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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Halle, Beschl. v. 21.11.2023 - 3 Qs 109/23

Eigener Leitsatz:

Die nachträgliche/rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist zumindest dann zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1, 2 StPO vorlagen und die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.


LG Halle

3 Qs 109/23

Beschluss

In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.

wegen Verstoßes gegen das BtMG u.a.

hat die 3. Große Strafkammer des Landgerichts Halle als Beschwerdekammer durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, die Richterin am Landgericht und den Richter am 21.11.2023 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde des früheren Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Halle (Saale) vom 8.9.2023, Az.: 397 Gs 540 Js 6568/22 (179/22), aufgehoben.
Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bestellt.

Gründe

Die Staatsanwaltschaft Halle führte gegen den ehemaligen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren unter dem Aktenzeichen 540 Js 6568/22 u. a. wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz (Tatzeit 15.12.2021).

Mit Übersendung einer schriftlichen Beschuldigtenanhörung vom 17.1.2022 wurde dem ehemals Beschuldigten durch die ermittelnde Polizeibehörde der Tatvorwurf bekanntgegeben.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 3.2.2022, bei der Polizeiinspektion Halle (Saale) am selben Tage eingegangen, beantragte der ehemalige Beschuldigte, ihm Rechtsanwalt pp. aus Braunschweig als Pflichtverteidiger beizuordnen und diesen Antrag unverzüglich dem zuständigen Gericht vorzulegen. Daraufhin übersandte die Polizei die Akten — ohne weitere Ermittlungen in der Sache vorgenommen zu haben — am 9.2.2022 an die Staatsanwaltschaft Halle, wo sie am 16.2.2022 eingingen. Diese stellte das Ermittlungsverfahren mit Verfügung vom 22.2.2022 gemäß § 154 Abs. 1 StPO mit Rücksicht auf das ebenfalls gegen den ehemaligen Beschuldigten anhängige Strafverfahren (Az.: 540 Js 17049/21), innerhalb dessen mit Datum vom 7.12.2021 gegen ihn Anklage zur Großen Strafkammer des Landgerichts Halle erhoben worden war, vorläufig ein. Noch am gleichen Tage übersandte die Staatsanwaltschaft Halle den Antrag des ehemaligen Beschuldigten auf Pflichtverteidigerbestellung dem Amtsgericht Halle (Saale) zur Entscheidung und beantragte, den Antrag zurückzuweisen, da das Verfahren unmittelbar nach Eingang bei der Staatsanwaltschaft eingestellt worden sei, weshalb es nach Beendigung des Verfahrens keiner Bestellung eines Pflichtverteidigers zur Wahrung der Rechte des ehemals Beschuldigten mehr bedürfe; die Akten gingen beim Amtsgericht am 25.2.2022 ein.

Mit gleichfalls am 25.2.2022 beim Amtsgericht Halle (Saale) eingegangenen Schriftsatz vom selben Tage beantragte der ehemalige Beschuldigte die gerichtliche Entscheidung über seinen mit Schriftsatz vom 3.2.2022 gegenüber der Polizei gestellten Beiordnungsantrag und führte mit weiterem Schriftsatz vom 4.4.2022 zur Begründung aus, dass bei rechtzeitig gestelltem Beiordnungsantrag trotz der Einstellung des Verfahrens er (der Beschuldigte) und der Verteidiger so zu stellen seien, als wäre der Antrag rechtzeitig beschieden worden. Zudem könne eine unsachgemäße Bearbeitung des Verfahrens nach dem Willen des Gesetzgebers nicht zu Lasten des Beschuldigten gehen. Mit der gesetzlichen Neuregelung der §§ 140 ff. StPO habe der Gesetzgeber gerade keinen Ausschluss der Beiordnung für möglicherweise einzustellende Verfahren schaffen wollen, sondern durch die Vorverlagerung der Beiordnungszeitpunkte den besonderen Beschleunigungsbedarf für eine Pflichtverteidigerbestellung zum Ausdruck gebracht. Ferner würde der (mögliche zukünftige) Hinweis fehlgehen, dass die §§ 140 ff. StPO weder dem Kosteninteresse des Verteidigers noch des Beschuldigten dienen sollten, denn in diesem Falle würde Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK übergangen, welcher ausdrücklich den mittellosen Beschuldigten erwähne und damit auch das Kosteninteresse des Beschuldigten in seinen Schutzzweck aufnehme. Zudem würde die Versagung einer rückwirkenden Bestellung trotz rechtzeitigen Beiordnungsantrags dazu führen, dass der mittellose Beschuldigte auf die Verteidigung — trotz Vorliegens der Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung — verzichten müsste, also gerade nicht nur auf eine Kostenerstattung, da Rechtsanwälte in Kenntnis einer Versagung der rückwirkenden Bestellung in der "Endphase eines Verfahrens" nicht mehr zu Übernahme der Verteidigung mittelloser Beschuldigter bereit sein könnten. Im Übrigen hätten die Beiordnungsgründe des § 140 Abs. 2 StPO im hiesigen Verfahren zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen, da gegen den Beschuldigten zwei weitere Verfahren anhängig seien, bei denen der Verteidiger des Beschuldigten bereits als Pflichtverteidiger beigeordnet worden sei, weshalb das hiesige Verfahren wegen einer möglichen nachträglichen Gesamtstrafenbildung ab einem Jahr Freiheitsstrafe aufwärts nicht isoliert betrachtet werden könne.

