Diese Homepage verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf die Website zu analysieren. Außerdem gebe ich Informationen zu Ihrer Nutzung meiner Website an meine Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter.

OK Details ansehen Datenschutzerklärung

Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Unfähigkeit der Selbstverteidigung, Betreuer, psychische Beeinträchtigung, rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Berlin, Beschl. v. 21.09.2023 - 517 Qs 33/23

Eigener Leitsatz:

1. Ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt vor, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht selbst verteidigen kann, weil der Beschuldigte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an einer paranoiden Schizophrenie leider, weder lesen noch schreiben kann, in ihrem Gedankengang assoziativ gelockert bis zerfahren und wahnhaft ist.
2. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers kann rückwirkend nach Einstellung des Verfahrens erfolgen, und zwar jedenfalls dann, wenn der Beiordnungsantrag vor einer Verfahrenseinstellung ordnungsgemäß gestellt und darüber allein aufgrund justizinterner Verzögerungen nicht entschieden worden ist.


LG Berlin
517 Qs 33/23

In der Strafsache
gegen pp.

Verteidiger:
Rechtsanwalt

wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung

hat die 17. große Strafkammer des Landgerichts Berlin am 21. September 2023 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin wird der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 10. Juli 2023 aufgehoben.
Der Beschwerdeführerin wird mit Wirkung zum 3. April 2023 Rechtsanwalt pp., zum Pflichtverteidiger bestellt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Beschwerdeführerin insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe:

I.

Die Berliner Polizei leitete am 28. Oktober 2022 Ermittlungen gegen die vormalige Beschuldigte und hiesige Beschwerdeführerin ein wegen des Verdachts der versuchten gefährlichen Körperverletzung.

Am 3. April 2023 beantragte der Verteidiger gegenüber der ermittelnden Polizeibeamtin und am Tag darauf mit gleichlautendem Antrag gegenüber dem Amtsgericht Tiergarten, das den Antrag jedoch unbearbeitet an die Amtsanwaltschaft Berlin weiterleitete, seine Beiordnung als Pflichtverteidiger der Beschwerdeführerin. Zur Begründung führte er unter Bezugnahme auf ein psychiatrisches Gutachten der Sachverständigen pp. vom 19. März 2021 und einen Betreuungsbeschluss des Amtsgerichts Mitte vom 24. März 2021 unter anderem aus, dass die Beschwerdeführerin psychisch krank sei, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit unter einer paranoiden Schizophrenie leide und unter Betreuung stehe.

Mit Bericht vom 13. April 2023 wurden die polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen und der Vorgang an die Amtsanwaltschaft Berlin übersandt, die das Verfahren wiederum im Anschluss der Staatsanwaltschaft Berlin zur Übernahmeprüfung vorlegte.

Mit Verfügung vom 7. Juni 2023 stellte die Staatsanwaltschaft Berlin das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein.

Mit Verfügung vom 5. Juli 2023 hat die Staatsanwaltschaft Berlin das Verfahren dem Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Tiergarten vorgelegt mit dem Antrag, den Beiordnungsantrag abzulehnen.

Mit Beschluss vom 10. Juli 2023 hat das Amtsgericht Tiergarten - 352 Gs 2815/23 - den Beiordnungsantrag zurückgewiesen, da das Verfahren bereits gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden und die Pflichtverteidigerbestellung rückwirkend unzulässig sei.
Hiergegen richtet sich die fristgerechte sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin, mit der sie die Beiordnung ihres Verteidigers unter Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts Tiergarten begehrt.

Die zulässige sofortige Beschwerde ist begründet.

Die Ablehnung des Antrags des Verteidigers auf Beiordnung als Pflichtverteidiger ist rechtswidrig.

Dem Antrag ist stattzugeben, weil die Voraussetzungen der Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und die Bestellung auch rückwirkend erfolgen kann.

1. Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO wird in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt.

Ein solcher Fall der notwendigen Verteidigung liegt hier gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor, weil ersichtlich ist, dass sich die Beschwerdeführerin, der auch der Tatvorwurf eröffnet worden ist und die noch keinen Verteidiger hatte, aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht selbst verteidigen kann. Denn ausweislich des aufgrund der Betreuerbestellung eingeholten psychiatrischen Gutachtens leidet die krankheits- und behandlungsuneinsichtige Beschwerdeführerin mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an einer paranoiden Schizophrenie, kann weder lesen noch schreiben, ist in ihrem Gedankengang assoziativ gelockert bis zerfahren und wahnhaft. Sie sei, so die psychiatrische Sachverständige, krankheitsbedingt nicht in der Lage, im Hinblick auf eine Betreuung einen freien Willen zu bilden, sondern ganz in ihrem eigenen Erleben gefangen. Die Unfähigkeit der Beschwerdeführerin zur Selbstverteidigung wird darüber hinaus dadurch belegt, dass sie vom Amtsgericht Mitte aufgrund ihrer psychischen Erkrankung unter Betreuung gestellt worden ist, wobei zum Aufgabenkreis des Betreuers unter anderem die Vertretung gegenüber Behörden zählt.

