichen Gehörs vor der Beweiserhebung ist aufgrund dieser Vorschrift grundsätzlich nicht veranlasst (vgl. Senge in KK-OWiG aaO Rn. 28). Umstritten ist jedoch, ob dem Betroffenen vor der Anordnung kostenträchtiger Beweiserhebungen ausnahmsweise rechtliches Gehör zu gewähren ist.

aa) Nach teilweise vertretener Auffassung ist dem Betroffenen im (gerichtlichen) Bußgeldverfahren vor der Anordnung kostenträchtiger Beweiserhebungen rechtliches Gehör zu gewähren und die Nichtgewährung daher als offensichtlicher Verfahrensverstoß zu behandeln, der die Nichterhebung der durch die Beweiserhebung entstandenen Verfahrenskosten zur Folge habe (vgl. LG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 17. Mai 1993 - III Qs 27/93, MDR 1993, 911; LG Baden-Baden, Beschluss vom 17. Februar 1994 ¬1 Qs 32/94, juris; LG Leipzig, Beschluss vom 04.08.2009 - 5 Qs 48/09, BeckRS 2009, 88651; LG Stuttgart, Beschluss vom 14. September 2021 - 20 Qs 16/21, DAR 2022, 179; Krumm in Gassner/Seith, OWiG, 2. Auflage, § 71 Rn. 55; Toussaint, Kostenrecht, 53. Auflage, § 21 Rn. 21). Die Nichtgewährung rechtlichen Gehörs wird insoweit als Verstoß gegen den Rechtsgedanken des § 222 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG angesehen.

bb) Nach der Gegenauffassung muss das Gericht den Betroffenen im Bußgeldverfahren vor der Beauftragung eines Sachverständigen nicht ausdrücklich anhören und auf die voraussichtlichen Kosten des Gutachtens hinweisen. Ein allgemeiner Grundsatz, dass kostenverursachende Verfahrensmaßnahmen erst dann erfolgen dürfen, wenn der Betroffene hierüber informiert wurde, existiere nicht (vgl. LG Berlin, Beschluss vom 12. Juli 2016 - 501 Qs 84/15, BeckRS 2016, 106787; LG Berlin, Beschluss vom 20. Oktober 2016 - 512 Qs 43/16, BeckRS 2016, 114016; Hettenbach in BeckOK OWiG, 39. Edition, § 71 Rn. 31). Der Rechtsgedanke des § 222 StPO begründe im Bußgeldverfahren keine Pflicht zur Anhörung des Betroffenen vor Beauftragung eines Sachverständigen, da diese Norm den Prozessbeteiligten die sachgemäße Vorbereitung der Hauptverhandlung ermöglichen, jedoch die Amtsaufklärungspflicht des Gerichts nicht einschränken und einzelne Beteiligte auch nicht vor einem Kostenrisiko bewahren solle (vgl. LG Berlin, Beschluss vom 12. Juli 2016 - 501 Qs 84/15, BeckRS 2016, 106787). Dieser Auffassung hat sich die Beschwerdekammer in der angefochtenen Entscheidung angeschlossen.

cc) Der erstgenannten Ansicht ist zuzustimmen. Dem Betroffenen ist im Bußgeldverfahren vor der Anordnung kostenintensiver Beweiserhebungen, insbesondere von regelmäßig mit hohen Kosten verbundenen Sachverständigengutachten, rechtliches Gehör zu gewähren.

Im Bußgeldverfahren ist es dem Betroffenen - anders als im Strafverfahren - möglich, das Verfahren durch Rücknahme des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid jederzeit und ohne Zustimmung eines anderen Verfahrensbeteiligten zu beenden. Bei der Entscheidung über eine Einspruchsrücknahme sind für den Betroffenen im Wege einer Risikoabwägung unter Berücksichtigung der mit der Rechtsverfolgung möglicherweise verbundenen Kosten regelmäßig auch finanzielle Aspekte erheblich. Dies insbesondere, wenn durch den Bußgeldbescheid lediglich ein niedriges Bußgeld festgesetzt wurde, welches durch die aufgrund der beabsichtigten Beweiserhebung zu erwartenden Kosten erheblich überschritten würde.

Aufgrund des im Straf- und Bußgeldverfahren von Verfassungs wegen (Art. 103 Abs. 1 GG) anzuwendenden Grundsatzes der Gewährung rechtlichen Gehörs, der unter anderem in § 222 Abs. 1 Satz 1 StPO einfachgesetzlich im Strafprozessrecht geregelt wurde, ist dem Angeklagten beziehungsweise im Bußgeldverfahren dem Betroffenen rechtliches Gehör zu gewähren, um diesen in die Lage zu versetzen, seine prozessualen Rechte wahrzunehmen und sich gegen die ihm gemachten Vorwürfe verteidigen zu können.

