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Entscheidungen

OWi

Geschwindigkeitsüberschreitung, Vorsatz, Täteridentifizierung, Fahrverbot, lange Verfahrensdauer

Gericht / Entscheidungsdatum: BayObLG, Beschl. v. 10.7.2023 - 201 ObOWi 621/23

Leitsatz des Gerichts mit Ergänzungen/Änderungen:

1. Bei erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen um mehr als 40 % kann in der Regel von vorsätzlicher Tatbegehung des Betroffenen ausgegangen werden, wenn dieser die zulässige Höchstgeschwindigkeit kannte.
2. Erst ab einem Zeitraum von zwei Jahren zwischen der Tat und der letzten tatrichterlichen Verhandlung ist allein wegen der Verfahrensdauer die Herabsetzung eines mehrmonatigen Regelfahrverbots in Betracht zu ziehen, wenn sich der Betroffene in der Zwischenzeit verkehrsordnungsgemäß verhalten hat.
3. Solange die im Bußgeldkatalog vorgesehene, nicht mehr geringfügige Regelgeldbuße verhängt wird, sind Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen nicht zwingend geboten, solange sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass diese außergewöhnlich schlecht sind.
4. Zu den Urteilsanforderungen bei Identifizierung des Fahrers anhand eines von dem Verkehrsverstoß gefertigten Lichtbildes.


In pp.

I. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Bayreuth vom 05.01.2023 wird als unbegründet verworfen.
II. Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts Bayreuth vom 05.01.2023 im Rechtsfolgenausspruch wie folgt abgeändert:
Gegen den Betroffenen wird eine Geldbuße in Höhe von 1.200 Euro festgesetzt.
Dem Betroffenen wird für die Dauer von 3 Monaten verboten, Kraftfahrzeuge aller Art im Straßenverkehr zu führen. Das Fahrverbot wird erst wirksam, wenn der Führerschein in amtliche Verwahrung gelangt, spätestens jedoch mit Ablauf von 4 Monaten seit Rechtskraft dieser Entscheidung.
III. Der Betroffene hat die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen.

Gründe

I.

Mit Bußgeldbescheid der Zentralen Bußgeldstelle im Bayer. Polizeiverwaltungsamt vom 27.09.2021 wurde gegen den Betroffenen wegen einer am 25.07.2021 auf einer Staatsstraße bei W. mit einem Motorrad begangenen vorsätzlichen Ordnungswidrigkeit der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 99 km/h eine Geldbuße in Höhe von 1.200 Euro und zugleich ein mit einer Anordnung gemäß § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot für die Dauer von drei Monaten festgesetzt. Das Amtsgericht Bayreuth verurteilte den Betroffenen, der seine Fahrereigenschaft bestritten hatte, zu einer Geldbuße von 1.200 Euro und verhängte ein mit einer Anordnung gemäß § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot für die Dauer von zwei Monaten. Das Amtsgericht stellte fest, dass besondere Härten hinsichtlich der Anordnung und der Dauer des Fahrverbots weder vorgetragen noch ersichtlich seien. Die Herabsetzung der Dauer des Fahrverbotes begründete es mit dem langen Zeitablauf zwischen Tat und Urteil, wobei es berücksichtigte, dass der Betroffene „weder vor noch nach dem verfahrensgegenständlichen Verstoß wegen Geschwindigkeitsverstößen aufgefallen“ sei. Gegen diese Entscheidung haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Betroffene form- und fristgerecht Rechtsbeschwerde eingelegt, mit der sie jeweils die Verletzung materiellen Rechts rügen. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat in ihren Stellungnahmen vom 25.05.2023 beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Bayreuth kostenpflichtig als unbegründet zu verwerfen und auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft das Urteil des Amtsgerichts im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben und die Sache im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch hinsichtlich der Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens – an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

II.

Die Nachprüfung des Urteils des Amtsgerichts Bayreuth aufgrund der nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 OWiG statthafte Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben.
1. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts hält sowohl hinsichtlich der vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung als auch hinsichtlich der Fahrereigenschaft des Betroffenen der rechtlichen Nachprüfung stand.

