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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Verteidigerwechsel, Revisionsinstanz, Frist, Wiedereinsetzung

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 01.09.2023 - 3 ORs 52/23 -- 161 Ss 130/22

Eigener Leitsatz:

Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist. zur Anbringung des Antrags auf Verteidigerwechsel für die Revisionsinstanz nach § 143a Abs. 3 Satz 1 StPO.


KAMMERGERICHT
Beschluss

3 ORs 52/23 -- 161 Ss 130/22

In der Strafsache gegen
wegen Vergewaltigung

hat der 3. Senat des Kamrnergerichts am 1.September'2023 - zu 4. und 5. durch seine Vorsitzende - gemäß § 349 Abs. .2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 1. März. 2023 im Strafausspruch aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
3. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung- auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen:
4. Der Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist des § 143a Abs. 3 Satz 1 StPO für den Antrag auf Auswechslung des Verteidigers in der Revisionsinstanz wird als unzulässig verworfen.
5. Der Antrag des Angeklagten, ihm Rechtsanwalt Dr. pp. als Verteidiger zu bestellen, wird abgelehnt.

Gründe:

Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten am 1. März 2023 wegen einer am 1. Juli 2019 begangenen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Der Strafzumessung hat das Gericht folgende Erwägungen zu Grunde gelegt:

„Im Rahmen der Strafzumessung war von dem besonders schweren Fall des § 177 Abs. 6 Nr. [1] auszugehen, der die Verhängung von Freiheitsstrafe von zwei Jahren bis zu fünfzehn Jahren vorsieht Im Rahmen der konkreten Strafzumessung hatte sich strafmildernd auszuwirken, dass der Angeklagte bis dato unbestraft war und die Tat nun dreieinhalb Jahre zurückliegt. Zu seinen Lasten ist anzuführen, dass die Tat durch das vollständige Eindringen mit dem Geschlechtsteil begangen wurde und die Geschädigte über längere Zeit durch die Tat erheblich belastet und in ihrer Lebensführung eingeschränkt war. Unter Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände war auf eine tat- und schuldangemessene Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten zu erkennen."

Gegen das Urteil hat der damalige Pflichtverteidiger des Angeklagten form- und fristgemäß Berufung eingelegt. Die schriftlichen Urteilsgründe wurden ihm am 24. April 2023 zugestellt. Bereits am 22. März 2023 hatte sich der Wahlverteidiger Dr. pp. gemeldet und Akteneinsicht begehrt, die ihm nach einer entsprechenden Verfügung der Abteilungsrichterin vom 19. April 2023 bis zur Aktenrückgabe am 11. Mai 2023 gewährt wurde. Mit Schriftsatz vom 23. Mai 2023 hat der Wahlverteidiger für den Angeklagten den Übergang zur (Sprung-)Revision erklärt und unter Hinweis auf die Unterschrift der Abteilungsrichterin die Verletzung materiellen Rechts, insbesondere der Vorschrift des § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO, gerügt. Gleichzeitig hat er seine Beiordnung nach § 143a Abs. 3 StPO beantragt. Angesichts der erst mit dem eingereichten Schriftsatz, „rückwirkend" in. Lauf gesetzten Revisionsbegründungsfrist sei es nicht möglich gewesen, den Beiordnungsantrag vorher zu stellen, weshalb er vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantrage. Wegen der Einzelheiten wird auf die Revisionsbegründungsschrift vom 23. Mai 2023 verwiesen. Mit Beschluss vom 3. Juli 2023 hat das Amtsgericht Tiergarten den bisherigen Pflichtverteidiger mit Blick auf den nunmehr aufgetretenen Wahlverteidiger entpflichtet.

Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat mit Zuschrift vom 8. August 2023 beantragt, die Revision des Angeklagten gemäß § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet zu verwerfen und den Antrag des Angeklagten, ihm für das Revisionsverfahren Rechtsanwalt Dr. pp. als Verteidiger beizuordnen, zurückzuweisen. Der Schriftsatz des Wahlverteidigers vom 22. August 2023 lag vor.

