Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 20.10.2023 – 3 Ws 51/23 – 121 HES 30/23
Leitsatz des Gerichts:
1. Im Verfahren der besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO bildet allein der zuletzt erlassene und prozessordnungsgemäß bekanntgegebene Haftbefehl den Prüfungsgegenstand. Dies gilt auch dann, wenn der Haftbefehl auf weitere Taten hätte erweitert werden können, tatsächlich aber nicht erweitert worden ist. Mit einer im Eröffnungsbeschluss getroffenen Haftfortdauerentscheidung „nach Maßgabe des Anklagesatzes“ kann ein Haftbefehl nicht in prozessual ordnungsgemäßer Weise auf die weiteren Anklagevorwürfe erweitert werden.
2. Im Gerichtsverfahren muss bei der Bearbeitung von Haftsachen der Gesichts-punkt der vorausschauenden Planung im Vordergrund stehen. Die Umstände des Falles können es nahegelegen, für eine zügige Terminierung direkte und schnelle Kommunikationswege (E-Mail, Telefon oder Fax) zu beschreiten.
3 Ws 51/23 – 121 HEs 30/23
In der Strafsache
gegen pp. u. a.
hier nur gegen pp.
wegen Wohnungseinbruchdiebstahls u. a.
hat der 3. Strafsenat des Kammergerichts am 20. Oktober 2023 beschlossen:
Der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 19. April 2023 – 384 Gs 129/23 – wird aufgehoben.
Gründe:
I.
1. Das Amtsgericht Tiergarten hat am 19. April 2023 gegen den am Vortag vorläufig festgenommenen Angeklagten A auf Antrag der Staatsanwaltschaft Berlin einen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl erlassen (384 Gs 129/23). Seit diesem Tag wird gegen ihn (ununterbrochen) die Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Moabit vollzogen.
In dem Haftbefehl wird dem Angeklagten zur Last gelegt, am 18. April 2023 gemeinschaftlich handelnd fremde bewegliche Sachen einem anderen in der Absicht weggenommen zu haben, die Sachen sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen und dabei zur Ausführung der Tat in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung eingestiegen zu sein (§§ 244 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4, 25 Abs. 2 StGB). Am Tattag soll er sich mit dem weiteren Angeklagten B zu einem Mehrfamilienwohnhaus in der X-Straße in Y begeben, sich unter Einsatz von Einbruchswerkzeug Zugang zur Wohnung der dort dauerhaft lebenden Geschädigten D verschafft und – wie von Anfang an beabsichtigt – Schmuckgegenstände entwendet haben.
Den dringenden Tatverdacht hat das Gericht insbesondere auf die geständigen Angaben des Angeklagten A, die Angaben der Zeugin D sowie der Polizeibeamten gestützt. Diese haben den Angeklagten nach Aktenlage beim Betreten und Verlassen des Wohnhauses beobachtet und vorläufig festgenommen, so dass auch das vom Angeklagten auf der Flucht weggeworfene Diebesgut und das mutmaßlich verwendete Einbruchswerkzeug sichergestellt werden konnte, worauf im Haftbefehl ebenfalls hingewiesen wird. Den Haftgrund der Fluchtgefahr hat das Gericht mit „allenfalls“ leicht löslichen Wohnverhältnissen des Angeklagten sowie der ihm angesichts einer einschlägigen mehrjährigen Verurteilung aus dem Jahr 2018 drohenden Fluchtanreiz bietenden Freiheitsstrafe begründet.
Der Großteil der für die Fertigung einer Anklage für diesen Tatvorwurf erforderlichen Ermittlungen war bereits bei Beantragung und Erlass des Haftbefehls abgeschlossen. Im Anschluss erfolgten bis Ende April 2023 lediglich die letzten Ermittlungen zur Zuordnung der aufgefundenen Diebesbeute. Zuletzt ging bei der Staatsanwaltschaft Berlin Ende Mai 2023 das Behördengutachten des Landeskriminalamtes vom 27. April 2023 über die Untersuchung der dem Angeklagten nach der Tat entnommenen Blut- und Urinprobe ein, das einen positiven Befund für den Nachweis von Kokain enthält.