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Diesem allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.: vgl. nur BGH, Urt. v. 12.02.2015 – 4 StR 420/14 = NStZ-RR 2015, 148 und v. 01.02.2017 – 2 StR 78/16 = NStZ-RR 2017, 183). Die Nachprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht ist darauf beschränkt, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze verstößt oder gesicherten Erfahrungssätzen widerspricht (st. Rspr.: vgl. nur BGH, Urt. v. 30.03.2004 – 1 StR 354/03 = NStZ-RR 2004, 238 und v. 11.01.2005 – 1 StR 478/04 = NStZ-RR 2005, 147). Liegen derartige Rechtsfehler nicht vor, hat das Rechtsbeschwerdegericht die Beweiswürdigung hinzunehmen, und zwar auch dann, wenn eine andere Überzeugungsbildung möglich gewesen wäre oder sogar nahegelegen hätte. Es genügt, wenn die Urteilsgründe erkennen lassen, dass sämtliche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Betroffenen zu beeinflussen, in die Überlegungen einbezogen und in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. nur BGH, Urt. v. 23.07.2008 – 2 StR 150/08 = NJW 2008, 2792 m.w.N.).

Erfolgt die Identifizierung eines Betroffenen, wie hier, auf der Grundlage eines anthropologischen Sachverständigengutachtens darf sich das Gericht dem nicht einfach anschließen, da es sich nicht um eine sogenannte standardisierte Untersuchungsmethode handelt (vgl. BGH NZV 2006, 160). Will es dem Ergebnis der sachverständigen Begutachtung ohne Angabe eigener Erwägungen folgen, so müssen in den Urteilsgründen wenigstens die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen wiedergegeben werden. Dazu gehören die vom Sachverständigen herausgearbeiteten deskriptiven morphologischen Merkmale des Täters und die vergleichenden Erwägungen bezüglich der entsprechenden Merkmale des Betroffenen. In den Urteilsgründen ist deshalb nicht nur darzulegen, auf wie viele, sondern auch auf welche übereinstimmenden Körpermerkmale der Sachverständige sich bei seiner Bewertung stützte und wie er die Übereinstimmungen ermittelt hat (BGH NStZ 2000, 106; NZV 2006, 160 f.; OLG Zweibrücken NZV 2018, 177; KG VRS 132 Nr. 13: OLG Bamberg NZV 2008, 211 f.; DAR 2010, 390; OLG Hamm DAR 2008, 395 ff.; OLG Oldenburg NZV 2009, 52 ff.; OLG Jena NStZ-RR 2009, 116).

b) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Amtsgerichts vorliegend gerecht.

aa) Bei einer amtlichen Geschwindigkeitsmessung mit dem Einseitensensor ES 3.0 handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren (vgl. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.10.2012 – 1 SsBs 12/12 = DAR 2013, 38; OLG Köln DAR 2013, 530 ; OLG Hamm NJW-Spezial 2013, 171; OLG Schleswig SchlHA 2013, 450). Davon, dass die Bedingungen des standardisierten Messverfahrens eingehalten sind, hat sich das Amtsgericht rechtsfehlerfrei überzeugt. Zusammen mit den Angaben zum Messverfahren und zum vorgenommenen Toleranzabzug, die das angegriffene Urteil enthält, ist somit die Grundlage einer ausreichenden, nachvollziehbaren Beweiswürdigung (BGHSt 39, 291, 293) vorhanden.

bb) Die Feststellungen des Amtsgerichts zur Fahrereigenschaft des Betroffenen genügen den eingangs geschilderten Voraussetzungen. Das Amtsgericht teilt mit, dass der Sachverständige sein Gutachten auf der Grundlage eines Vergleichs des von der Tat angefertigten Messfotos von augenscheinlich hinreichend guter Qualität mit dem in der Hauptverhandlung anwesenden Betroffenen erstattet hat. Es teilt mit, dass lediglich 11 von 28 möglichen und zur Identifizierung einer Person geeigneten Merkmalen mangels Erkennbarkeit der übrigen (näher genannten) Merkmale auf dem Messfoto vom Sachverständigen nicht ausgewertet werden konnten. Die Urteilsgründe führen weiter aus, dass hinsichtlich der erkennbaren 11 Merkmale jeweils kein Ausschluss des Betroffenen festgestellt werden konnte und dass das Vergleichsfoto und der Betroffene im Nasen- und Wangenbereich vielmehr Übereinstimmungen aufweisen, welche zumindest als personentypisch einzustufen sind und einen hohen Beweiswert aufweisen, weshalb der Sachverständige in seiner Gesamtbeurteilung zum Ergebnis „Identität wahrscheinlich“ gelangt ist.
Wenn das Amtsgericht sich auf dieser Grundlage und unter Berücksichtigung seiner Feststellung, dass der Betroffene Halter des verfahrensgegenständlichen Motorrades war und sich weder aus den Akten noch aus den Angaben des Betroffenen selbst Hinweise auf eine konkrete dritte Person ergaben, welche das Motorrad des Betroffenen zum Tatzeitpunkt benutzt haben konnte, in der Gesamtschau von der Täterschaft des Betroffenen überzeugt hat und an dieser keine Zweifel hatte, so beruht dies auf einer nachvollziehbaren Beweiswürdigung im Sinne der eingangs geschilderten Voraussetzungen und ist vom Senat hinzunehmen.

