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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Bestellung weiterer Verteidiger, Überprüfbarkeit, Ermessen des Vorsitzenden

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 14.08.2023 - 3 Ws 40/23

Leitsatz des Gerichts:

Hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen von § 144 Abs. 1 StPO steht dem Vorsitzenden des Gerichts ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Das Beschwerdegericht prüft nur, ob der Vorsitzende die Grenzen seines Beurteilungsspielraums eingehalten und sein Rechtsfolgeermessen fehlerfrei ausgeübt hat.


3 Ws 40/23176 Js 4/22
522 Ks 5/23

In der Strafsache
gegen pp.

wegen versuchten Mordes u.a.

hat der 3. Strafsenat des Kammergerichts am 14. August 2023 beschlossen:


Die sofortige Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft Berlin vom 4. August 2023 gegen den Beschluss des Vorsitzenden der Strafkammer 22 des Landgerichts Berlin vom 26. Juli 2023 wird, soweit die Bestellung von zwei weiteren Pflichtverteidigern angeordnet worden ist, verworfen.

Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels und die notwendigen Auslagen des Angeklagten zu tragen.


Gründe:

I.

Gegen den Angeklagten, der sich in dieser Sache seit dem 14. Dezember 2022 ununterbrochen in Untersuchungshaft befindet, ist ein Verfahren vor dem Landgericht Berlin - Schwurgericht - wegen der von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin angeklagten Vorwürfe des versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchter schwerer Brandstiftung und mit Verstoßes gegen das Waffengesetz, des Computerbetruges, der Entziehung elektrischer Energie und des Diebstahls im besonders schweren Fall in Tateinheit mit Sachbeschädigung anhängig.

Dem Angeklagten wird folgendes zur Last gelegt:

1. Im April 2020 habe er durch die falsche Angabe auf einem Online-Formular der Investitionsbank Berlin, sein Unternehmen sei vor dem 31. Dezember 2019 kein „Unternehmen in Schwierigkeiten“ gewesen, eine sogenannte Corona-Soforthilfe von insgesamt 14.000,- Euro beantragt. Diese sei ihm daraufhin ausgezahlt worden.

2. Zu einem unbekannten Zeitpunkt nach dem 31. Juli 2020 habe er in dem Wohnhaus L.-Straße, Berlin, die Stromleitung unbefugt unter Umgehung des Stromzählers angezapft und bis zum 14. Dezember 2022 Strom entnommen.

3. Zwischen dem 30. März und 6. Mai 2022 habe er in einem Kellerschacht des Wohnhauses Ls.-Straße, Berlin, mit Tötungsabsicht und in Kenntnis der Gemeingefährlichkeit des eingesetzten Mittels eine unbekannte Spreng-/Brandvorrichtung platziert, um das Wohnhaus in Brand zu setzen. Dabei habe er gewusst, dass das Wohnhaus zu dieser Zeit von mehreren Menschen bewohnt worden sei. Aus unbekannten Gründen sei es jedoch nicht zur Entzündung der Vorrichtung gekommen.

4. Zu einem nicht ermittelbaren Zeitpunkt nach dem 10. Oktober 2022 habe der Angeschuldigte die von der GASAG gesperrte Gasleitung in seiner Wohnung in der L.-Straße manipuliert und durch Anlöten eines Rohres bis zum 14. Dezember 2022 ohne Bezahlung Gas entnommen. Er habe sich durch die dadurch ersparten Beträge für die Gaslieferung eine Einnahmequelle von einiger Dauer verschaffen wollen.


Bereits im Vorverfahren hat der Ermittlungsrichter bei dem Amtsgericht Tiergarten die Rechtsanwälte Dr. R. und M. als Pflichtverteidiger bestellt.


Rechtsanwalt Dr. R. hat mit bei Gericht am 21. Juli 2023 eingegangenen Schreiben seine Entpflichtung wegen eines erlittenen Schlaganfalls beantragt.


Mit ebenfalls bei Gericht am 21. Juli 2023 eingegangenen Schriftsatz hat Rechtsanwalt M. beantragt, dem damaligen Angeschuldigten zwei weitere Pflichtverteidiger zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens beizuordnen. Der Verteidiger, der nach eigenen Angaben kein ausgewiesener Strafverteidiger ist, aber den Mandanten bereits längere Zeit kennt und sich mit diesem in seiner Muttersprache unterhalten kann, begründet seinen Antrag u.a. mit dem Umfang des Verfahrens, der Dauer der Untersuchungshaft, der russland-kritischen Haltung seines Mandanten und der insoweit möglicherweise notwendigen Aufklärung des politischen Hintergrundes der angeklagten Taten. Der Vorsitzende der Strafkammer hat der Generalstaatsanwaltschaft noch am selben Tag den Schriftsatz des Verteidigers M. übersandt, die umgehend Stellung genommen hat.