Die zulässige Revision des Angeklagten hat - im tenorierten Umfang - (zumindest vorläufig) Erfolg.

1. Der nach fristgemäßer Einlegung des Rechtsmittels der Berufung innerhalb der Revisionsbegründungsfrist (§ 345 Abs. 1 StPO) gegenüber dem Amtsgericht Tiergarten erklärte Übergang zur (Sprung-) Revision (§ 335 StPO) ist zulässig (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Aufl., § 335 Rn. 10).

2. Die Rüge der Verletzung des § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO, das Urteil sei durch die Richterin nicht ordnungsgemäß unterzeichnet worden, bleibt erfolglos.

Entgegen der Rechtsauffassung des Angeklagten genügt der vorliegende Schriftzug den gesetzlichen und insbesondere den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an die ordnungsgemäße Unterschrift eines Richters unter die Urteilsgründe.

Nach § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO hat die erkennende Richterin das von ihr verfasste schriftliche. Urteil zu unterschreiben. Weitere Anforderungen an das Schriftbild der Unterschrift sieht das Gesetz nicht vor. Was unter einer Unterschrift zu verstehen ist, ergibt sich demnach aus dem Sprachgebrauch und dem Zweck der Formvorschrift. Mit der Unterschrift beurkundet der Berufsrichter die Übereinstimmung der Urteilsgründe mit dem Beratungsergebnis (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Aufl., § 275 Rn. 19). Entsprechend diesem Normzweck kommt es maßgeblich darauf an, dass der Unterschrift auch die Urheberschaft zu entnehmen ist. Auch wenn die Unterschrift, die aus dem Familiennamen des Unterzeichnenden zu bestehen hat, nicht lesbar sein muss, so muss sie ihren Urheber erkennen lassen. Steht die Urheberschaft - wie, hier - außer Frage, ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für die Akzeptanz einer unleserlichen Unterschrift ein großzügiger Maßstab anzuwenden und zwar auch, wegen der Variationsbreite, die selbst Unterschriften ein und derselben Person aufweisen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. April 2012 - VII ZB 36/10 - m. w. N., BGH, Urteil vom 10. Juli 1997 - IX ZR 24/97 - m. w. N.; beide juris und bezogen auf die Anforderungen an die Unterschrift eines Rechtsanwalts bei Einlegung einer Berufung). So ist es ausreichend, dass jemand, der den Namen des Unterzeichnenden und dessen Unterschrift kennt, den Namen aus dem Schriftbild herauslesen kann (ständige Rechtsprechung des Senats, zuletzt Beschlüsse vom 2. Februar 2022 - 3, Ws (B) 10/22 - und 4: Januar 2021 3 Ws (B) 322/20 - jeweils m. w. N.; siehe auch Beschlüsse vom 23. März 2020 - 3 Ws (B) 53/20 -, 2. April 2019 - 3 Ws (B) 81/19 -, 2. Februar 2016 - 3 Ws (B) 60/16 -; 7. März 2014 - (4) 161 Ss 45/14 (58/14) -, jeweils juris m. w. N.; OLG Köln, Beschluss vom 19. Juli 2011 -111-1 RVs 166/11 -, juris). Das setzt zwar voraus, dass mindestens einzelne Buchstaben zu erkennen sind, weil es sonst am Merkmal einer Schrift überhaupt fehlt (BGH, Beschluss vom 11. Oktobers 1984 - X ZB 11/84 -, juris; Senat a. a. 0.; OLG Köln a. a. 0.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Einleitung Rn. 129 bezogen auf die Unterschrift eines Rechtsanwaltes bei bestimmenden Schriftsätzen m. w. N.). Jedoch ist es unschädlich, wenn der Namenszug nur flüchtig niedergelegt' und von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichnet ist (BGH, Beschluss vom 26. April 2012, a.a.O.; Senat, Beschluss vom 25. Februar 2015 - 3 Ws (B) 27/15 -). Die Grenze individueller Charakteristik ist demgegenüber bei der Verwendung bloßer geometrischer Formen oder einfacher (gerader oder nahezu gerader) Linien überschritten (Senat, Beschlüsse vom 2. Februar 2022 - 3 Ws (B) 10/22 - und 4. Januar 2021 - 3 Ws (B) 322/20 -jeweils m. w. N.; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 28. Mai 2003 - 1 ObOWi 177/03 -, juris).

