Gericht / Entscheidungsdatum: LG Berlin, Beschl. v. 31.05.2023 - 502 Qs 138/22
Leitsatz des Gerichts:
Eine Straßenblockade durch Klimaaktivisten stellt nach der sog. "Zweite-Reihe-Rechtsprechung" des BGH Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB dar. Denn die Fahrer in der zweiten Reihe und den nachfolgenden Reihen werden durch unüberwindbare physische Hindernisse, nämlich den Fahrzeugen vor und hinter ihnen, an der Weiterfahrt gehindert, womit auch der erstrebte Nötigungserfolg eingetreten ist. Die darin liegende Nötigung anderer Verkehrsteilnehmer kann jedoch nach Abwägung aller Umstände gem. § 240 Abs. 2 StGB gerechtfertigt sein.
In pp.
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Berlin wird der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 20. Oktober 2022 aufgehoben.
Die Sache wird zur Anberaumung einer Hauptverhandlung (§ 408 Abs. 3 Satz 2 StPO) an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft Berlin beantragte gegen den Angeschuldigten mit Verfügung vom 29. Juli 2022 den Erlass eines Strafbefehls wegen (gemeinschaftlicher) Nötigung und tateinheitlich begangenen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 Abs. 1, § 240 Abs. 1 und Abs. 2, § 25 Abs. 2, § 52, § 74 StGB. Sie legte dem Angeschuldigten zur Last, sich am 30. Juni 2022 zwischen 8.50 Uhr und 9.05 Uhr mit fünf weiteren Mittätern an einer Straßenblockade der Gruppierung "Aufstand der letzten Generation" beteiligt und sich aufgrund eines zuvor gefassten gemeinsamen Tatplans auf die Fahrbahn einer vielbefahrenen Straße gesetzt zu haben, um so die auf der betreffenden Straße befindlichen Fahrzeugführer bis zur Räumung der Blockade durch die Polizeivollzugsbeamten an der Fortsetzung ihrer Fahrt zu hindern. Es sei – wie von dem Angeschuldigten beabsichtigt – aufgrund der Blockade bis zu deren Auflösung zu einer erheblichen Verkehrsbeeinträchtigung in Form eines Rückstaus zahlreicher Fahrzeuge gekommen. Dabei habe sich der Angeschuldigte zur Erschwerung der erwarteten polizeilichen Maßnahmen zur Räumung der Blockade mittels Klebstoffs auf der Straße befestigt, sodass die Polizeivollzugsbeamten den Angeschuldigten erst nach Lösung des Klebstoffs, die jeweils nicht nur ganz unerhebliche Zeit in Anspruch genommen habe, von der Straße tragen konnten. Konkret sei die Autobahnausfahrt A100 am Tempelhofer Damm in südliche Richtung für mindestens 15 Minuten blockiert gewesen. Das Ablösen habe zwei Minuten gedauert.
Der Angeschuldigte hat sich zu den Tatvorwürfen nicht eingelassen.
Mit Beschluss vom 20. Oktober 2022 – Az. (298 Cs) 237 Js 2481/22 (167/22) – lehnte das Amtsgericht Tiergarten den Erlass des Strafbefehls aus rechtlichen Gründen ab. Nach Ansicht des Amtsgerichts Tiergarten liege kein hinreichender Tatverdacht gegen den Angeschuldigten vor. Eine Verurteilung wegen Nötigung sei unwahrscheinlich, da es an der für die Annahme einer Nötigung nach § 240 Abs. 2 StGB erforderlichen Verwerflichkeit mangele, denn die Vorschrift sei im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen. Eine Verurteilung wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte sei unwahrscheinlich, da das Festkleben der Hand keine Gewalt darstelle.
Die Staatsanwaltschaft Berlin richtet sich mit ihrer sofortigen Beschwerde vom 10. November 2022, beim Amtsgericht Tiergarten per Fax eingegangen am 11. November 2022, nunmehr gegen diese, ihr am 10. November 2022 zugestellte Entscheidung.