Ein Absehen von der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO kommt nicht in Betracht, da dies ausweislich des ausdrücklichen Wortlauts sich lediglich auf Beiordnungen bezieht, die von Amts wegen erwogen werden (vgl. nur Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 141 Rn. 17).

2. Die Beiordnung kann auch seit Neureglung des Rechts der notwendigen Verteidigung rückwirkend nach Einstellung des Verfahrens erfolgen, und zwar jedenfalls dann, wenn der Beiordnungsantrag - wie hier - vor der Verfahrenseinstellung ordnungsgemäß gestellt und darüber allein aufgrund justizinterner Verzögerungen nicht entschieden worden ist. Denn es ist gerade der Wille des Gesetzgebers und der damit umgesetzten Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (sogenannte PKH-Richtlinie) gewesen, nicht nur eine ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten (vgl. insoweit bereits Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie [EU] 2013/48 u.a. über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren), sondern gerade auch mittellose Beschuldigte im Fall der notwendigen Verteidigung von den Kosten ihrer Verteidigung freizustellen (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 2, 36). Diese vom Gesetzgeber und der Richtlinie intendierte effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten liefe jedoch ins Leere, wenn ein Beschuldigter, der sich auf sein Recht auf Pflichtverteidigerbestellung beruft und einen Verteidiger konsultiert, unter Umständen damit rechnen muss, - wie hier aufgrund justizinterner Verzögerung - unverschuldet mit den Kosten seines Rechtsbeistandes belastet zu werden (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 142 Rn. 20 m.w.N.; Krawczyk, in: BeckOK StPO, 47. Edition v. 1. April 2023, § 142 Rn. 30 m.w.N.; Kämpfer/Travers, in: MüKoStPO, 2. Auflage 2023, § 142 Rn. 14; OLG Stuttgart, Beschluss vom 15. Dezember 2022 - 4 Ws 529/22 -, juris Rn. 17 ff.; OLG Nürnberg Beschluss vorn 6. November 2020 - Ws962/20, Ws963/20 BeckRS 2020, 35193 Rn. 25ff; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 - 1 Ws 260/21 -, juris Rn. 14 ff.; LG Berlin, Beschluss vorn 6. Oktober 2022 - 511 Qs 79/22 -, BA S. 4 ff.; LG Hamburg, Beschluss vom 5. April 2022 - 612 Qs 6/22 -, juris Rn. 7 ff. rn.w.N.; LG Stade, Beschluss vom 30. September 2021 - 102 Qs 41/21 -, juris Rn. 9 ff.).

