Gericht / Entscheidungsdatum: LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 12.09.2023 - 16 Qs 39/23
Eigener Leitsatz:
Liegt beim Beschuldigten aktuell eine Suchtmittelerkrankung vor, welche zumindest zu einer erheblich eingeschränkten Schuldfähigkeit im Tatzeitpunkt führte, und ist die komplexe Thematik einer Unterbringung nach § 64 StGB gegeben, ist davon auszugehen, dass der Beschuldigte nicht in der Lage ist, sich ausreichend selbst zu verteidigen.
Landgericht Nürnberg-Fürth
16 Qs 39/23
In dem Strafverfahren
Gegen pp.
Verteidiger:
Rechtsanwalt Pp.l
wegen tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte
erlässt das Landgericht Nürnberg-Fürth - 16. Strafkammer - durch die unterzeichnenden Richter am 12. September 2023 folgenden
Beschluss
1. Auf die sofortige Beschwerde der Angeschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 01.08.2023 wird dieser aufgehoben und Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bestellt.
2. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth erhob am 02.06.2023 Anklage gegen die Angeschuldigte wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in fünf tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen sowie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung gemäß §§ 113 Abs. 1, 114 Abs. 1, 223 Abs. 1, 230, 21, 52, 53 StGB.
Mit Schriftsatz vom 05.07.2023 zeigte Rechtsanwalt pp. seine Vertretung der Angeschuldigten an und beantragte seine Beiordnung als Pflichtverteidiger, was er auf die Vielzahl an in der Hauptverhandlung zu vernehmenden Zeugen stützte.
Am 01.08.2023 erließt das Amtsgericht den gegenständlichen Beschluss und lehnte den Antrag auf Bestellung als Pflichtverteidiger ab und führte aus, dass kein Fall des § 140 Abs. 1, Abs. 2 StPO vorliege, da eine Beiordnung wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage nicht geboten sei. Anhaltspunkte dafür, dass die Angeschuldigte sich nicht selbst verteidigen könne, seien nicht ersichtlich. Dieser Beschluss wurde Rechtsanwalt Pp.l am 02.08.2023 zugestellt.
Gegen diesen Beschluss legte Rechtsanwalt Pp.l mit Schriftsatz vom 02.08.2023, eingegangen bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth am 07.08.2023, sofortige Beschwerde ein. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat die Akten mit Verfügung vom 14.08.2023 dem Landgericht Nürnberg-Fürth als Beschwerdegericht mit dem Antrag zugeleitet, die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 01.08.2023 kostenpflichtig als unbegründet aus dessen zutreffenden Gründen zu verwerfen.
II.
1. Die sofortige Beschwerde der Angeschuldigten ist statthaft und auch sonst zulässig, §§ 311 Abs. 1, Abs. 2, 142 Abs. 7 S. 1 StPO.
2. Der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg war aufzuheben, da ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vorliegt. Vorliegend erscheint die Mitwirkung eines Verteidigers geboten, da davon auszugehen ist, dass sich die Angeschuldigte nicht ausreichend selbst verteidigen kann.
Bei der Angeschuldigten wurde am 17.11.2022 um 09:22 Uhr eine Blutentnahme durchgeführt, welche ein BAK von 2,47 Promille ergab, sodass bei der durch die Sachverständige Dr. pp. angestellten Rückrechnung zum Tatzeitpunkt um 07:02 Uhr eine maximale BAK zur Tatzeit von 3,1 Promille anzunehmen ist. Entsprechend wurde auch ein Gutachten zur Schuldfähigkeit der Angeschuldigten eingeholt. Die Sachverständige Dr. pp. kam zu dem Ergebnis, dass bei der Angeschuldigten zur Tatzeit eine im gravierenden Umfang eingeschränkte Steuerungsfähigkeit aufgrund additiven Zusammenwirkens alkoholbedingter Enthemmung und persönlichkeitsimmanenter erhöhter Impulsivität und emotionaler Instabilität vorlag.
Gegenstand des Gutachtens war weiter die Frage, ob die Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 64 StGB vorliegen. Wie die Sachverständige feststellte, liegt bei der Angeschuldigten eine mehrjährige Suchtproblematik vor, welche zum Tatzeitpunkt und auch im Zeitpunkt der Gutachtenserstellung am 14.05.2023 weiter bestand. Des Weiteren bejaht die Sachverständige die medizinischen Voraussetzungen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und spricht der Angeschuldigten auch eine ausreichende Erfolgsaussicht zu, falls eine ausreichend lange Freiheitsstrafe verhängt wird. Mangels aktuell betriebener Therapien ist auch von einem fortgesetzten Bestehen der Abhängigkeit auszugehen.
Unter Würdigung dieser Umstände ist anzunehmen, dass die Angeschuldigte sich nicht ausreichend selbst verteidigen kann. Aufgrund der aktuell vorliegenden Suchtmittelerkrankung, welche zumindest zu einer erheblich eingeschränkten Schuldfähigkeit im Tatzeitpunkt führte, und der Komplexität der Thematik einer Unterbringung nach § 64 StGB kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Angeschuldigte in der Lage ist, sich ausreichend selbst zu verteidigen und auch unter Beachtung und Wahrung der richterlichen Fürsorgepflicht - dieser im Rahmen der Hauptverhandlung die Rechtslage ausreichend verständlich gemacht werden kann (OLG Hamm StV 1984, 66; OLG Nürnberg 25.7.2007 - 2 Ws 452/07; OLG Düsseldorf 22.11.2000 - 2 a Ss 332/00-83/00 II, StV 2002, 236; LG Schweinfurt StraFo 2018, 114; MüKoStPO/Kämpfer/Travers StPO § 140 Rn. 49; BeckOK StPO/Krawczyk StPO § 140 Rn. 45).
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 465 StPO analog.
Einsender: RA R. E. Peisl, Nürnberg
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