Der Verteidiger des Angeschuldigten hat trotz der Möglichkeit zur Stellungnahme hiervon keinen Gebrauch gemacht.
II. Die sofortige Beschwerde hat Erfolg.
1. Sie ist zulässig, insbesondere gemäß § 408 Abs. 2, § 210 Abs. 2 StPO statthaft und fristgerecht eingelegt worden (§ 311 Abs. 2 StPO), und hat auch in der Sache Erfolg.
a) Das Amtsgericht Tiergarten hat in der angefochtenen Entscheidung die Eröffnung des Hauptverfahrens – hier in Form des Erlasses des Strafbefehls (§ 408 Abs. 3 Satz 1 StPO) oder der Anberaumung einer Hauptverhandlung (§ 408 Abs. 3 Satz 2 StPO) – zu Unrecht abgelehnt.
Nach § 408 Abs. 2 Satz 1 StPO lehnt der Richter den Erlass eines von der Staatsanwaltschaft beantragten Strafbefehls ab, wenn er den Angeschuldigten der ihm zur Last gelegten Straftaten nicht für hinreichend verdächtig erachtet. Die Ablehnung des Erlasses eines Strafbefehls hat gemäß § 408 Abs. 2 Satz 2 StPO die Wirkung einer Nichteröffnung gemäß § 204 StPO. Das Beschwerdegericht hat dementsprechend, wie bei einer sofortigen Beschwerde gegen die Ablehnung der Eröffnung, das Wahrscheinlichkeitsurteil des Erstgerichts und dessen rechtliche Beurteilung grundsätzlich in vollem Umfang nachzuprüfen und die Voraussetzungen der Eröffnung, hier des Erlasses des Strafbefehls, selbständig zu würdigen (vgl. KK-StPO/Schneider, 9. Aufl. 2023, StPO § 210 Rn. 10, beck-online).
Das Amtsgericht hat zu Recht einen hinreichenden Tatverdacht wegen (gemeinschaftlicher) Nötigung abgelehnt. Entgegen der Wertung des Amtsgerichts liegt jedoch hinreichender Tatverdacht wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte vor.
Hinreichender Tatverdacht ist gegeben, wenn nach vorläufiger Bewertung des sich aus dem gesamten Akteninhalt ergebenden Sachverhalts und der Beweisergebnisse eine Verurteilung des Angeschuldigten wahrscheinlicher als ein Freispruch ist, mithin eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung besteht (vgl. BeckOK StPO/Gorf, 46. Ed. 1.1.2023, StPO § 170 Rn. 2).
aa) Hinreichender Tatverdacht gegen den Angeschuldigten hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 und 2 StGB ist auch aus Sicht der Beschwerdekammer nicht anzunehmen.
Eine Straßenblockade – wie hier durch den Angeschuldigten und seine Mittätern verursacht – stellt nach der sog. "Zweite-Reihe-Rechtsprechung" des BGH (Urteil vom 20.07.1995 – 1 StR 126/95) zwar Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB dar. Denn die Fahrer in der zweiten Reihe und den nachfolgenden Reihen werden durch unüberwindbare physische Hindernisse, nämlich den Fahrzeugen vor und hinter ihnen, an der Weiterfahrt gehindert, womit auch der erstrebte Nötigungserfolg eingetreten ist.
Die Tat ist jedoch als nicht rechtswidrig anzusehen.
Gemäß § 240 Abs. 2 StGB ist eine Nötigung rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt zum angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung ist in der vorzunehmenden, am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierten, Zweck-Mittel-Relation insbesondere die Art und das Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Konkret bei Straßenblockaden sind hierbei wichtige Abwägungselemente die Dauer und die Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten für betroffene Fahrer, die Dringlichkeit des blockierten Transports bzw. der blockierten Fahrt, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand. Das Gewicht solcher demonstrationsspezifischer Umstände ist mit Blick auf das kommunikative Anliegen der Versammlung zu bestimmen, ohne dass dem Strafgericht eine eigene Bewertung zusteht, ob es dieses Anliegen als nützlich und wertvoll einschätzt oder es missbilligt (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190/90 –, BVerfGE 104, 92-126, Rn. 64).