Angesichts der gesetzgeberischen Intention und der nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV normierten effet utile-Grundsatz zwingend zu berücksichtigenden europäischen Vorgaben überzeugt die Gegenansicht (vgl. Willnow, in: KK-StPO, 9. Auflage 2023, § 142 Rn. 16; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 - 2 Ws 112/20 -, juris Rn. 15 f.; KG, Beschlüsse vom 6. Februar 2023 - 6 Ws 169/22 - 121 AR 275/22 -, BA S. 5 ff.; vorn 9. April 2020 - 2 Ws 30 ¬31/20 -, juris Rn. 15; vom 30. Dezember 2019 - 4 Ws 115/19 -, BA S. 3 f.; vom 20. August 2019 -4 Ws 81/19 -, BA S. 3 f.; LG Berlin, Beschluss vorn 21. Dezember 2022 - 534 Qs 97/22 -, BA S. 2 ff.; zur alten Rechtslage nur BGH, Beschluss vom 20. Juli 2009 - 1 StR 344/08 -, juris Rn. 4) nicht. Danach sei die Beiordnung zum Pflichtverteidiger nach Abschluss des Verfahrens nicht möglich, weil die Beiordnung im Strafprozess nicht im Kosteninteresse des Beschuldigten, sondern - wie nach alter Rechtslage - allein dem Zweck diene, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten. Dies stünde auch im Einklang mit der PKH-Richtlinie, die in Art. 4 Abs. 1 den „Anspruch auf Prozesskostenhilfe" nur dann von den Mitgliedstaaten sichergestellt wissen will, „wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich" sei (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 15). Dieses Interesse sei jedoch mit dem Abschluss des Verfahrens entfallen (vgl. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 5). Einen „Systemwechsel" von der Prüfung des Rechtspflegeinteresses hin zu einer Bedürftigkeitsprüfung habe der hiesige Gesetzgeber nicht beabsichtigt (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 16).
Die Gegenansicht verkennt, dass „das Interesse der Rechtspflege" im Sinne des Art. 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie nicht allein auf ein objektiv-organisatorisches Erfordernis reduziert werden darf, sondern im Lichte des - im Erwägungsgrund 3 der PKH-Richtlinie ausdrücklich in Bezug genommenen - Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (dort „Interesse der Rechtspflege") weit im Sinne von Verfahrensgerechtigkeit gegenüber dem Beschuldigten bzw. Angeklagten zu verstehen ist (vgl. OLG Stuttgart, a.a.O., Rn. 20 m.w.N.; zu Art. 6 EMRK: Gaede, MüKoStPO, 1. Auflage 2018, Art. 6 EMRK Rn. 209). Folgerichtig stellt der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung auch klar, dass kein Raum für eine über das Vorliegen eines Falles der notwendigen Verteidigung hinausgehende weitere Prüfung des Rechtspflegeinteresses besteht, wenn im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und die übrigen Antragsvoraussetzungen des § 141 StPO gegeben sind. In einem solchen Fall muss die Bestellung unverzüglich, das heißt nicht sofort, aber so rechtzeitig erfolgen, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 37).

Zudem dient die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht nur dazu, einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt zu schaffen, sondern mittelbar auch den Interessen des Beschuldigten, Angeklagten oder Verurteilten an einer ordnungsgemäßen Verteidigung. Denn auch wenn es die Pflicht eines Verteidigers ist, ab dem Moment der Mandatsübernahme bestmöglich im Sinne des Mandanten tätig zu werden, liegt die Befürchtung nicht fern, dass ein Verteidiger trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung und rechtzeitiger Bestellung im Wissen um die - andernfalls bestehende - Möglichkeit, letztlich keine Vergütung zu erhalten, nicht im gleichen Maße für seinen Mandanten tätig wird, wie dies bei einer Wahlverteidigung mit einem solventen Mandanten der Fall wäre (vgl. zu alldem OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021, a.a.O., Rn. 15 f.; a.A. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 6). Diesen Gedanken, dass dem Beschuldigten ab Eröffnung des Tatvorwurfs unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen schnellstmöglich anwaltlicher Rat zur bestmöglichen Wahrnehmung seiner Interessen zur Verfügung stehen muss, hat der Gesetzgeber durch die Schaffung des Unverzüglichkeitsgebots in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO deutlich gemacht (vgl. OLG Bamberg, a.a.O., Rn. 16).

Die (ausnahmsweise) Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung zum Pflichtverteidiger steht darüber hinaus auch im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur rückwirkenden Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Diese kommt nach § 397a Abs. 2 StPO bzw. § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nämlich grundsätzlich bei bereits abgeschlossenen Verfahren nicht in Betracht. Denn Aufgabe der Prozesskostenhilfe sei es nach Ansicht des BGH nicht, finanziell bedürftige Personen für prozessbedingte Kosten oder dafür eingegangene Verpflichtungen nachträglich zu entschädigen. Etwas anderes gelte aber ausnahmsweise dann, wenn ein vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens mit den erforderlichen Unterlagen gestellter Bewilligungsantrag nicht bzw. nicht vorab beschieden worden sei und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan habe (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 2021 - 5 StR 222/20 -, juris Rn. 4, st. Rspr). Sachliche Gründe, die die unterschiedliche Behandlung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und eines Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Zwar ist es richtig, dass die Pflichtverteidigerbestellung anders als die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht an die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse knüpft, also nicht allein den mittellosen Beschuldigten bzw. Angeklagten im Blick hat (vgl. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 6). Entscheidend ist aber, dass beide Instrumente dem Betroffenen bei Vorliegen der Antragsvoraussetzungen effektiven Zugang zu anwaltlichem Rat verschaffen sollen (vgl. OLG Bamberg, a.a.O. Rn. 18 f.).

3. Die Landeskasse Berlin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin, weil sonst niemand dafür haftet.


Einsender: RA M. Bair, Berlin

Anmerkung:


zurück zur Übersicht

Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.

Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".