Unter. Zugrundelegung dieses von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten großzügigen Maßstabes sind die Voraussetzungen einer wirksamen Unterzeichnung hier (noch) gegeben.

Das handschriftliche Gebilde, mit dem die erkennende Richterin das Urteil unterschrieben hat, steht für ihren Namen. Die Unterschriftsleistung trägt individuelle Züge und zeigt charakteristische Merkmale auf, die es jemandem, der den Namen der Unterzeichnenden und deren Unterschrift kennt, ermöglicht, ihren Namen aus dem Schriftbild herauszulesen. Aus dem gegen den Uhrzeigersinn ersichtlich schwungvoll ausgeführten Bogen lässt sich die „obere• Hälfte" und damit eine verkümmerte Version des Groß- und Anfangsbuchstabens ihres Namens „S" herauslesen. Der sich daran nahtlos anschließende nach oben verlaufende und leicht geschwungene Aufstrich soll offenbar für den Rest des Familiennamens stehen, der sich infolge häufiger Verwendung des Namenszuges bereits erheblich abgeschliffen hat. Bei Betrachtung des so entstandenen Gesamtgebildes sind in Ansehung des großzügig angebrachten Bogens - in Kenntnis des Namens der Richterin - zudem die weiterhin in ihrem Familiennamen enthaltenen Buchstaben „c" und „e" herauszulesen. Damit enthält der Schriftzug mehrere - wenn auch verkümmerte bzw. erst bei Gesamtbetrachtung des Gebildes herauslesbare - Buchstaben. In Fällen der - wie vorliegend - zweifelsfreien Urheberschaft ist dies ausreichend. Eine andere Deutung lässt sich auch vor dem Hintergrund ausschließen, dass die Nachahmung dieses Gebildes aufgrund seiner individuellen Proportionen und seines charakteristischen Schwunges, der erkennbar ohne Absetzen des Stiftes aufgebracht ist, schwerfallen dürfte und sich auch in Zusammenschau der vorliegenden Umstände keine Hinweise darauf ergeben, dass die Richterin die Urschrift der Urteilsgründe nur mit einem Kürzel für den inneren Betrieb unterzeichnen wollte.

Dies gilt umso mehr, als auch nicht unberücksichtigt gelassen werden darf, dass unter dem handschriftlich aufgebrachten Schriftzug der Name der erkennenden Richterin in Druckbuchstaben eingefügt ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juli 1997, a.a.O.; BGH, Beschluss vom 8. Oktober 1991 - XI ZB 6/91 -;jeweils juris, beide für die Unterschrift eines Rechtsanwaltes in bestimmenden Schriftsätzen; Senat, Beschluss vom 2. Februar 2022 - 3 Ws (B) 10/22 -; siehe auch Beschlüsse vom 23. März 2020 - 3 Ws (B) 53/20 -, 2. April 2019 - 3 Ws (B) 81/19 -, 2. Februar 2016 - 3 Ws (B) 60/16 -, jeweils juris).