Der Mitangeklagte B wurde zeitgleich mit dem Angeklagten A vorläufig festgenommen und ebenfalls am Folgetag aufgrund eines entsprechenden Haftbefehls in Untersuchungshaft genommen. Er wurde allerdings mit Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 5. Mai 2023 vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft gegen Meldeauflagen verschont. Vor Erlass der ergangenen Haftbefehle wurde den beiden Angeklagten jeweils eine Pflichtverteidigerin beigeordnet.
2. Neben der im Haftbefehl genannten Tat wurde gegen die Angeklagten wegen weiterer Taten ermittelt, die sie im Zeitraum Februar bis Mitte April 2023 begangen haben sollen. Bei diesen Taten handelt es sich vor allem um (teilweise nicht vollendete) Wohnungseinbruchdiebstähle sowie um einen Anfang April 2023 erfolgten Einbruch in ein Büro, bei dem unter anderem der Schlüssel zu einem PKW der Marke Porsche gestohlen wurde, mit dem der Angeklagte A neun Tage später unter dem Einfluss von Kokain und ohne über eine Fahrerlaubnis zu verfügen verunfallt und anschließend vom Unfallort geflüchtet sein soll. Die polizeilichen Ermittlungen zu diesen Taten begannen jeweils zeitnah nach deren Entdeckung und wurden Ende April 2023 mit der Durchsuchung der mutmaßlichen Wohnräume der Angeklagten und der Vernehmung des Zeugen C Ende abgeschlossen. Auf dieser Grundlage erfolgte auch die spätere Anklage.
3. Die Staatsanwaltschaft Berlin legt dem Angeklagten sowie dem Mitangeklagten B mit der am 2. August 2023 zum Amtsgericht Tiergarten – Schöffengericht – erhobenen Anklageschrift vom 26. Juli 2023 zur Last, in Berlin in der Zeit vom 7. Februar 2023 bis zum 18. April 2023 sechs gemeinschaftlich begangene Diebstahlstaten begangen zu haben, von denen eine sich auf den Einbruch in Geschäftsräume bezieht (§ 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB), während die Angeklagten in vier Fällen in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung eingebrochen sein sollen (§ 244 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4 StGB), wobei es in zwei Fällen bei einem Versuch blieb. Ferner wird dem Angeklagten A eine vorsätzliche Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 316 Abs. 1 StGB und § 21 StVG; § 52 StGB) sowie ein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB) vorgeworfen.
Unter den angeklagten Taten ist auch jene, die dem Angeklagten A im Haftbefehl vom 19. April 2023 zur Last gelegt wird.
4. Am 3. August 2023 ordnete der Abteilungsrichter des Amtsgerichts Tiergarten die Zustellung der Anklage an und setzte eine Erklärungsfrist von sieben Tagen.
Unter dem 18. August 2023 verfügte er ein Schreiben an die Pflichtverteidigerinnen der beiden Angeklagten sowie den Wahlverteidiger des Mitangeklagten B, in dem er „zur besseren Planung der Hauptverhandlung“ und „schnellstmöglich“ um Mitteilung bat, ob und wenn ja welche Punkte der Anklageschrift strittig seien und ob ein (Teil-) Geständnis abgegeben werden solle. Zudem wies er auf seinen bevorstehenden Jahresurlaub vom 15. September bis zum 6. Oktober 2023 hin und bat um Klarstellung, wer künftig die Verteidigung des Angeklagten B übernehmen solle. Diese Verfügung wurde erst am 28. August 2023 ausgeführt. Durch ein weiteres Schreiben vom 7. September 2023 – welches unbeantwortet blieb – wandte sich der Abteilungsrichter an den Mitangeklagten B persönlich und forderte ihn zur umgehenden Stellungnahme auf, wer ihn künftig vertreten solle.