cc) Die Feststellung vorsätzlichen Verhaltens begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung handelt vorsätzlich, wer die Geschwindigkeitsbeschränkung kannte und bewusst dagegen verstoßen hat. Der Grad der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit kann ein starkes Indiz für vorsätzliches Handeln sein, wobei es auf das Verhältnis zwischen der gefahrenen und der vorgeschriebenen Geschwindigkeit ankommt. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen um mehr als 40 % in der Regel von vorsätzlicher Begehungsweise ausgegangen werden kann, weil anhand der Motorengeräusche, der sonstigen Fahrgeräusche, der Fahrzeugvibration und anhand der Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung ändert, der Fahrer zuverlässig einschätzen kann und dadurch erkennt, dass er die erlaubte Höchstgeschwindigkeit wesentlich überschreitet. Nur bei niedrigeren Überschreitungen müssen weitere Indizien herangezogen werden, wie etwa das Vorliegen von mehreren Geschwindigkeitsüberschreitungen in engem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang (KG, Beschl. v. 27.02.2023 - 122 Ss 16/233; OLG Hamm, Beschl. v. 05.12.2019 - 2 Rbs 267/19, jew. bei juris; OLG Zweibrücken DAR 2022, 401; OLG Celle VRS 140 Nr. 18, NStZ-RR 2017, 388, jew. m.w.N.).

Der Betroffene kannte nach den Urteilsfeststellungen die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h, die durch das entsprechende Verkehrszeichen angeordnet war. Er überschritt sie um 99 km/h und damit um 165 %. Der Senat kann es dahinstehen lassen, ob das Amtsgericht den Vorsatz tragfähig mit der bloßen Erwägung begründet hat, dass ein ordnungsgemäß angebrachtes Verkehrsschild von einem Betroffenen typischerweise wahrgenommen wird. Selbst wenn der Betroffene die Anordnung der Geschwindigkeitsbeschränkung nicht wahrgenommen hätte, hätte er die außerhalb geschlossener Ortschaften allgemein geltende Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h immer noch um 59 % überschritten, womit mangels anderweitiger Anhaltspunkte in Anbetracht der oben genannten Rechtsprechung ohne weiteres von vorsätzlichem Verhalten auszugehen ist.

2. Die Ahndung mit einer Geldbuße von 1.200 Euro und einem, zutreffend mit einer Anordnung nach § 25 Abs. 2a StVG unterlegten Fahrverbot von zwei Monaten, entspricht der zum Tatzeitpunkt im Bußgeldkatalog vorgesehenen Regelahndung (§§ 41 Abs. 1, 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO, § 24 StVG, §§ 3 Abs. 4a, 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV, § 17 OWiG, Nr. 11.3.10 BKat), bzw. bleibt hinsichtlich der Dauer des Fahrverbots sogar hinter dieser zurück. Hiervon zugunsten des Betroffenen Abstand zu nehmen, besteht mangels diesbezüglicher Anhaltspunkte kein Anlass.

III.

Die statthafte (§ 79 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 OWiG), auch im Übrigen zulässige und wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist begründet, weil die Erwägungen des Amtsgerichts eine Verkürzung des nach §§ 41 Abs. 1, 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO, § 24 StVG, § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV, Nr. 11.3.10 BKat regelmäßig zu verhängenden Fahrverbots von 3 Monaten nicht rechtfertigen.

1. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Bayreuth vom 05.01.2023 wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Zwar hat die Staatsanwaltschaft einen umfassend formulierten Rechtsbeschwerdeantrag gestellt. Eine Nr. 156 Abs. 2 RiStBV berücksichtigende Auslegung der Rechtsbeschwerdebegründung ergibt aber, dass sich die Staatsanwaltschaft nur gegen die Verkürzung des gegen den Betroffenen verhängten Fahrverbots wendet und die Verurteilung wegen vorsätzlicher Geschwindigkeitsüberschreitung von ihrem Rechtsmittelangriff ausnehmen will (vgl. BGH, Urt. v. 01.06.2023 – 4 StR 225/22 und v. 14.04.2022 – 5 StR 313/21 = NStZ-RR 2022, 201, jew. bei juris m.w.N.). Denn in ihren Einzelausführungen macht die Beschwerdeführerin lediglich geltend, dass gegen den Betroffenen ein dreimonatiges Fahrverbot hätte verhängt werden müssen. Wegen der Wechselwirkung von Geldbuße und Fahrverbot bezieht sich die Beschränkung allerdings auf den
Rechtsfolgenausspruch insgesamt.

2. Die Verkürzung des gesetzlichen Regelfahrverbots durch das Amtsgericht hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

a) Aufgrund der auch von den Gerichten zu beachtenden Vorbewertung des Verordnungsgebers in § 4 Abs. 1 BKatV ist das Vorliegen einer groben Pflichtverletzung im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG indiziert, so dass es regelmäßig der Anordnung eines Fahrverbotes als Denkzettel und Besinnungsmaßnahme bedarf. Diese Bindung der Sanktionspraxis dient der Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer und der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der durch bestimmte Verkehrsverstöße ausgelösten Rechtsfolgen. Zu diesen Rechtsfolgen zählt nicht nur die Frage, ob gegen einen Betroffenen in der Regel ein Fahrverbot zu verhängen ist (§ 4 Abs. 1 Satz 1 BKatV), sondern auch, wie sich aus § 4 Abs. 1 Satz 2 BKatV ergibt, die in der Regel festzusetzende Dauer des aufgrund einer groben Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG verwirkten Fahrverbots. Ebenso wie von der Verhängung eines Regelfahrverbots nur dann gänzlich abgesehen werden kann, wenn wesentliche Besonderheiten in der Tat oder in der Persönlichkeit des Betroffenen anzunehmen sind und deshalb der vom Bußgeldkatalog erfasste Normalfall nicht vorliegt, ist der Tatrichter vor einer Verkürzung der im Bußgeldkatalog vorgesehenen Regeldauer des Fahrverbots gehalten zu prüfen, ob der jeweilige Einzelfall Besonderheiten aufweist, die ausnahmsweise die Verkürzung rechtfertigen können und daneben eine angemessene Erhöhung der Regelbuße als ausreichend erscheinen lassen. Hier wie dort können dabei sowohl außergewöhnliche Härten als auch eine Vielzahl minderer Erschwernisse bzw. entlastender Umstände genügen, um eine Ausnahme zu rechtfertigen (st. Rspr. vgl. nur OLG Brandenburg, Beschl. v. 25.02.2020 – [1B] 53 Ss-OWi 708/19; OLG Bamberg, Beschl. v. 02.07.2018 - 3 Ss OWi 754/18, 04.05.2017 - 3 Ss OWi 550/17 und 18.03.2014 – 3 Ss OWi 274/14 - 3 Ss OWi 274/14, jew. bei juris).
Neben – hier vom Amtsgericht nicht festgestellten (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 02.07.2018 – 3 Ss OWi 754/18 = NStZ-RR 2018, 325) Fällen besonderer Härte wie zum Beispiel einem nicht oder nicht durch zumutbare Vorkehrungen abwendbaren Arbeitsplatz- oder Existenzverlust – kommt ein Absehen vom Regelfahrverbot (und damit auch eine Abkürzung desselben) allerdings auch dann in Betracht, wenn die Tat lange zurückliegt, die für eine lange Verfahrensdauer maßgeblichen Umstände außerhalb des Einflussbereichs des Betroffenen liegen und der Betroffene sich in der Zwischenzeit verkehrsordnungsgemäß verhalten hat.

