Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.09.2023 – 1 Ws 141/23
Eigener Leitsatz:
Zur Gewährung von Akteneinsicht an die Verletzte, die sich dem Verfahren als Nebenklägerin angeschlossen hat.
In pp.
Die Beschwerde des Angeschuldigten gegen den Beschluss des Landgerichtes Neuruppin vom 04. August 2023 wird als unbegründet verworfen.
Der Angeschuldigte hat die Kosten seines Rechtsmittels sowie die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Nebenklägerin zu tragen.
Gründe
I.
Dem Angeschuldigten wird mit der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Neuruppin vom 13. April 2023 vorgeworfen, zum Nachteil der Nebenklägerin im Zeitraum vom Januar 2019 bis Ende November 2019 in zehn Fällen eine Vergewaltigung, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, begangen zu haben. Bei der Geschädigten handelt es sich um die Ehefrau des Angeschuldigten. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens ist noch nicht entschieden.
Die Geschädigte hat am 12. Juni 2020 ihren Anschluss als Nebenklägerin erklärt. Mit Beschluss vom 23. November 2020, Az.: 89 Gs 1797/20 hat das Amtsgericht Neuruppin der Verletzten einen Verfahrensbeistand gemäß § 406 h StPO bestellt (Bl. 79 d. A.). Am 04. Mai 2023 hat die zum Verletztenbeistand bestellte Rechtsanwältin Akteneinsicht beantragt. Unter dem 15. Juni 2023 hat die als Verletztenbeistand tätige Rechtsanwältin erklärt, sie werde nach Absprache mit der Verletzten dieser weder die Akte samt Gutachten zur Verfügung stellen noch ihr Inhalte zur Kenntnis geben. Die begehrte Akteneinsicht hat der stellvertretende Vorsitzende der Strafkammer mit Entscheidung vom 04. August 2023 bewilligt, allerdings deren tatsächliche Gewährung für den Fall der Beschwerdeerhebung bis zur Entscheidung des Beschwerdegerichtes zurückgestellt. Der gegen den Beschluss gerichteten Beschwerde des Angeschuldigten vom 09. August 2023, die mit dem anwaltlichen Schriftsatz vom 14. August 2023 begründet wurde, hat der stellvertretende Vorsitzende der Strafkammer mit Vermerk vom 17. August 2023 nicht abgeholfen.
Die Akten sind unter dem 17. August 2023 zur Entscheidung über die Beschwerde des Angeschuldigten gegen den Beschluss des Landgerichtes Neuruppin vom 04. August 2023 an das Brandenburgische Oberlandesgericht übersandt worden und dort am 04. September 2023 eingegangen.
Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat beantragt, die Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Neuruppin vom 04. August 2023 als unbegründet zu verwerfen. Der Angeschuldigte hatte Gelegenheit zur Stellungnahme, wovon er Gebrauch gemacht hat.
II.
1. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere gemäß § 304 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 406e Abs. 5 Satz 4 StPO statthaft, denn die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen abgeschlossen und Anklage erhoben.
2. Die Beschwerde hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
a) Die Verletzte hat gemäß § 406e Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Satz 2 StPO über ihre Rechtsanwältin auch ohne Darlegung eines berechtigten Interesses einen Anspruch auf umfassende Einsicht in die Verfahrensakten, denn es liegt ein in § 395 StPO genannter Fall vor. Die Verletzte ist laut der Anklage vom 13. April 2023 durch rechtswidrige Taten nach §§ 177 und 223 StGB verletzt, so dass sie sich nach § 395 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 StPO der öffentlichen Klage mit der Nebenklage anschließen kann. Es steht lediglich die Entscheidung des Gerichtes über die Befugnis zum Anschluss aus.
b) Es ist nicht zu beanstanden, dass der stellvertretende Vorsitzende der Strafkammer die beantragte Akteneinsicht gewährt und nicht nach § 406e Abs. 2 StPO abgelehnt hat.
aa) Nach § 406e Abs. 2 Satz 1 StPO ist die Einsicht in die Akten zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen. Bei der Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht sind daher die Interessen der Betroffenen gegeneinander abzuwägen. Vorliegend sind bei der Abwägung insbesondere die Schwere der gegen den Angeschuldigten erhobenen Tatvorwürfe und der Umstand zu berücksichtigen, dass angesichts der Erhebung der öffentlichen Klage ein erheblicher Verdachtsgrad gegen ihn besteht. Hiernach kommt dem Interesse der mutmaßlichen Verletzten und künftigen Nebenklägerin, den vollständigen Akteninhalt kennenzulernen, ein hohes Gewicht zu. Besonders sensible Daten des Angeschuldigten, wie sie etwa in medizinischen oder psychiatrischen Gutachten enthalten sein können, sind vorliegend nicht Aktenbestandteil; der den Angeschuldigten betreffende Auszug aus dem Bundeszentralregister enthält einige Eintragungen bezüglich Vorstrafen sowie Suchvermerke, allerdings wird er ohnehin im Falle der Eröffnung des Hauptverfahrens Gegenstand der mündlichen Erörterung in der Hauptverhandlung. Soweit Zeugen genannt sind, enthält die Akte keine sensiblen Daten, die über die Schilderung der dem Angeschuldigten zur Last gelegten Straftaten hinausgehen.