Mit Beschluss vom 8.9.2023 (Az.: 397 Gs 540 Js 6568/22 [179/22]) — laut Vermerk der den Beschluss erlassenden Richterin vom 21.9.2023 sei die lange Bearbeitungsdauer darauf zurückzuführen, dass der vormals zuständige Kollege, welcher seit August 2023 für unabsehbare Zeit nicht mehr im Dienst sei, erhebliche Rückstände in seinem Dezernat hatte — wies das Amtsgericht Halle (Saale) den Antrag des ehemaligen Beschuldigten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers als unbegründet zurück. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, dass aufgrund der Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft Halle die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung nicht vorliegen würden und der ehemalige Beschuldigte insoweit keinen Anspruch auf eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung habe. Zwischen dem Eingang des Beiordnungsantrages bei der Polizei, der Einstellung des Ermittlungsverfahrens seitens der Staatsanwaltschaft und der unverzüglichen Weiterleitung der Ermittlungsakten an das Amtsgericht Halle (Saale) hätten lediglich drei Wochen gelegen, weshalb eine wesentliche Verzögerung bei der Bearbeitung des Antrages, welche (ausnahmsweise) die rückwirkende Beiordnung rechtfertigen würde, nicht gegeben sei. Im Übrigen habe wegen des einfach gelagerten Tatvorwurfs auch zum Zeitpunkt der Antragstellung schon kein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen.

Gegen diesen Beschluss, dem ehemaligen Beschuldigten am 13.9.2023 zugestellt, legte dieser mit anwaltlichem Schriftsatz vom 14.9.2023, eingegangen beim Amtsgericht Halle (Saale) am 18.9.2023, sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung führte er abermals aus, dass er den Beiordnungsantrag rechtzeitig vor Einstellung des Verfahrens gestellt habe und es aus Gründen des rechtsstaatlichen Verfahrens sowie aufgrund der Neuregelung der §§ 140 ff. StPO geboten sei, ihm einen Pflichtverteidiger (auch rückwirkend) zu bestellen.

Das Amtsgericht Halle (Saale) legte die sofortige Beschwerde über die Staatsanwaltschaft Halle, wobei diese beantragte, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen, dem Landgericht Halle zur Entscheidung vor.

II.

Die gemäß § 142 Abs. 7 S. 1 StPO i. V. m. § 311 Abs. 2 S. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen in zulässiger Weise, insbesondere fristgerecht, eingelegte sofortige Beschwerde des früheren Beschuldigten gegen die Zurückweisung des Antrags auf Pflichtverteidigerbestellung hat in der Sache Erfolg.

1. Da das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 22.2.2022 gemäß § 154 Abs. 1 StPO vorläufig eingestellt worden ist und auch nicht ersichtlich ist, dass es zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens kommen könnte, kommt lediglich eine rückwirkende Bestellung des Verteidigers als Pflichtverteidiger im Sinne des § 140 StPO in Betracht. Die in letzter Zeit in verschiedenen Beschwerdeverfahren vertretene (neue) Rechtsprechung der Kammer, dass eine rückwirkende Beiordnung — nach zwischenzeitlicher Einstellung des Verfahrens — immer dann vorzunehmen ist, wenn zum Zeitpunkt der Stellung des Beiordnungsantrags das Verfahren noch nicht eingestellt worden war und zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung vorlagen, und zwar auch ohne dass es im Zusammenhang mit der Verfahrenseinstellung zu Verzögerungen seitens der Ermittlungsbehörden gekommen sein müsste, braucht im hier vorliegenden Fall nicht "bemüht" zu werden. Denn selbst wenn man insoweit der herrschenden Meinung folgen würde, wonach auch nach neuer Rechtslage zu den §§ 140 ff. StPO seit dem 13.12.2019 unverändert gilt, dass eine rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers im Grundsatz unzulässig ist, da bei den §§ 140 ff. StPO stets die Sicherung einer ordnungsgemäßen Verteidigung eines Beschuldigten im Vordergrund steht und dieser nach der Einstellung eines Ermittlungsverfahrens keinerlei Bedeutung mehr zukommt (Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 23.09.2020 — 1 Ws 120/20 —, Rn. 6, zitiert nach juris), so ist es jedoch auch innerhalb dieser herrschenden Meinung anerkannt, dass von diesem Grundsatz jedenfalls dann ausnahmsweise abzusehen ist, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 1, 2 StPO vorlagen und die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte (vgl. LG Halle, Beschluss vom 06.08.2020 —10a Qs 62/20; LG Magdeburg, Beschluss vom 20.02.2020 - 29 Qs 2/20, BeckRS 2020, 2477 m. w. N.), bzw. wesentlich verzögert wurde (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020 — Ws 962/20 —, Rn. 25, zitiert nach juris). Denn der Gesetzgeber hat mit der Neuregelung des § 141 StPO zum Ausdruck gebracht, dass das Recht eines Beschuldigten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers bereits im Stadium des Ermittlungsverfahrens erheblich gestärkt werden soll. Dieses Ziel wollte man unter anderem dadurch erreichen, dass das Verfahren bis zur Bestellung eines Pflichtverteidigers maßgeblich beschleunigt werden sollte. Vor diesem Hintergrund sieht § 141 Abs. 1 S. 1 StPO vor, dass dem Beschuldigten beim Vorliegen der Voraussetzungen unverzüglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Dieser Zweck der Neuregelung des § 141 StPO spricht entscheidend dafür, dass auch eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung jedenfalls dann zu erfolgen hat, wenn eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag ohne zwingenden Grund nicht unverzüglich erfolgt ist. Nur so wird der durch die Möglichkeit fehlender Vergütung entstehenden Gefahr einer unzureichenden Verteidigung eines Beschuldigten im Ermittlungsverfahren vor der Beiordnung entgegengewirkt und entsprechend dem Willen des Gesetzgebers die Position des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren gestärkt (vgl. OLG Nürnberg, a. a. 0., Rn. 28).