Das Fahrverbot als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme kann nämlich seinen Sinn verloren haben, wenn zwischen dem Verkehrsverstoß und dem Wirksamwerden des Fahrverbotes ein erheblicher Zeitraum liegt und zwischenzeitlich kein weiteres Fehlverhalten des Betroffenen im Straßenverkehr festzustellen ist. Die obergerichtliche Rechtsprechung stellt den Sinn des Fahrverbotes nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung in Frage, wenn die zu ahndende Tat mehr als zwei Jahre zurückliegt (BayObLG DAR 2023, 223, BeckRS 2021, 46869; OLG Hamm, Beschl. v. 17.01.2023 - 5 RBs 331/22; OLG Brandenburg, Beschl. v. 08.07.2022 - 1 OLG 53 Ss-OWi 241/22 jew bei juris; OLG Zweibrücken ZfSch 2019, 173; OLG Bamberg DAR 2008, 651/652). Wurde – wie hier – ein mehrmonatiges Fahrverbot verhängt, wird einer langen Verfahrensdauer im Regelfall nicht durch einen gänzlichen Wegfall des Fahrverbots, sondern nur durch eine angemessene Herabsetzung seiner Dauer Rechnung zu tragen sein (OLG Zweibrücken ZfSch 2019, 173; BayObLG, Beschl. v. 19.02.2004 – 1 ObOWi 40/04 bei juris, jew. m.w.N.). Maßgeblich ist insoweit der Zeitraum zwischen der Tat und der letzten tatrichterlichen Verhandlung, da der Tatrichter den sich anschließenden Zeitraum bis zur Rechtskraft der Entscheidung nicht berücksichtigen kann und das Rechtsbeschwerdegericht lediglich zur Prüfung berufen ist, ob das Urteil des Tatrichters Rechtsfehler aufweist. Auch kann das Rechtsbeschwerdegericht auf der Grundlage der bindenden Feststellungen im angefochtenen Urteil nur für den Zeitraum bis zur letzten tatrichterlichen Verhandlung prüfen, ob der Betroffene vor oder nach der abgeurteilten Tat noch in anderer Weise straßenverkehrsrechtlich in Erscheinung getreten ist (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 24.09.2012 – 2 Ss OWi 1086/2012 bei juris; OLG Hamm DAR 2012, 340 f.; DAR 2011, 409; OLG Oldenburg NJW-Spezial 2011, 619).

b) Dies zugrunde gelegt erweisen sich die Erwägungen des Amtsgerichts als nicht rechtsbedenkenfrei.

aa) Zum einen lag zwischen der Tatzeit und der Aburteilung durch das Amtsgericht ein Zeitraum von weniger als 1 Jahr 6 Monaten und damit deutlich weniger als der Zeitraum, ab welchem ein Absehen von der Verhängung bzw. eine Verkürzung des Fahrverbots in Betracht zu ziehen sind. Das Amtsgericht, das in Kenntnis dieser Rechtsprechung die Verhängung eines Fahrverbots für angezeigt, jedoch in Anbetracht des mehrmonatigen Fahrverbots bereits bei einem Zeitraum von 1 Jahr 6 Monaten zwischen Tatzeit und Aburteilung eine Verkürzung für gerechtfertigt hält, übersieht, dass auch eine Verkürzung der Fahrverbotsdauer in Anbetracht der Vorwertung des Verordnungsgebers überhaupt erst dann in Betracht kommt, wenn wegen des langen Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil der Sinn des Fahrverbots infrage gestellt ist. Erst eine Zeitdauer von etwa 2 Jahren ist in diesem Zusammenhang, wie ausgeführt, geeignet, den Sinn des (3-monatigen) Fahrverbots infrage zu stellen. Angesichts der exorbitanten und vorsätzlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung wäre im Übrigen auch in diesem Fall eine sorgfältige Abwägung durch den Tatrichter erforderlich gewesen.