Mit Beschluss vom 26. Juli 2023 hat das Landgericht das Hauptverfahren eröffnet und die Anklage der Generalstaatsanwaltschaft mit der Maßgabe eröffnet, dass hinsichtlich des oben zu 1. genannten Anklagevorwurfs ein hinreichender Tatverdacht wegen Subventionsbetruges nach § 264 Abs. 1 Nr. 1 StGB und hinsichtlich des Vorwurfs zu 3. tateinheitlich zum versuchten Mord ein hinreichender Tatverdacht einer versuchten Brandstiftung mit Todesfolge gemäß §§ 306c, 22 StGB bestehe.

Durch Beschluss vom selben Tag hat der Kammervorsitzende die Bestellung von Rechtsanwalt Dr. R. als Verteidiger wegen dessen schwerer Erkrankung (akuter Schlaganfall im fortgeschrittenen Alter) aufgehoben und zur Sicherung des Verfahrens - ohne Begründung - die von der Verteidigung vorgeschlagenen Rechtsanwälte J. und B. R. als weitere Pflichtverteidiger bestellt. Zugleich hat er - nach Absprache mit den Verteidigern - Termin zur Hauptverhandlung auf den 25. August 2023 und 19 weitere Termine zur Fortsetzung derselben anberaumt.

Mit ihrer unter dem 4. August 2023 eingelegten sofortigen Beschwerde wendet sich die Generalstaatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Vorsitzenden zur Bestellung von zwei weiteren Pflichtverteidigern. Sie ist der Auffassung, der Umfang des Verfahrens rechtfertige lediglich die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers.

Daraufhin hat der Kammervorsitzende mit Vermerk vom 4. August 2023 die Entscheidung zur Verteidigerbestellung vom 26. Juli 2023 begründet. Wörtlich heißt es darin unter anderem:

„Maßgebliche Gründe für diese Entscheidung waren zum einen der für einen neuen Verteidiger zu erfassende Aktenumfang (10 Hauptbände, mehr als 30 Sonderbände), zum anderen die Tatsache, dass angesichts des zumal ob der bereits deutlich länger als sechs Monate andauernden Untersuchungshaft des Angeklagten in besonderem Maße zu beachtenden Beschleunigungsgebots ein noch längeres Zuwarten mit dem Beginn der Hauptverhandlung nicht opportun erschien; durch die Bestellung von zwei weiteren Verteidigern ist diesen die Möglichkeit eröffnet, die ihnen bislang gänzlich unbekannten Akten arbeitsteilig koordiniert zu studieren und dadurch auf die Hauptverhandlung vorbereitet zu sein. Hinzu kam überdies, dass der bereits bestellte Verteidiger Rechtsanwalt M. signalisiert hat, dass er nur über eher geringe Erfahrungen im Bereich der Strafverteidigung verfügt, aber für den Angeklagten, mit dem er seit längerem bekannt sei und sich in dessen Muttersprache verständigen könne, aufgrund des bestehenden intensiven Vertrauensverhältnisses die Verteidigung durch seine Person von besonderer Bedeutung sei.“

Mit Übersendung des Beschwerdebandes an den Senat hat die Generalstaatsanwaltschaft ihre Begründung der sofortigen Beschwerde nach Kenntnisnahme des Vermerks des Vorsitzenden der Strafkammer 22 ergänzt.

Die Verteidiger hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

A. Die sofortige Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 26. Juli 2023 ist gemäß §§ 144 Abs. 2 Satz 2, 142 Abs. 7 Satz 1, 306 Abs. 1, 311 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig.

B. Das Rechtsmittel ist unbegründet.

1. Zwar fehlt dem angefochtenen Beschluss die nach § 34 StPO erforderliche Begründung, aber dies ist ausnahmsweise unschädlich.

a) Gerichtliche Entscheidungen über die Bestellung eines (hier sogar von zwei weiteren) Pflichtverteidigers(n) sind gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar und daher nach § 34 StPO mit Gründen zu versehen.