bb) Ein Versagungsgrund nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO besteht ebenso wenig. Nach dieser Vorschrift kann dem Berechtigten die Akteneinsicht versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks kann angenommen werden, wenn zu befürchten ist, dass bei Gewährung der Akteneinsicht die Sachaufklärung beeinträchtigt wird, weil etwa - wie hier vom Verteidiger insbesondere im Hinblick auf das erstellte aussagepsychologische Gutachten geltend gemacht - die Kenntnis der Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer von ihr noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen kann (vgl. KG, NStZ 2016, 438; OLG Braunschweig, NStZ 2016, 629). Allein die Rolle der Verletzten als Zeugin in dem anhängigen Strafverfahren und die deshalb durch das Akteneinsichtsrecht grundsätzlich eröffnete Möglichkeit einer „Präparierung" ihrer Aussage anhand des Akteninhalts reicht für eine Versagung der Akteneinsicht nicht aus (vgl. Beschluss des Senates vom 06. Juli 2020, Az.: 1 Ws 81/20; Hanseatisches OLG Hamburg, NStZ 2015, 105). Denn zum einen geht mit der Wahrnehmung des gesetzlich eingeräumten Akteneinsichtsrechts nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher (vgl. BGH, NStZ 2016, 367; OLG Braunschweig NStZ 2016, 629). Zum anderen würde durch die generalisierende Annahme, dass mit der Akteneinsicht durch den Verletztenbeistand die Glaubhaftigkeit der Angaben eines Verletzten stets in besonderer Weise in Zweifel zu ziehen sei, seine freie Entscheidung, Akteneinsicht zu beantragen, beeinträchtigt werden; gerade denjenigen, die Opfer einer Straftat geworden sind, würden damit die Schutzfunktionen der §§ 406 d f. StPO entzogen (vgl. BGH, a.a.O.; der Senat a.a.O.; KG, NStZ 2016, 438; KG, Beschluss vom 21. November 2018, Az.: 3 Ws 278/18, juris; OLG Düsseldorf, StV 1991, 202).
Auch unter Berücksichtigung der vorliegenden Aussagekonstellation erscheint die Annahme eines geringen Grades der Gefährdung des Grundsatzes der Wahrheitsermittlung angesichts der von der als Verletzenbeistand tätigen Rechtsanwältin abgegebenen Zusicherung, ihrer Mandantin weder die Akte samt Gutachten zur Verfügung zu stellen noch ihr Inhalte zur Kenntnis zu geben, und der möglichen Vernehmung der Verletzten als Zeugin zu dieser Frage nicht ermessensfehlerhaft (vgl. der Senat a.a.O.; OLG Braunschweig, a.a.O.). Der Senat geht davon aus, dass Rechtsanwältin („Name 02“) als erfahrene Vertreterin der Nebenklage mit den erhöhten Anforderungen des Bundesgerichtshofes an die tatrichterliche Beweiswürdigung vertraut ist, wie sie in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation auch in Bezug auf die Bedeutung der Konstanzanalyse gelten, und infolgedessen auch bemüht sein wird, den Beweiswert der Aussage ihrer Mandantin nicht zu reduzieren.
Zwar ist dem Beschwerdeführer insoweit zuzustimmen, dass die Einhaltung einer solchen Zusage weder erzwungen noch sanktioniert werden könnte. Die Einhaltung der Verzichtserklärung ist indes für das Tatgericht überprüfbar. Denn es kann und muss die Verletzte als Zeugin befragen. Anders als der Angeschuldigte, später möglicherweise der Angeklagte, ist die Verletzte und künftige Nebenklägerin als Zeugin zur Wahrheit verpflichtet und muss für den Fall einer Lüge mit einer erheblichen Strafe rechnen. Eine „Präpararation“ durch ihren Beistand anhand der aus der Akte gewonnenen Erkenntnissen, insbesondere des erstellten aussagepsychologischen Gutachtens dürfte einer erfahrenen Vernehmungsperson, zu denen Strafrichter zu zählen sind, in aller Regel nicht verborgen bleiben. Die mögliche Aktenkenntnis der künftigen Zeugin kann hiernach bei der Beweiswürdigung - soweit erforderlich - berücksichtigt werden (vgl. BGH, NJW 2005, 1519). Dabei dürfte es sich im Ergebnis eher zu Gunsten als zu Lasten des Angeklagten auswirken, wenn eine festgestellte Konstanz in der Aussage der Verletzten wegen einer vorherigen Akteneinsicht an Wert für die Beurteilung ihrer Angaben als richtig verliert.
c) Eine Versagung der Akteneinsicht nach § 406e Abs. 2 Satz 3 StPO wegen drohender erheblicher Verfahrensverzögerung kommt ersichtlich nicht in Betracht.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.
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