Vorliegend ist zunächst festzuhalten, dass zugunsten des Angeschuldigten der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG eröffnet ist. Denn der Angeschuldigte hat sich mit mehreren Aktivisten der Gruppierung "Aufstand der letzten Generation" an der Autobahnausfahrt A100 Tempelhofer Damm in südliche Richtung zusammengefunden, um durch die ausgeführte Sitzblockade an der öffentlichen Meinungsbildung teilzuhaben (vgl. zum Fall einer Sitzblockade auf einer Zufahrtsstraße: BVerfG, Beschluss vom 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 –, BVerfGK 18, 365- 377, Rn. 32).
Die mit der Ausübung des Versammlungsrechts häufig unvermeidbare Behinderung Dritter und Zwangswirkungen sind grundsätzlich durch das Versammlungsrecht gerechtfertigt, soweit sie als sozial-adäquate Nebenfolgen mit rechtmäßigen Demonstrationen verbunden sind. Dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit kommt hier besondere Bedeutung zu, wobei der Träger des Grundrechts selbst über Art und Umstände der Ausübung seines Grundrechts bestimmen kann (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 a. a. O.).
Nach Abwägung der widerstreitenden Interessen ist in dem hier allein zu bewertenden konkreten Einzelfall von einem Überwiegen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit des Angeschuldigten und seiner Mittäter gegenüber dem Grundrecht der betroffenen Verkehrsteilnehmer in Form der Fortbewegungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 2 GG auszugehen.
aaa) Hinsichtlich Dauer und Intensität der Auswirkungen ist zu berücksichtigen, dass einerseits eine sehr große Zahl an Verkehrsteilnehmern betroffen war und dass andererseits die konkreten Auswirkungen sich in einem überschaubaren Umfang hielten.
Der Angeschuldigte soll sich – nach Aussage der Zeugen POM pp. und PM pp. – mit weiteren Aktivisten um ca. 8.25 Uhr auf die Fahrbahn der am Tatort vierspurigen Autobahnausfahrt festgeklebt und so einen Rückstau verursacht haben. Insgesamt hätten sich sechs Aktivisten auf die Fahrbahn festkleben wollen; zwei der Aktivisten seien durch schnelles Einschreiten der Polizei daran gehindert worden. Drei der Aktivisten hätten sich auf die zwei linken Fahrspuren und ein weiterer Aktivist auf eine der zwei rechten Fahrspuren festkleben können. Der Angeschuldigte soll sich – flankiert durch zwei weitere festgeklebte Aktivisten – in die Mitte der zwei linken Fahrspuren festgeklebt haben. Der Verkehr sei kurzzeitig komplett zum Erliegen gekommen. Aufgrund des Umstandes, dass zwei Aktivisten am Festkleben gehindert werden konnten, sei eine von zwei der rechten Fahrspuren wieder freigegeben und der Verkehr hierüber abgeleitet worden. Um 8.53 Uhr sei durch die Polizei eine verfügende Beschränkung dahingehend erfolgt, dass der Versammlung ein anderer Ort – nämlich der Bürgersteig unter der Autobahnbrücke – zugewiesen wurde, und es sei die sofortige Vollziehbarkeit der Beschränkung angeordnet worden. Die (festgeklebten) Versammlungsteilnehmer seien der Verfügung nicht nachgekommen, sodass die Versammlung um 8.55 Uhr aufgelöst worden sei. Der Angeschuldigte sei in der Zeit von 8.59 bis 9.01 Uhr von der Fahrbahn unter Einsatz des Lösemittels Aceton abgelöst und weggeführt worden.