Soweit die Verteidigung vorträgt, dass hier ein Phantasiezeichen vorliege und sich unter Vorlage eines Schreibschriftalphabets für Schreibanfänger auf die Suche nach (irgendwelchen) Buchstaben zu begeben vorgibt, verliert sie den oben dargelegten und - angesichts der auch von ihr selbst nicht angezweifelten Urheberschaft - vorliegend anzuwendenden Maßstab aus dem Blick. Im Fall der gesicherten Urheberschaft geht es gerade nicht darum, aus einem Schriftzug andere als im Namen der Unterzeichnerin enthaltene Buchstaben oder, Wörter herauszulesen oder das vorliegende. handschriftliche Gebilde ganz oder in Teilen einer anderweitig phantasievollen Deutung zuzuführen, sondern es kommt - wie oben dargestellt -maßgeblich darauf an, ob eine Person in Kenntnis von Namen und Unterschrift des Unterzeichners diesen Namen unter Bestimmung von zumindest einzelnen Buchstaben aus dem von individueller Charakteristik geprägten Schriftzug herauslesen kann und damit eire Zuordnung der Unterschrift zu ihrem Urheber bzw. ihrer Urheberin möglich ist.

3. Die auf die erhobene allgemeine Sachrüge hin gebotene Überprüfung deckt hinsichtlich des Schuldspruches keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Die Urteilsfeststellungen tragen die Verurteilung des Angeklagten.

4. Die Ausführungen zum Strafausspruch halten einer revisionsrechtlichen Nachprüfung demgegenüber nicht stand, da es an der gemäß § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO erforderlichen Darlegung von Umständen fehlt, die für die Zumessung der Strafe bestimmend sind. Dies betrifft vorliegend die Wahl des richtigen Strafrahmens.

Trifft die Erfüllung eines Regelbeispiels wie vorliegend § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB - mit gewichtigen Milderungsgründen zusammen, hat das Gericht im Rahmen der Strafrahmenwahl zunächst zu prüfen, ob eine Ausnahme von der Regelwirkung vorliegt, so dass von dem Normalstrafrahmen auszugehen ist (BGH, Beschlüsse vom 21. Juli 2015 - 3 StR 217/15 -,10. September 2009 4 StR 366/09 - und 31. Juli 2007 - 4 StR 316/07 -, alle juris m. w. N.; Senat, Beschluss vom 12. Dezember 2019 - (3) 121 Ss 123/19 (86/19) -). Die Indizwirkung des Regelbeispiels bei § 177 Abs: 6 Satz 2 Nr. 1 StGB kann entkräftet und ein besonders schwerer Fall damit verneint werden, wenn das Tatbild bei einer Gesamtabwägung von Tat und Täter nicht die erforderliche Schwere erreicht. (Renzikowski in MüKo, StGB 4. Aufl., § 177 Rn. 200; Eisele in Schönke Schröder, StGB 30: Aufl. § 177 Rn. 97). Dies ist bei Vergewaltigungsfällen beispielsweise dann zu erwägen, wenn zwischen Täter und Opfereine Beziehung bestand und es zunächst auch zu einverständlichen sexuellen Handlungen kam (BGH, Beschluss vorn 10. September 2009, a.a.O.) oder es sich nur um ein kurzfristiges Eindringen handelt (BGH, Beschluss vom 21. Juli 2015, a.a.O.). Erst nach einer solchen Bestimmung des anzuwendenden Strafrahmens kann die Strafzumessung im engeren Sinne erfolgen, bei der der Tatrichter auf der Grundlage. seines umfassenden Eindrucks, den er in der . Haupttierhandlung von der Tat und der Täterpersönlichkeit gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen hat (vgl. BGH, Urteil vom 7. November 2007 - 1 StR 164/07 -, juris; Senat, Beschluss vom 12. Dezember 2019 - (3) 121 Ss 123/19 (86/19) -).

Hieran gemessen erweist sich bereits die Bestimmung des Strafrahmens durch das Amtsgericht als rechtsfehlerhaft.

Die vollständig unterbliebene Erörterung des denkbaren Abweichens von der Regelwirkung nach § 177 Abs. 6 Satz 2 StGB lässt besorgen, dass das Amtsgericht die Ausgestaltung der Norm als Regelbeispiel verkannt hat.