Der Beschluss des Vorsitzenden vom 26. Juli 2023 ist mangels Begründung fehlerhaft. Denn die lediglich bruchstückhafte Wiederholung des Gesetzestextes enthält - was auf der Hand liegt - keine Begründung.

Der Formfehler wird auch nicht durch den am 4. August 2023 zu den Akten gereichten Vermerk des Vorsitzenden geheilt. Denn der mit der sofortigen Beschwerde angefochtene Beiordnungsbeschluss war nach dessen Erlass der Disposition des Vorsitzenden nach § 311 Abs. 3 Satz 1 StPO entzogen und das Nachschieben der Begründung ist damit unbeachtlich (vgl. BGHSt 19, 24, NJW 1951, 368). Lediglich in den engen Grenzen der in § 311 Abs. 3 Satz 2 StPO geregelten Abhilfemöglichkeit kann nachträglich eine solche Entscheidung abgeändert werden. Es ist offensichtlich, dass der Vorsitzende mit dem Vermerk von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht, sondern die Entscheidung erstmalig begründet hat.

Auf die sofortige Beschwerde hat das Beschwerdegericht einen außerhalb der Hauptverhandlung ergangenen Beschluss, der entgegen § 34 StPO ohne Begründung erlassen worden ist, im Regelfall aufzuheben (vgl. Schneider-Glockzin in KK- StPO 9. Aufl., § 34 Rdn. 11).

b) Ausnahmsweise ist ein solcher Formfehler jedoch dann unschädlich, wenn sich der prozessuale Fehler nicht zum Nachteil auf die Rechtsposition des Beschwerdeführers und dessen Verteidigungsmöglichkeiten ausgewirkt hat. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn dem Beschwerdeführer die Entscheidungsgrundlage vor Erlass des angegriffenen Beschlusses bekannt war, ihm die nachgeschobenen Gründe im Beschwerdefahren so rechtzeitig zur Kenntnis gelangen, dass er sie bei der Begründung seines Rechtsmittels berücksichtigen kann und sich das gesamte Prozessgeschehen dem Beschwerdegericht aus den übermittelten Akten erschließt, so dass ihm eine umfassende Überprüfung der angefochtenen Entscheidung ermöglicht wird (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 20. August 1990 - 1 Ws 201/90 -, juris m.w.N.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt StPO 66. Aufl., § 34 Rdn. 7).

So liegt der Fall hier. Denn die Generalstaatsanwaltschaft ist in der Verfolgung ihres Rechtsmittels - der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss des Vorsitzenden vom 26. Juli 2023 - trotz der prozessualen Fehler des Vorsitzenden nicht schlechter gestellt. Entsprechendes macht sie auch nicht geltend.

Der Vorsitzende hat am 26. Juli 2023 der Generalstaatsanwaltschaft zu dem Schriftsatz des Rechtsanwaltes Mumm, mit dem er den Antrag auf Beiordnung weiterer Pflichtverteidiger begründet, nach § 33 Abs. 2 StPO rechtlichen Gehörs gewährt. Der Beschwerdeführerin waren daher die Gründe für die beantragte Beiordnung weiterer Pflichtverteidiger vor Erlass des angefochtenen Beschlusses bekannt. Dass die Generalstaatsanwaltschaft umfassend informiert war, ergibt sich auch aus der Begründung der sofortigen Beschwerde, die zeitgleich mit deren Einlegung zu den Akten gelangt ist. Ebenso war der Beschwerdeführerin der Vermerk des Vorsitzenden vom 4. August 2023 rechtzeitig zur Kenntnis gelangt, so dass sie sich dazu mit Übersendung des Beschwerdevorganges an den Senat, ergänzend äußern konnte und geäußert hat. Dem Senat ist nach Aktenlage die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung ermöglicht.

2. Die Überprüfung des Beschlusses des Vorsitzenden der Strafkammer 22 nach Maßgabe der dem Senat nach § 144 Abs. 1 StPO nur eingeschränkt eröffneten Prüfungskompetenz ergab aber, dass ein durchgreifender Beurteilungs- und/oder ein durchgreifender Ermessensfehler im Ergebnis nicht festzustellen ist.

a) Gemäß § 144 Abs. 1 StPO können dem Beschuldigten in den Fällen der notwendigen Verteidigung zu seinem gewählten oder nach § 141 StPO bestellten Verteidiger bis zu zwei Pflichtverteidiger zusätzlich bestellt werden, wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist.