Unter dem 5. September 2023 reichte die Staatsanwaltschaft eine Sachstandsanfrage zu den Akten und wies auf den Ablauf der 6-Monats-Frist und die fehlende Terminierung hin. Dies veranlasste den Abteilungsrichter offensichtlich, den Verteidiger/innen mit Fax-Schreiben vom 11. September 2023 den 12. Oktober 2023 und den 26. Oktober 2023, jeweils 9:00 Uhr, als Hauptverhandlungstermine vorzuschlagen. Er bat um umgehende Stellungnahme, weil es sich „um eine Haftsache handele und deshalb Eile geboten“ sei.
Da lediglich die Verteidigerin des Angeklagten A den 12. Oktober 2023 hätte einrichten können, terminierte der Abteilungsrichter die Hauptverhandlung mit Verfügung vom 14. September 2023 auf den 26. Oktober 2023, 9:00 Uhr. Mit Beschluss vom gleichen Tag hat er die Anklage – mit Änderungen nach § 207 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 StPO – unter Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Amtsgericht Tiergarten – Schöffengericht – zur Hauptverhandlung zugelassen und „die Untersuchungshaft aus den weiterhin für zutreffend erachteten Gründen ihrer Anordnung nach Maßgabe der Anklageschrift aufrecht erhalten“.
Zur Hauptverhandlung sind neben den Verfahrensbeteiligten zwei Zeugen zu 9:30 Uhr und drei Zeugen zu 10:15 Uhr geladen, von denen die ermittlungsführende Polizeizeugin ihre Verhinderung bereits angezeigt hat.
5. Das Amtsgericht Tiergarten hat – nunmehr durch einen Vertretungsrichter anstelle des urlaubsbedingt abwesenden Abteilungsrichters – auf Antrag der Staatsanwaltschaft Berlin Doppelakten fertigen lassen und diese mit Verfügung vom 22. September 2023 nebst Stellungnahme zum Verfahrensgang bei Gericht gemäß §§ 121 Abs. 1, 122 Abs. 1 StPO zur Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus dem Kammergericht vorgelegt. Dass das Gericht die Fortdauer der Untersuchungshaft nach eigener Prüfung für zulässig und erforderlich hält (§ 122 Abs. 1 StPO), hat es nicht ausdrücklich in den Akten festgehalten.
Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat unter dem 5. Oktober 2023 mitgeteilt, sie „halte die Haftfortdauer für geboten und gerechtfertigt“.
Auf Anfrage des Senats nach den Gründen der offensichtlichen Verzögerungen teilte der Abteilungsrichter mit, dass es aufgrund der unklaren Verteidigungsverhältnisse hinsichtlich des Mitangeklagten B und der nicht erfolgten, verspäteten oder nur teilweisen Rückmeldungen der Beteiligten auf seine Schreiben zu den Verzögerungen gekommen sei. Von einer Terminierung vor seinem Urlaub habe er im Hinblick auf mögliche Folgetermine abgesehen. Der Termin am 12. Oktober 2023 sei an Terminkollisionen der Verteidiger/innen gescheitert.
Der Angeklagte äußerte sich zu der im besonderen Haftprüfungsverfahren zu treffenden Entscheidung mit Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 13. Oktober 2023 und beantragte die Aufhebung des Haftbefehls wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot. Zudem weist die Verteidigerin darauf hin, dass die Ansetzung lediglich eines Hauptverhandlungstermins die Gefahr der Aussetzung des Verfahrens berge, da sie sich – wie von ihr im August 2023 mitgeteilt – wenige Tage nach dem Terminstag einer geplanten Knieoperation mit anschließender Rehabehandlung unterziehen müsse und erst ab Anfang Dezember wieder zur Verfügung stehe.
II.