2. Die Voraussetzungen einer rückwirkenden Beiordnung liegen nach den vorgenannten von der herrschenden Meinung aufgestellten Grundsätzen im hier zu entscheidenden Fall vor.

Vorliegend wurde der mit anwaltlichem Schriftsatz vom 3.2.2022 gestellte und bei der Polizeiinspektion Halle (Saale) am selben Tage eingegangene Antrag des ehemaligen Beschuldigten, ihm Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beizuordnen, etwa zweieinhalb Wochen vor der Einstellung des Verfahrens und insoweit "rechtzeitig" gestellt.

Zudem lag ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 Var. 2 StPO vor, da der Beschwerdeführer aufgrund des seinerzeit gegen ihn anhängigen Verfahrens vor dem Landgericht Halle — Große Strafkammer — (Az.: 16 KLs 540 Js 17049/21 [16/21]), wo drei Straftaten (Tatzeitraum 17.5.2021 bis 20.5.2021), u. a. unerlaubtes Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, angeklagt waren, im Rahmen einer (ggf. auch erst nachträglichen) Gesamtstrafenbildung durchaus mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu rechnen gehabt hätte (eine Gesamtstrafenfähigkeit war bezüglich der Taten aus dem dortigen Verfahren sowie der Tat aus dem hiesigen Verfahren nach Aktenlage gegeben, insbesondere lag zwischen den Taten keine strafgerichtliche Verurteilung des früheren Beschuldigten, welche ggf. eine sog. "Zäsurwirkung" hätte hervorrufen können).

Schließlich wurde dem Amtsgericht vorliegend eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag aufgrund justizinterner Vorgänge, auf die der Beschwerdeführer keinen Einfluss hatte, nach Meinung der Kammer nicht rechtzeitig ermöglicht. Nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO ist unverzüglich eine Entscheidung über die beantragte Bestellung als Pflichtverteidiger herbeizuführen. (Anmerkung: Auch wenn dieses Gebot erst seit dem 13.12.2019 ausdrücklich in § 141 Abs. 1 StPO normiert ist, war bereits nach alter Rechtslage anerkannt, dass sich aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren eine Verpflichtung zur zeitnahen Entscheidung über den Antrag ergibt) Um dem Beschleunigungsgebot im Interesse des Beschuldigten Rechnung zu tragen, ist diese "Unverzüglichkeit" nur gewahrt, wenn durch den Ermittlungsrichter über den Antrag innerhalb von ein bis zwei Wochen nach dessen Eingang bei den Ermittlungsbehörden entschieden werden kann (LG Gera, Beschl. v. 10.11.2021 — 11 Qs 309/21, BeckRS 2021, 40620). Dies war hier nicht der Fall, da dem Amtsgericht die Akte erst etwas mehr als drei Wochen nach Eingang des Antrags auf Pflichtverteidigerbestellung bei der Polizei vorgelegt wurde. Hierbei verkennt die Kammer nicht, dass im Laufe des Ermittlungsverfahrens keine bewusste Verzögerung der Entscheidung durch die Ermittlungsbehörden erfolgte und die Staatsanwaltschaft das Verfahren unverzüglich nach Eingang der Sachakten eingestellt hat; jedoch erscheint der Kammer der Zeitraum von mehr als drei Wochen als zu lang, um hier noch von einer "Unverzüglichkeit" der Vorlage an das Amtsgericht sprechen zu können.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.


Einsender: RA J.-R. J. Funck, Braunschweig

Anmerkung:


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