Nach ihrem Wortlaut hat die Vorschrift zur zentralen Voraussetzung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert. Eine solche - vom Willen des Beschuldigten unabhängige (vgl. BT-Drucks. 19/13829 S. 49) - Bestellung ist nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat; vielmehr muss sie zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein (vgl. BGHSt 65, 129). Bei der Auslegung der tatbestandlichen Voraussetzungen von § 144 Abs. 1 StPO ist in den Blick zu nehmen, dass das Merkmal Umfang oder Schwierigkeit des Verfahrens lediglich exemplarisch einen der Hauptanwendungsfälle für das Erfordernis der Verfahrenssicherung benennt (vgl. BGH a.a.O.). Auf den Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens kann es mithin nur ankommen, soweit diese Eigenschaften dazu führen, dass dessen zügige Durchführung ohne den (bzw. die beiden) weiteren Verteidiger gefährdet wäre (vgl. BGH a.a.O. und Beschluss vom 31. August 2020 - StB 23/20 -, juris; KG, Beschluss vom 12. Januar 2022 - 4 Ws 4/22 -, juris; OLG Celle StraFo 2020, 289). Die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers kommt daher nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, wenn hierfür ein unabweisbares Bedürfnis besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten und einen ordnungsgemäßen Verfahrensverlauf zu gewährleisten. Ein solches Bedürfnis kann etwa bestehen, wenn sich die Hauptverhandlung über einen längeren Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem vorübergehenden Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Mai 2022 - StB 12/22 -, juris; KG a.a.O. und Beschluss vom 6. August 2018 - 4 Ws 104/18 -, juris m.w.N.).

b) Die Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgaben obliegt dabei zuvörderst dem Vorsitzenden des mit der Sache befassten Gerichts. Hinsichtlich der dargelegten tatbestandlichen Voraussetzungen von § 144 Abs. 1 StPO steht dem Vorsitzenden des Gerichts ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu (vgl. BGHSt 65, 129.; StraFo 2022, 434; NStZ 2022, 696; Hans. OLG Hamburg StV 2021, 154; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 144 Rdn. 12 m.w.N.). Anders als bei Entscheidungen über (sofortige) Beschwerden, bei denen das Beschwerdegericht grundsätzlich an die Stelle des Erstgerichts tritt und einen eigenen Sachentscheidung trifft, prüft es vorliegend daher nur, ob der Vorsitzende die Grenzen seines Beurteilungsspielraums eingehalten und sein Rechtsfolgeermessen fehlerfrei ausgeübt hat (vgl. BGHSt 65, 129; Hanseatisches Oberlandesgericht Bremen, Beschluss vom 30. April 2021 - 1 Ws 24/21 -, juris).

Der sachliche Grund für die Einschränkung der Prüfungsbefugnis ergibt sich aus dem Sinn und Zweck des § 144 Abs. 1 StPO (vgl. BGHSt a.a.O.). Denn § 144 Abs. 1 StPO dient in erster Linie der zügigen Durchführung des Verfahrens. Die Vorbereitung und Leitung der Hauptverhandlung als Herzstück des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens obliegt im Grundsatz dem Vorsitzenden in eigener Zuständigkeit. Er hat sicherzustellen, dass der Anspruch des Angeklagten auf eine Verhandlung und ein Urteil innerhalb angemessener Frist (vgl. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) gewahrt wird (vgl. etwa Gmel in KK-StPO a.a.O., vor § 212 Rdn. 4, § 213 Rdn. 4a; Schneider in KK-StPO a.a.O, § 238 Rdn. 6, jeweils m.w.N.). Dem trägt das Gesetz dadurch Rechnung, dass er nach Anklageerhebung zur Entscheidung über die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers berufen ist (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO). Deshalb entspricht es dem gesetzlichen Kompetenzgefüge, wenn das Beschwerdegericht nicht seine Beurteilung, wie die Hauptverhandlung unter Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes zu gestalten ist, an die Stelle derjenigen des Vorsitzenden setzt. Dessen Beurteilung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung zusätzlicher Pflichtverteidiger erfordert, kann das Beschwerdegericht daher nur beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält; anderenfalls hat es sie hinzunehmen (vgl. Hans. OLG Hamburg, a.a.O.; für Ablehnung der Bestellung weiterer Pflichtverteidiger: BGH, Beschlüsse vom 24. März 2022 - StB 5/22 -, und 31. August 2020 - StB 23/20 -, beide juris; BGHSt 65, 129).