Dem kann bei der Anordnung von Beweiserhebungen gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 1 OWiG unter Berücksichtigung der dargelegten Besonderheiten im Bußgeldverfahren nur durch die Gewährung rechtlichen Gehörs vor der Anordnung kostenintensiver Beweiserhebungen Rechnung getragen werden. Denn hierdurch wird dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet, sein Prozessverhalten unter Berücksichtigung des Kostenrisikos zu überprüfen und möglicherweise anzupassen. Dies kann nicht nur durch Rücknahme des Einspruchs, sondern auch durch eine Änderung der bisherigen Einlassung erfolgen, durch die die Beweiserhebung entbehrlich wird. Eine Differenzierung zwischen Fällen, in denen der Betroffene durch sein bisheriges Prozessverhalten Anlass zu der beabsichtigten Beweiserhebung gegeben hat, und solchen, in denen dies nicht der Fall ist, hat nicht zu erfolgen. Die Gewährung rechtlichen Gehörs nach der Beweiserhebung, die nach allgemeiner Meinung zu erfolgen hat (vgl. Senge in KK-OWiG, aaO, Rn. 33; Hettenbach in BeckOK-OWiG, aaO, Rn. 34; Krumm in Gassner/Seith, OWiG, aaO), ist in Fällen kostenintensiver Beweiserhebungen nicht ausreichend, da zu diesem Zeitpunkt bereits ein wesentlicher Teil der Kosten angefallen ist. Die Anhörung des Betroffenen vor der Anordnung einer kostenintensiven Beweiserhebung gebietet zudem auch die Fürsorgepflicht des Gerichts, da dem Betroffenen hierdurch - unabhängig davon, ob er verteidigt ist oder nicht - die Möglichkeit eröffnet ist, das Bußgeld erheblich übersteigende, für ihn überraschende Kosten abzuwenden oder aber bewusst in Kauf zu nehmen.

Zu einer Einschränkung der Amtsaufklärungspflicht führt die Gewährung rechtlichen Gehörs vor der Anordnung der kostenintensiven Beweiserhebung nicht, da das Gericht diese auch entgegen einer die Beweiserhebung ablehnenden Stellungnahme des Betroffenen anordnen kann.

c) Das Amtsgericht hätte dem Betroffenen danach vor der Anordnung des Sachverständigengutachtens rechtliches Gehör gewähren müssen, da bereits bei der Erteilung des Gutachtenauftrags absehbar war, dass die zu erwartenden Kosten das im Bußgeldbescheid festgesetzte Bußgeld wesentlich übersteigen würden; tatsächlich übersteigen die angefallenen Sachverständigenkosten das angeordnete Bußgeld um das 27-fache.

Die Nichtgewährung rechtlichen Gehörs stellt danach eine unrichtige Sachbehandlung im Sinne von § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG dar. Diese war für die Entstehung der Sachverständigenkosten auch kausal. Hierfür sprach zum einen das Prozessverhalten des Betroffenen bis zur Anordnung des Sachverständigengutachtens, da dieser zwar die Reduzierung der Geldbuße erstrebt, das Vorliegen eines von ihm begangenen Abstandsverstoßes jedoch nicht in Abrede gestellt hat. Zum anderen sprach die Rücknahme des Einspruchs unmittelbar nach Kenntniserlangung von der Beauftragung des Sachverständigen - nach dem Vortrag des Verteidigers im Schriftsatz vom 20. Februar 2023 erfuhr der Betroffene erst im Rahmen des Telefonats mit dem Referatsrichter am 31. Januar 2023 von der Beauftragung des Sachverständigen - dafür, dass die diesbezüglichen Kosten bei rechtzeitiger Gewährung rechtlichen Gehörs nicht angefallen wären. Der Rechtsverstoß war somit im Sinne von § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG kausal für die Entstehung der Sachverständigenkosten.

Die Kostenrechnung vom 9. Februar 2023 war daher um die geltend gemachten Sachverständigenkosten zu kürzen, so dass lediglich die Kosten für die Zurücknahme des Einspruchs in Höhe von 17 Euro sowie die Kosten für eine förmliche Zustellung in Höhe von 3,50 Euro, mithin insgesamt 20,50 Euro verbleiben.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 66 Abs. 8 GKG.


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