Der die Grundlage der Untersuchungshaft bildende Haftbefehl war nach Ablauf seines sechsmonatigen Vollzugs gemäß § 121 Abs. 2 StPO aufzuheben.
1. Die Voraussetzungen für die Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO liegen vor. Gegen den Angeklagten wird seit dem 19. April 2023 die Untersuchungshaft aufgrund des an diesem Tag erlassenen Haftbefehls vollzogen.
2. Das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts und den Fortbestand der Fluchtgefahr brauchte der Senat bei der hier gegebenen Sachlage nicht näher zu prüfen, weil ein wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO nicht gegeben und der verfassungsrechtliche Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verletzt worden ist.
a) Nach der genannten Vorschrift ist ein Verfahren, in dem Untersuchungshaft vollzogen wird, grundsätzlich binnen sechs Monaten mit einem Urteil abzuschließen.
Die Sechs-Monats-Frist darf nach § 121 Abs. 1 StPO nur ausnahmsweise überschritten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund ein Urteil noch nicht zugelassen haben. Diese Ausnahmetatbestände sind eng auszulegen (BVerfG NStZ-RR 2008, 18; Gericke in KK-StPO 9. Aufl., § 121 Rn. 15). Dabei ist ein anderer wichtiger Grund im diesem Sinne nur dann gegeben, wenn das Verfahren durch Umstände verzögert worden ist, denen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte durch geeignete Maßnahmen nicht haben entgegenwirken können. Maßgeblich ist insoweit, ob die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist (BVerfG, StV 2013, 640 und NStZ-RR 2008, 18; Senat, Beschlüsse vom 4. April 2020 – (3) 161 HEs 4/20 (2-5/20) – und vom 28. April 2016 – (3) 141 HEs 29/16 (5 -7/16) –; KG, Beschluss vom 6. August 2013 – (4) 141 HEs 41/13 (19-21/13) - 4 Ws 100-101, 104/13 –, BeckRS 2013, 18237; Gericke in KK-StPO 9. Aufl., § 121 Rn. 20; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Aufl., § 121 Rn. 18ff. m. w. N.).
Dabei stellt die in § 121 Abs. 1 StPO bestimmte Sechs-Monats-Frist lediglich eine Höchstgrenze dar. Insbesondere darf aus der gesetzlichen Frist nicht etwa der Schluss gezogen werden, dass ein Strafverfahren bis zu diesem Zeitpunkt nicht unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots geführt werden müsse (BVerfG NStZ-RR 2008, 18 m. w. N.; KG, Beschluss vom 4. Juni 2019 – (4) 121 HEs 24/19 (15/19) – m. w. N.).
b) Im Rahmen seiner Entscheidung hat der Senat ausschließlich den Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 19. April 2023 und den darin enthaltenen Tatvorwurf zu berücksichtigen, denn im Verfahren der besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO bildet allein der zuletzt erlassene und prozessordnungsgemäß bekanntgegebene Haftbefehl den Prüfungsgegenstand und die Prüfungsgrundlage. Demgemäß ist bei der Beurteilung der Frage, ob besondere Schwierigkeiten oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein sonstiger wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO vorliegen, nur von den Taten auszugehen, die im Haftbefehl aufgeführt sind und derentwegen die Untersuchungshaft vollzogen wird (BVerfG NStZ 2002, 157; BGH, Beschluss vom 11. August 2021 – AK 41/21 –, juris; Beschlüsse vom 1. August 2022 – (4) 161 HEs 41/22 (34/22) – und vom 25. Januar 2021 – (4) 121 HEs 2/21 (2+3/21) –, jeweils m. w. N.; Gericke in KK-StPO 9. Aufl., § 121 Rn. 13; Krauß in BeckOK StPO 48. Aufl., § 121 Rn. 15).