Daran gemessen ist der angefochtene Beschluss nicht zu beanstanden. Wenngleich die Ausführungen nicht ausdrücklich auf die tatbestandlichen Voraussetzungen eingehen, ist dem Vermerk noch hinreichend deutlich zu entnehmen, dass der Vorsitzende diese für gegeben hält.

So liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 StPO vor. Auch ist weder ersichtlich, dass der Kammervorsitzende von einem falschen Sachverhalt als Entscheidungsgrundlage ausgegangen ist, noch dass er die maßgeblichen Tatbestandsmerkmale des § 144 Abs. 1 StPO fehlerhaft angewendet hat oder sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.

aa) Aus dem Vermerk vom 4. August 2023 geht hervor, dass der Vorsitzende weniger als ein Monat vor Beginn der Hauptverhandlung einen der in dieses komplexe, weil umfangreich, rechtlich anspruchsvoll und technischen Sachverstand erfordernden Verfahren eingearbeiteten, strafrechtlich erfahrenen Pflichtverteidiger, Rechtsanwalt Dr. R., wegen dessen unvorhersehbarer und langwierigen Erkrankung entbinden musste. In dem erkennbaren Bemühen des Vorsitzenden, das Verfahren zügig durchzuführen, den Beginn der Hauptverhandlung am 25. August 2023 nicht zu gefährden und dem Anspruch des nunmehr seit über acht Monaten in Untersuchungshaft sitzenden Angeklagten auf eine Verhandlung innerhalb angemessener Frist zu wahren, vermag der Senat einen durchgreifenden Beurteilungsfehler in der vom Vorsitzenden der Strafkammer 22 angenommenen Erforderlichkeit der Bestellung erfahrener und verteidigungsbereiter Strafverteidiger nicht erkennen. Insoweit ist auch nicht zu beanstanden, dass die Selbsteinschätzung des zuvor bestellten Verteidigers, Rechtsanwalt M., lediglich über geringe Erfahrungen im Strafrecht zu verfügen, in die Entscheidung des Vorsitzenden miteingeflossen ist. Einen Beurteilungsfehler vermag der Senat auch darin nicht zu erkennen. Darauf, ob der Senat bei eigener Abwägung zu dem gleichen Ergebnis gekommen wäre, kommt es wegen der - wie dargelegt - eingeschränkten Prüfungskompetenz im Beschwerdeverfahren nicht an.

bb) Auf der Grundlage dessen vermag der Senat im Rahmen der zu prüfenden Rechtsfolgeentscheidung - dies betrifft insbesondere den Umfang der Verteidigerbestellung - ebenfalls keinen Rechtsfehler bei der tatgerichtlichen Ermessensausübung zu erkennen. Auch insoweit kommt es nicht darauf an, ob der Senat eine gleichlautende Entscheidung getroffen hätte.

Zwar ist der Generalstaatsanwaltschaft, wie von ihr in der Zuschrift vom 7. August 2023 vorgetragen, zuzugeben, dass jeder der bestellten Verteidiger einen Anspruch darauf hat, ausreichend Zeit zur Verfügung zu haben, den gesamten Aktenbestand eigenständig zu studieren. Ungeachtet dessen ist das Argument des Vorsitzenden, durch die Bestellung von zwei weiteren Verteidigern diesen die Möglichkeit zu eröffnen, das Aktenstudium zu koordinieren, indes nicht sachfremd. Hinweise darauf, dass die Bestellung von zwei weiteren Pflichtverteidigern dem Zweck dienen soll, den Verteidigern die wechselseitige Vertretung in der Hauptverhandlung zu ermöglichen, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Eine Bestellung zweier neuer Verteidiger bei gleichzeitiger Entpflichtung auch von Rechtsanwalt M. kam schon deswegen nicht in Betracht, weil die Entpflichtung eines bestellten Verteidigers nur unter den engen Voraussetzungen von § 143a Abs. 1, Abs. 2 StPO zulässig ist. Diese lagen nicht vor.

Nach der Gesamtschau aller relevanten Umstände überschreitet in diesem Einzelfall die Entscheidung des Kammervorsitzenden, dem Angeklagten zwei weitere Pflichtverteidiger zu bestellen, auch nicht die Grenzen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn.


III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 StPO.



Einsender: RiKG U. Sandherr, Berlin

Anmerkung:


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