Ob solche gewichtigen Milderungsgründe vorliegen, dass sie die indizielle Wirkung des Regelbeispiels kompensieren, hat das Amtsgericht nicht erörtert, obwohl sich zumindest deren Darstellung im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung hier aufgedrängt hat: Der Angeklagte ist strafrechtlich unvorbelastet und die Tat lag zum Zeitpunkt der Verurteilung drei Jahre und vier Monate zurück. Ferner handelt es sich vorliegend um eine relativ „kurzzeitige" Tathandlung.

Der dargestellte Mangel bei der Wahl des Strafrahmens führt zur Aufhebung des Strafausspruchs gemäß § 353 Abs. 1 StPO, weil nicht sicher auszuschließen ist, dass das Amtsgericht - hätte es die vorgenannten Überlegungen angestellt - einen besonders schweren Fall im Sinne des § 177 Abs. 6 StGB verneint und gegen den geständigen Angeklagten eine niedrigere Freiheitsstrafe verhängt hätte.

Die zu Grunde liegenden Feststellungen können bestehen bleiben, weil lediglich ein Wertungsfehler vorliegt. Der Senat verweist die Sache im Umfang der Aufhebung gemäß § 354 Abs. 2 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung „auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurück. Ergänzende Feststellungen sind zulässig, sofern sie den bisher getroffenen nicht widersprechen.

5. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist. zur Anbringung des Antrags auf Verteidigerwechsel für die Revisionsinstanz nach § . 143a Abs. 3 Satz 1 StPO ist unzulässig.

a) Zur Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch war die Vorsitzende des Senates berufen. Gemäß § 46 Abs. 1 StPO ist bei Wiedereinsetzungsanträgen das Gericht, das bei rechtzeitiger Handlung zur 'Entscheidung in der Sache berufen gewesen wäre, zuständig. Zwar ist der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers für die Revisionsinstanz nach § 143a Abs. 3 Satz 2 StPO bei dem Gericht zu stellen, dessen Urteil angefochten wird. Die- Zuständigkeit für die Entscheidung über den Beiordnungsantrag liegt auch zunächst bei dem (Vorsitzenden des) Gericht(s), dessen Entscheidung angefochten wird (BGH, Beschluss vom 11. September 2019 2 StR 281/19 -, BeckRS 2019, 27180; OLG Rostock, NStZ-RR 2010, 342f.; BT-Drs. 19/13829, S. 49; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, a.a.O. § 142 Rn. 16). Seit der Vorlage der Akten durch. die Generalstaatsanwaltschaft verbunden mit dem zugleich gestellten Antrag nach § 349 Abs. 2 StPO ist das Verfahren indes beim erkennenden Senat anhängig. Mit Anhängigkeit der Sache ist die Zuständigkeit für die Entscheidung über den unerledigten Antrag und damit auch die Zuständigkeit für die Entscheidung über ein entsprechendes Wiedereinsetzungsgesuch gemäß § 347 Abs. 2 StPO auf die Vorsitzende des Senates übergegangen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Februar 2023 - 3 StR 450/22 -, juris; OLG Rostock, a.a.O.; Schmitt in Meyer-Goßner/ Schmitt, a.a.O. § 142 Rn. 16).

Vor dem Hintergrund, dass Rechtsanwalt Dr. pp. seiner Funktion als Wahlverteidiger die vom damaligen. Pflichtverteidiger form- und fristgemäß eingelegte Berufung innerhalb der Revisionsbegründungsfrist auf das Rechtsmittel der Sprungrevision umgestellt und diese auch innerhalb der Frist des § 345 Abs. 1 StPO begründet hat, entsteht dem Angeklagten durch die vom Amtsgericht Tiergarten verabsäumte Entscheidung. über den Beiordnungsantrag (anders als in dem der Entscheidung. des BGH, Beschluss vom 11. September 2019 - 2 StR 281/19 -, BeckRS 2019, 27180 zugrunde liegenden Verfahren) kein Nachteil, weshalb eine Rückgabe an das Tatgericht zur Nachholung der Beiordnungsentscheidung nicht in Betracht kam.

b) Allerdings ist der Wiedereinsetzungsantrag nicht zulässig.

