Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 01.11.2023 - 3 Ws 52/23 – 161 HEs 23/23
Leitsatz des Gerichts:
Dass zunächst Anklage zur allgemeinen Strafkammer erhoben und die Sache von dort dem Schwurge-richt vorgelegt wird, stellt dann keine sachwidrige Verfahrensverzögerung dar, wenn die Anklage recht-lich vertretbar bei dem sich schließlich für unzuständig haltenden Gericht erhoben worden ist. Denn es ist als Folge der Gewaltenteilung hinzunehmen, dass ein Strafgericht den angeklagten Lebenssachver-halt in Einzelfällen anders würdigt als die Staatsanwaltschaft.
3 Ws 52/23 - 161 HEs 23/23
In der Strafsache
gegen pp.
wegen versuchten Mordes u.a.
hat der 3. Strafsenat des Kammergerichts am 1. November 2023 beschlossen:
Die Untersuchungshaft des Angeklagten dauert fort.
Bis zum Urteil, längstens bis zum 31. Januar 2024, wird die Haftprüfung dem Landgericht Berlin übertragen.
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Berlin wirft dem Angeklagten mit am 30. Juni 2023 beim Landgericht Berlin – allgemeine Strafkammer – erhobener Anklage vor, am 24. April 2023 ein Verbrechen der versuchten bewaffneten sexuellen Nötigung (§ 177 Abs. 1, 3, 5, 8 StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverlet-zung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 5) begangen zu haben. Er soll seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau zu-nächst auf öffentlichem Straßenland aufgelauert und sie beschimpft haben. Hiernach soll er sie un-erkannt verfolgt haben. An der Wohnungstür soll er die Frau in die Wohnung gestoßen und die Türe von innen verschlossen haben. Hiernach soll er sie an den Haaren in die Küche gezerrt und mit der Faust mehrmals ins Gesicht sowie mit einer Bratpfanne auf ihren Kopf und ins Gesicht geschlagen haben. To-desdrohungen ausstoßend soll er sich auf die zu Boden gegangene Zeugin gesetzt und so an den Enden ihres Kopftuchs gezogen haben, dass sie neben einer Rippenfraktur auch akute Luftnot, Einblutungen in den Augen sowie Würgemale erlitt. Auch soll der Angeklagte mit den Fingern, schwerwiegende Verlet-zungen zumindest in Kauf nehmend, auf beide Augen gedrückt haben. Zudem soll der Angeklagte nach-einander mehrere kurze Haushaltsmesser ergriffen und zumindest zweimal auf den Brustkorb der Zeugin eingestochen und so zwei zentimetertiefe Stichverletzungen und eine 17 cm lange Schnittverletzung verursacht haben. Der Angeklagte soll von der Zeugin hiernach unter Ausnutzung ihrer Einschüchterung Geschlechtsverkehr eingefordert und ihr Kleidung vom Leib gerissen haben. Die verängstigte Zeugin soll um ihr Leben gefleht haben und zum Schein auf das Ansinnen eingegangen sein. Als der Ange-klagte sich, so die Anklage weiter, vom Blut reinigte, soll die Zeugin die Gelegenheit genutzt und ins Treppen-haus geflohen sein, wohin ihr der Angeklagte mit einem Messer gefolgt sein soll. Beim Erscheinen eines Mitbewohners, des Zeugen Y, soll der Angeklagte das Messer weggeworfen, der Zeugin aber noch meh-rere Faust-schläge an den Kopf versetzt haben. Erst als der Mitbewohner den Angeklagten in den Schwitzkasten nahm, sollen die gewalttätigen Übergriffe beendet worden sein.
Die 23. Strafkammer des Landgericht Berlin hat mit Beschluss vom 30. August 2023 das Verfahren nach §§ 209 Abs. 2, 209a StPO dem Schwurgericht vorgelegt, weil sie die angeklagte Tat als versuchtes Tö-tungsdelikt würdigte. Die hierdurch zuständig gewordene 22. große Strafkammer hat unter Aufhebung des Haftbefehls des Amts-gerichts am 9. Oktober 2023 Haftbefehl unter anderem wegen versuchten Mordes erlassen und den Haftbefehl am Folgetag verkündet. Gleichfalls am 10. Oktober 2023 ist die Anklage durch die Schwurgerichtskammer zugelassen und es sind sie-ben Hauptverhandlungstermine (5. Januar bis 2. Februar 2024) anberaumt worden.