bb) Zum anderen hat das Amtsgericht verkannt, dass der Betroffene ausweislich seiner eigenen Feststellungen einerseits wegen eines am 03.10.2021 begangenen Führens eines Kraftfahrzeugs ohne ausreichende Profil- und Einschnittstiefe (Datum der Rechtskraft: 30.11.2021) und andererseits wegen eines am 17.12.2021 begangenen Rotlichtverstoßes (Datum der Rechtskraft: 28.01.2022) ins Fahreignungsregister eingetragen wurde. Zwar teilt das Amtsgericht die gegen den Betroffenen verhängten Sanktionen nicht mit, die Feststellungen belegen jedoch zweifelsfrei, dass sich der Betroffene nach dem von ihm am 25.07.2021 begangenen Verkehrsverstoß gerade nicht verkehrsordnungsgemäß verhalten, sondern im Gegenteil sogar zwei Verkehrsordnungswidrigkeiten begangen hat, was allein schon einer Verkürzung der Fahrverbotsfrist entgegengestanden hätte. Hierbei greift die Wertung des Amtsgerichts, der Betroffene sei nicht einschlägig wegen Geschwindigkeitsverstößen vorgeahndet, zu kurz. Durch ihre zeitnahe Begehung lassen die Verkehrsverstöße vielmehr erkennen, dass es dem Betroffenen subjektiv an der für die Teilnahme am Straßenverkehr notwendigen rechtstreuen Gesinnung und Einsicht fehlt. Nachdem insbesondere der Rotlichtverstoß, ebenso wie eine Geschwindigkeitsüberschreitung, Ausfluss des Bestrebens ist, im Straßenverkehr unter Missachtung drittschützender Verkehrsvorschriften möglichst schnell voranzukommen, besteht zwischen diesen Verstößen eine inhaltliche Vergleichbarkeit. Bei der Frage, ob die Länge des Fahrverbots ihren Sinn verloren hat, hätte daher der Rotlichtverstoß 5 Monate nach dem verfahrensgegenständlichen Vorfall berücksichtigt werden müssen.

IV.

1. Aufgrund des aufgezeigten sachlich-rechtlichen Begründungsmangels ist auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben.

2. Der Senat entscheidet gemäß § 79 Abs. 6 OWiG in der Sache selbst abschließend und erkennt auf das nach §§ 41 Abs. 1, 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO, § 24 StVG, § 3 Abs. 4a, § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV, § 17 OWiG, Nr. 11.3.10 BKat im Regelfall zu verhängende Bußgeld für eine vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung um 99 km/h in Höhe von 1.200 Euro und das im Regelfall zu verhängende Fahrverbot von 3 Monaten und verbindet dies mit einer Anordnung nach § 25 Abs. 2a StVG.

Besondere Härten hinsichtlich der Anordnung und der Dauer des Fahrverbots sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Das Amtsgericht hat die Verkürzung der Fahrverbotsdauer einzig mit der langen Verfahrensdauer und der fehlenden „einschlägigen“ Vorahnung des Betroffenen wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes begründet.

Einer Entscheidung nach § 79 Abs. 6 OWiG steht auch nicht entgegen, dass das Amtsgericht keine Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen getroffen hat. Solche sind entbehrlich, solange die im Bußgeldkatalog vorgesehene Regelgeldbuße verhängt wird und sich, wie hier, keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass seine wirtschaftlichen Verhältnisse außergewöhnlich gut oder schlecht sind (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 08.05.2023 - 1 Ss [OWi] 8/23; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 31.05.2022 - 1 OWi 2 Ss Bs 89/21; KG, Beschl. v. 26.01.2022 - 3 Ws [B] 1/22; OLG Braunschweig, Beschl. v. 20.10.2015 - 1 Ss [OWi] 156/17, jew. bei juris; OLG Celle DAR 2015, 101 m.w.N.; vgl. auch BayObLG, Beschl. v. 17.10.2019 - 202 ObOWi 948/19 bei juris). Dies gilt auch dann, wenn, wie hier, auf den für eine vorsätzliche Begehungsweise nach § 3 Abs. 4a BKatV vorgesehenen Regelsatz erkannt wird (OLG Hamm, Beschl. v. 12.08.2021 - 4 RBs 217/21; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 24.11.2017 - 1 OWi 2 Ss Bs 87/17, jew. bei juris).

V.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 473 Abs. 1 Satz 1, 465 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.

Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.

Die Rechtskraft der Entscheidung des Senats tritt mit Ablauf des Tages der Beschlussfassung ein (§ 34a StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG).


Einsender: RiBayObLG Dr. G. Gieg, Bamberg

Anmerkung:


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