Der dem Senat nach § 122 Abs. 1 StPO mit den Akten vorgelegte Haftbefehl bleibt auch dann alleiniger Prüfungsgegenstand, wenn der Haftbefehl auf weitere Taten hätte erweitert werden können, tatsächlich aber – wie hier – nicht erweitert worden ist (vgl. KG, Beschluss vom 1. August 2022, a. a. O.). Mit der im Eröffnungsbeschluss des Amtsgerichts getroffenen Haftfortdauerentscheidung „nach Maßgabe des Anklagesatzes“ konnte der Haftbefehl nicht in prozessual ordnungsgemäßer Weise auf die weiteren Anklagevorwürfe erweitert werden. Ungeachtet ihres nicht den Anforderungen des § 114 Abs. 2 StPO genügenden Inhalts fehlt es jedenfalls an einer Verkündungsverhandlung nach § 115 StPO.
c) In Anwendung der vorstehend ausgeführten Maßstäbe fehlt es an einem die Aufrechterhaltung des Untersuchungshaftvollzugs über sechs Monate hinaus rechtfertigenden wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO.
aa) Es sind mit Blick auf den durch Haftbefehl vom 19. April 2023 bestimmten Verfahrensgegenstand keinerlei Gründe dafür ersichtlich, warum ein Urteil vor Ablauf der Sechsmonatsfrist objektiv nicht möglich gewesen wäre. Der Tatvorwurf des Wohnungseinbruchdiebstahls ist angesichts der aktenkundigen Beweislage äußerst überschaubar und weist weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten auf. Der Angeklagte A wurde zusammen mit dem Mitangeklagten B auf frischer Tat betroffen, umfangreiche Ermittlungen waren zur Aufklärung des Sachverhalts nicht (mehr) erforderlich. Jedenfalls mit dem Ende Mai 2023 bei der Staatsanwaltschaft Berlin zu verzeichnenden Eingang des LKA-Gutachtens vom 27. April 2023 zur Blut- und Urinuntersuchung war die Sache anklagereif. Das Verfahren hätte daher spätestens sechs Wochen nach Erlass des Haftbefehls angeklagt und beim Amtsgericht vor Ablauf der Sechsmonatsfrist erledigt werden können und müssen.
Bereits dieser Verfahrensgang zwang zur Aufhebung des Haftbefehls.
bb) Darüber hinaus wurde bei der Sachbehandlung des Verfahrens sowohl durch die Staatsanwaltschaft als auch durch den Abteilungsrichter beim Amtsgericht Tiergarten das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht ausreichend beachtet.
Dabei ist zunächst festzustellen, dass die Polizei die Ermittlungen zielgerichtet und zügig durchgeführt hat.
Von Seiten der Staatsanwaltschaft mag es noch vertretbar gewesen sein, vor Anklageerhebung das Ergebnis der Blut- und Urinprobenuntersuchung durch das LKA-Gutachten vom 27. April 2023 abzuwarten, das – aus unerfindlichen Gründen – erst am 23. Mai 2023 bei der Polizei einging und sodann Ende Mai 2023 zu den Akten gelangte. Dass nach dem verzögerten Eingang des Gutachtens noch zwei weitere Monate vergingen, bis die insgesamt elf Seiten umfassende Anklageschrift gefertigt und bei Gericht eingegangen war, ist mit dem Beschleunigungsgrundsatz hingegen nicht mehr zu vereinbaren. Die sich ab Ende Mai 2023 über sechs Wochen hinziehende Erwirkung der richterlichen Beschlagnahme von zwei im Haftraum des Angeklagten aufgefundenen Mobiltelefonen rechtfertigt die verzögerte Anklage nicht, zumal die Anklageverfasserin die Ergebnisse ihrer Auswertung für deren Fertigung offensichtlich auch nicht abwarten wollte.