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine Frist einzuhalten (§ 44 Satz 1 StPO). Vorzutragen und glaubhaft zu machen ist dabei ein Sachverhalt, der ein der Wiedereinsetzung entgegenstehendes Verschulden ausschließt (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 45 Rn. 5a).
Hieran fehlt es:

Der Angeklagte hat bereits nicht dargetan, dass er an der Einhaltung der versäumten Frist gehindert war. Die Frist von einer Woche zur Beantragung eines Verteidiger-wechsels für die Revisionsinstanz hat- gesetzlich vorgesehen parallel mit dem Beginn der Revisionsbegründungsfrist - gemäß §§ 345 Abs. 1 Satz' 3 StPO mit der am Montag, dem 24. April 2023 erfolgten Zustellung des Urteils an den damaligen Pflichtverteidiger zu laufen begonnen und endete - da Montag, der 1. Mai 2023 ein allgemeiner Feiertag war - gemäß § 43 Abs. 1 und Abs. 2 StPO mit Ablauf des 2. Mai 2023. Sein zeitgleich mit Umstellung auf das Rechtmittel der Revision am 23. Mai 2023 gestellter Antrag nach § 143a Abs. 3 Satz 1 StPO ist daher verspätet. Weshalb der Angeklagte an einem früheren Antrag auf Verteidigerwechsel für die Revisionsinstanz gehindert war, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Der Umstand, dass während des Laufs der Wochenfrist nach § 143a Abs. 3 Satz 1 StPO die Revision - wie hier bei der erst später durch Umstellung erfolgten Einlegung der Sprungrevision nach § 335 StPO - noch gar nicht eingelegt war, hindert weder deren gesetzlich geregelten Beginn noch deren Ablauf.

Eine von Amts wegen zu gewährende Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bedingt die hier vorliegende Konstellation ebenfalls nicht. Die in § 143a Abs. 3 StPO ermöglichte Auswechslung des Pflichtverteidigers ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes für die Revisionsinstanz soll - unter anderem - der Tatsache Rechnung tragen, dass es für die Revisionsbegründung und die weitere Vertretung des -Angeklagten in der Revision häufig spezieller, vertiefter Rechtskenntnisse und Erfahrungen im Revisionsrecht bedarf (BT-Drs. 19/13829, S. 49). Sinn und Zweck der gesetzlichen Fristvorgabe, den Antrag auf Auswechslung des Verteidigers spätestens eine Woche nach Beginn der Revisionsbegründungsfrist stellen, ist es, dem Angeklagten bzw. seinem bisherigen Verteidiger, der vorsorglich Rechtsmittel eingelegt hat, zu ermöglichen, erst nach Prüfung der Urteilsbegründung und des Protokolls endgültig über die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit des Wechsels zu einem anderen Verteidiger, insbesondere einem Revisionsspezialisten, zu entscheiden (BT-Drs. 19/13829, S. 50). Dass sich der Angeklagte und sein damaliger Pflichtverteidiger im vorliegenden Fall in der dem Gesetzgeber bei Schaffung des erleichterten Verteidigerwechsels vorschwebenden oder einer vergleichbaren Entscheidungssituation befunden hätten, ist nicht ersichtlich. Ausweislich seines Meldeschriftsatzes vom 22. März 2023 war Rechtsanwalt Dr. pp. - als Wahlverteidiger - bereits mandatiert, als die Revisionsbegründungsfrist noch nicht einmal begonnen hatte.