Das Schwurgericht hält die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus für erforderlich und hat die Akten durch Verfügung vom 10. Oktober 2023 an das Kammergericht zur Haftprüfung nach §§ 121 Abs. 1, 122 Abs. 1 StPO weitergeleitet.
Die Haftprüfung durch den Senat ergibt, dass die Untersuchungshaft fortzudauern hat.
1. Der Angeklagte ist des ihm im Haftbefehl des Landgerichts Berlin vom 9. Oktober 2023 zur Last geleg-ten Lebenssachverhalts nach dem in der Anklageschrift dargestellten Ermittlungsergebnis und aufgrund der dort aufgeführten Beweismittel dringend verdächtig (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO). Beginnend am 9. Juni 2023 und fortgesetzt am 21. Juni 2023 ist die geschädigte Ehefrau des Angeklagten mit audiovisuel-ler Aufzeichnung zwar nicht abschließend, aber umfänglich und in der Sache aussagekräftig richterlich vernommen worden. Auch wenn die Geschädigte in der Haupt-verhandlung von ihrem Zeugnisverweige-rungsrecht Gebrauch machen sollte, wird der Angeklagte aller Voraussicht nach auf der Grundlage die-ser aufgezeichneten Vernehmung, zu welcher die Vernehmungsrichterin vernommen werden kann (vgl. BGHSt 32, 25), verurteilt werden. Die verschriftete Zeugenaussage wird durch Augenscheinsobjekte, insbesondere Lichtbilder der Verletzungen und der Tatwaffen (Bratpfanne, Messer), ebenso bestätigt wie durch den Behandlungsbericht der als sachverständige Zeugin zu vernehmenden Assistenzärztin A. Die Ärztin hat die Ge-schädigte noch am Tattag untersucht und Verletzungen festgestellt, die sich mit dem durch diese geschilderten Geschehensablauf decken. Auch die medizinisch-forensische Sachver-ständige B hat die Geschädigte untersucht und der Einlassung des Angeklagten widersprochen, diese habe sich die Verletzungen selbst beige-bracht. Nach Aktenlage hat zudem der Zeuge Y einen Teil der Auseinandersetzung, nämlich das Geschehen im Treppenhaus, beobachtet. Er bekundet, der Angeklagte habe auf die Geschädigte mehrfach eingeschlagen.
2. Das Tatgeschehen, dessen der Angeklagte dringend verdächtig ist, stellt sich auch nach Einschätzung des Senats nicht nur als vollendete gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit einem versuchten Verbrechen nach § 177 StGB dar, sondern als ein versuchtes Tötungsdelikt. Hierfür sprechen neben der konkret lebensbedrohlichen Tatbegehung mit Messern, einer Bratpfanne und drastischem, anhaltendem Würgen insbesondere die dem Angeklagten aller Voraussicht nach nachzuweisende verbale Ankündi-gung, er werde die Geschädigte töten. Die Ernsthaftigkeit und Authentizität dieses Ausspruchs, dem der Angeklagte nach den Bekundungen der Geschädigten mehrfach wiederholt hat, findet ihre Bestätigung allem Anschein nach in dem dem Angeklagten zur Last gelegten und voraussichtlich nachweisbaren äu-ßeren Tatgeschehen. Ein Rücktritt vom Versuch des Tötungsdelikts liegt nicht nahe, denn nach dem Ermittlungsergebnis ist der Angeklagte der Geschädigten mit einem Messer bewaffnet ins Treppenhaus gefolgt und hat dieses erst weggeworfen, als der Zeuge Y erschien und den Angeklagten von weiteren Tätlichkeiten zum Nachteil der Zeugin abhielt. Nach vorläufiger Einschätzung handelte der Angeklagte aus niedrigen Be-weggründen, so dass sich die Tat insoweit als Mord (§ 211 StGB) darstellt.
3. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Der Ange-klagte wohnte zuletzt in einer Flüchtlingsunterkunft und hat damit keine zuverlässig bindende, sondern ausgesprochen leicht lösliche Wohnverhältnisse. Über wirklich tragfähige soziale Bindungen, die ihn veranlassen könnten, in Berlin zu bleiben und sich dem Strafverfahren zu stellen, ist nichts Substanzielles bekannt. Seine Ehefrau, die Geschädigte, hat er nach Aktenlage zu ermorden versucht, so dass von einer andauernden emotio-nalen und sozialen Anbindung insoweit keine Rede sein dürfte. Auch dass dem Angeklagten in Freiheit Kontakt zu seinen fünf Kindern in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht möglich wäre, erscheint auf der Grundlage des angeklagten Geschehens und wegen des gerichtlich ausgesprochenen Annäherungsver-bots (Gewaltschutzanordnung) ausgesprochen zweifelhaft. Über eine Erwerbstätigkeit ist nichts be-kannt. Die Ermittlungsbehörden haben zudem angegeben, dass sich der Angeklagte lange nach seiner Einreise nach Deutschland für mehr als zwei Jahre nach Griechenland begab, wobei er seine Familie zurückließ, aber deren Reispässe mitnahm. Erst kurz vor der Tat kam er zurück nach Berlin. Dies zeigt, dass der An-geklagte transnational mobil ist, und es bestätigt die Einschätzung, dass keine feste, wirk-lich tragfähige Bindung an Berlin besteht.
Auch wenn sich die Tat nicht als versuchter Mord, sondern als versuchter Totschlag in Tateinheit mit einem Verbrechen nach § 177 StGB sowie mit § 224 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 5 StGB darstellen sollte, ist die Strafe, mit welcher der Angeklagte zu rechnen hat, hoch und begründet, auch unter Berücksichtigung der erlittenen und nach § 51 StGB anzurechnenden Untersuchungshaft, ersichtlich Fluchtanreiz.
4. Weniger einschneidende Maßnahmen als der Vollzug der Untersuchungshaft sind nicht geeignet, deren Zweck in gleicher Weise zu erreichen. Eine Haftverschonung nach § 116 Abs. 1 StPO würde – ne-ben einer tragfähigen Grundlage für mögliche Auflagen und Weisungen – die Gewissheit des Senats erfordern, dass er sich auf die Angeklagten verlassen kann (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Juli 2012 – 3 Ws 422/12 – m.w.N.). An einer solchen Vertrauensgrundlage fehlt es hier.
5. Der Senat bejaht die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO. Das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen ist bislang beachtet worden.
Die Ermittlungen sind mit der für die Bearbeitung von Haftsachen erforderlichen Beschleunigung ge-führt worden. Im Zusammenhang mit der Festnahme des Angeklagten wurden die Beweismittel sicher-gestellt und ihre kriminaltechnische Auswertung, die noch nicht gänzlich abgeschlossen ist, veranlasst. Die Erstellung eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens wurde durch die Staatsanwaltschaft in Auf-trag gegeben. Die Anklage wurde unverzüglich nach Abschluss der Ermittlungen gefertigt und erhoben. Auch das Landgericht hat das Verfahren bislang ohne Verzögerung betrieben. Dass zunächst Anklage zur allgemeinen Strafkammer erhoben und die Sache von dort dem Schwurgericht vorgelegt worden ist, hat das Verfahren nicht beträchtlich verzögert und ist keinesfalls als sachwidrige Sachbehandlung zu bewer-ten. Dass ein Strafgericht den angeklagten Lebenssachverhalt in Einzelfällen anders würdigt als die Staatsanwaltschaft, ist zwingende Folge der Gewaltenteilung und jedenfalls hinzunehmen, wenn die Anklage rechtlich vertretbar bei dem sich schließlich für unzuständig haltenden Gericht erhoben worden ist. Dies ist hier der Fall.
Der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 3. Mai 2023 ist durch den Haftbefehl des Landgerichts vom 9. Oktober 2023 ersetzt und unverzüglich verkündet worden. Bereits am 10. Oktober 2023 ist die Anklage zugelassen worden. Auch der geplante Beginn der Hauptverhandlung am 5. Januar 2024 erfüllt das Beschleunigungsgebot. Namentlich trägt er der regelmäßig für den Beginn der Hauptverhandlung zu beachtenden Frist von drei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens (vgl. BVerfG StV 2008, 421 m.w.N) Rechnung.
6. Die Fortdauer der Untersuchungshaft steht zu der Bedeutung der Straftaten und den zu erwartenden Strafen nicht außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
7. Die befristete Übertragung der weiteren Haftprüfung auf das Landgericht beruht auf § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.
Einsender: RiKG U. Sandherr, Berlin
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