Auch die Sachbehandlung durch das Amtsgericht Tiergarten begegnet durchgreifenden Bedenken. Im Gerichtsverfahren muss bei der Bearbeitung von Haftsachen der Gesichtspunkt der vorausschauenden Planung im Vordergrund stehen. Lässt sich aus den eingehenden Akten erkennen, dass es im Ermittlungsverfahren zu nicht unerheblichen und vermeidbaren Verzögerungen gekommen ist, sollte das Gericht diese durch eine zügige Terminierung auffangen (vgl. Böhm in MüKo-StPO, 2. Aufl., § 121 Rn. 83 m. w. N.) und dabei berücksichtigen, dass Haftsachen Vorrang vor anderen Sachen genießen (Gericke in KK-StPO 9. Aufl., § 121 Rn. 20). Zudem darf das Gericht nicht darauf vertrauen, dass ein Angeklagter entgegen seinem bisherigen Aussage- und Verteidigungs-verhalten ein umfassendes Geständnis im Sinne der Anklagevorwürfe ablegen wird; es darf deshalb, wenn keine konkreten Hinweise auf eine mögliche Verständigung über den Verfahrensausgang oder ein Einvernehmen (aller Verfahrensbeteiligten) über einen reduzierten Umfang der Beweisaufnahme vorliegen, nicht lediglich eine Hauptverhandlung vorsehen, die für eine im Falle einer streitigen Verhandlung notwendige umfassende Beweisaufnahme nicht ausreichen wird (vgl. KG, Beschluss vom 6. August 2013 – (4) 141 HEs 41/13 (19-21/13) - 4 Ws 100-101, 104/13 –, BeckRS 2013, 18237 m. w. N.; Krauß in BeckOK StPO 48. Aufl., § 121 Rn 18).
Vorliegend hat der Abteilungsrichter in aktenkundiger Weise erkannt, dass die Anklageerhebung vermeidbar verzögert erfolgt ist. Deshalb und auch angesichts seines anstehenden 22tägigen Jahresurlaubs hätte er sich daher erst recht frühzeitig um die Abstimmung zeitnaher Verhandlungstermine – notfalls unter Aufhebung anderer Termine – mit den Verteidigerinnen und dem Verteidiger bemühen müssen. Dies ist nicht geschehen. Angesichts der Aktenlage – der Angeklagte hatte im Rahmen seiner Anhörung bei Erlass des Haftbefehls den Widerruf seiner bei der Polizei abgegebenen geständigen Aussage erklärt – war die gerichtliche Anfrage per Post an die Verteidiger/innen zum von ihnen zu benennenden Umfang der Beweisausnahme nicht zielführend und trug nicht zur Beschleunigung der Haftsache bei. Vielmehr hätte es angesichts der Umstände des Falles nahegelegen, vorliegend sogleich direkte und schnelle Kommunikationswege (E-Mail, Telefon oder Fax) zu beschreiten. Die Verfügungen des Abteilungsrichters vom 3. August 2023, vom 18. August 2023 – diese Verfügung wurde unverständlicherweise erst zehn Tage später ausgeführt – sowie vom 7. September 2023 enthielten zudem keine konkreten Terminvorschläge und wurden sämtlich ohne den zur Beschleunigung ihrer Ausführung üblichen Zusatz „Eilt!“ zur Akte gegeben. Offenbar angestoßen durch die Sachstandsanfrage der Staatsanwaltschaft unterbreitete der Abteilungsrichter erst fünfeinhalb Wochen nach Eingang der Sache und wenige Tage vor seinem anstehenden Urlaub am 11. September 2023 zwei alternative Terminvorschläge für die Hauptverhandlung, von denen nur einer vor Ablauf der 6-Monats-Frist lag. Weshalb der Abteilungsrichter in Ansehung des nahenden Fristablaufs für den Beginn der Hauptverhandlung nicht auch den 9.-11., 13. und 16.-19. Oktober 2023 – ggf. unter Anberaumung von Sondersitzungstagen – in den Blick genommen hat, erschließt sich nicht und ist mit der Pflicht zur beschleunigten Verfahrensgestaltung nicht vereinbar.
Einsender: RiKG U. Sandherr, Berlin
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