In seiner Funktion als Wahlverteidiger hat Rechtsanwalt Dr. pp. vor der fristgemäß erfolgten Umstellung auf und Begründung der Revision die ihm mit Verfügung der Abteilungsrichterin vom 19. April 2023 gewährte Möglichkeit der Akteneinsicht wahrgenommen. Spätestens hierdurch hatte er daher die umfassende Möglichkeit, sich - und den Angeklagten - über die Sach-, Rechts-, und Fristenlage im Verfahren zu informieren. Dabei lassen seine Ausführungen vom 23. Mai 2023 auch erkennen, dass (aber nicht seit wann) er Kenntnis vom Zeitpunkt der Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe - und damit vom Lauf der Revisionsbegründungsfrist sowie der Frist des § 143a Abs. 3 Satz 1 StPO - hatte.

Soweit die vorliegende prozessuale Konstellation der späteren Umstellung auf eine Sprungrevision bedingt, dass bei Ablauf der Antragsfrist des § 143a Abs. 3 Satz 1 StPO die Revision möglicherweise noch nicht eingelegt ist, entbindet dies den Angeklagten nicht davon, dies im Einzelfall vorzutragen und glaubhaft zu machen, weshalb er ohne Verschulden an der Stellung des Antrags nach § 143a Abs. 3 StPO - gegebenenfalls in Verbindung mit der Umstellung des Rechtsmittels auf die Sprungrevision bei späterer Begründung - gehindert war und wann dieses Hindernis weggefallen ist.

2. Der Antrag des Angeklagten, ihm seinen Wahlverteidiger Rechtsanwalt Dr. pp. als Pflichtverteidiger zu bestellen, war abzulehnen, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind.

a) Zwar ist die Auswechslung des Pflichtverteidigers ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes für das Revisionsverfahren nach § 143a Abs. 3 StPO möglich. Allerdings hat der Angeklagte - wie oben unter III. 1. b) ausgeführt - die mit Antragstellung am 23. Mai 2023 einzuhaltende Wochenfrist nicht gewahrt.

b) Ebenso wenig liegen die Voraussetzungen für einen Pflichtverteidigerwechsel nach § 143a Abs. 2 Satz 1 StPO vor, wobei hier allein die Nr. 3 in Betracht zu ziehen ist. Für eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen v der Angeklagten und seinem bisherigen Pflichtverteidiger oder dafür, dass eine angemessene Verteidigung des Angeklagten durch den bisherigen Pflichtverteidiger nicht gewährleistet wäre, ist nichts vorgetragen.

c) § 143a StPO schließt allerdings die Möglichkeit eines konsensualen Verteidigerwechsels nicht aus. Dieser setzt voraus, dass, sowohl der Angeklagte als auch beide Verteidiger mit dem Wechsel einverstanden sind, keine Verfahrens-verzögerung eintritt und dass keine Mehrkosten entstehen (BT-Drs. 19/13829, S. 47; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 143a Rn. 31). Vorliegend hat sich zwar der damalige Pflichtverteidiger mit der Aufhebung seiner Beiordnung einverstanden erklärt.

Allerdings liegt weder vom damaligen Pflichtverteidiger noch von Rechtsanwalt Dr. pp. eine Erklärung über einen zur Vermeidung von Mehrkosten erforderlichen Gebührenverzicht vor. Jedenfalls ist für beide Rechtsanwälte die Grundgebühr nach Nr. 4100 W-RVG entstanden, die der bisherige Pflichtverteidiger mit Kostenfestsetzungsantrag vom 21. April 2023 geltend gemacht hat und die mit Verfügung 12. Mai 2023 an ihn ausgezahlt wurde.

Mangels einer Verzichtserklärung Rechtsanwalt Dr. pp. hätte seine Bestellung zum Pflichtverteidiger zur Folge, dass die Landeskasse die Grundgebühr doppelt erstatten müsste.

d) Auch liegt beim gegenwärtigen Stand des Revisionsverfahrens - anderes mag dich bei der erneuten Verhandlung vor dem Amtsgericht Tiergarten ergeben - kein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 oder Abs. 2 StPO vor.


Einsender: RA Dr. T. Elobied, Berlin

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