Es waren durch die Tat zur Hauptverkehrszeit an einer vielbefahrenen Ausfahrt sehr viele Verkehrsteilnehmer betroffen. Deren Fortbewegungsfreiheit ist vorliegend jedoch nur in überschaubaren Umfang beeinträchtigt worden. Denn bis zur vollständigen Auflösung der Versammlung und Freigabe der Fahrspuren ist ein Zeitraum von lediglich ca. 35 Minuten vergangen, was hinsichtlich der üblichen Stauzeiten in Berlin aufgrund verschiedenster Ursachen als moderat bezeichnet werden kann. Ferner hat sich zwar ein Rückstau gebildet, dessen Ausmaß sich anhand der Aktenlage nicht feststellen lässt, der Verkehr ist aber nur kurzzeitig zum absoluten Stillstand gekommen, da schon nach kurzer Zeit eine Ableitung des Verkehrs über die freigegebene rechte Fahrspur möglich war.
Es kann nicht außer Betracht bleiben, dass der Angeschuldigte und seine Mittäter für ihre Versammlung einen Ort wählten, an dem zu der konkreten (Tat-) Zeit mit einem besonders hohen Verkehrsaufkommen gerechnet werden musste, da sie eine möglichst große und über das tatsächlich Erreichte hinausgehende Beeinträchtigung des Straßenverkehrs anstrebten, und dass es lediglich aufgrund des schnellen Eingreifens der Polizei nicht zu einer vollständigen Blockade der Ausfahrt kam. Demgegenüber ist jedoch auch zu sehen, dass das mit der Versammlungsfreiheit einhergehende Recht über Art und Umstände, namentlich auch Ort und Zeit der Ausübung bestimmen zu können, generell auch mit dem Ziel ausgeübt werden darf, eine größtmögliche (mediale) Aufmerksamkeit hervorzurufen, und dass es auch vorkommt, dass Straßen einschließlich der Autobahnen in Berlin für angemeldete Versammlungen genutzt werden dürfen (z.B. Fahrradsternfahrt über die Stadtautobahn, wenngleich mit langer Vorankündigung und an verkehrsarmen Tagen).
bbb) Der Angeschuldigte beziehungsweise die Gruppierung "Aufstand der letzten Generation" hat vorher öffentlich bekannt gegeben, dass es am 30. Juni 2022 – hiesiger Tattag – im gesamten Stadtgebiet zu Sitzblockaden kommen werde. Die konkreten Orte und Zeitpunkte der Sitzblockaden wurden jedoch nicht genannt, so dass es den betroffenen Verkehrsteilnehmern nicht möglich war, sich konkret eine Ausweichroute zu suchen. Ein Umsteigen auf den öffentlichen Nahverkehr oder das Einplanen von mehr Zeit wäre den betroffenen Verkehrsteilnehmen allerdings generell möglich gewesen.
Der Umstand, dass der Angeschuldigte und seine Mittäter die Versammlung entgegen § 12 VerFG BE nicht angemeldet haben, fällt bei der Abwägung nicht wesentlich ins Gewicht. Zwar sind Versammlungen unter freiem Himmel – wie die hiesige Sitzblockade – grundsätzlich nach dieser Vorschrift anmeldepflichtig. Allerdings handelt es sich hierbei um eine reine Ordnungsvorschrift, die nicht Rechtsmäßigkeitsvoraussetzung für die Versammlung ist (vgl. Peters/Janz VersammlungsR-HdB, F. Versammlungsrechtliche Pflichten und Verbote Rn. 29, beck-online). Um den Schutzzweck der Versammlungsfreiheit nicht zu unterlaufen, darf eine Versammlung etwa auch nicht allein aufgrund des Umstands, dass gegen die Anmeldepflicht verstoßen wurde, aufgelöst werden (vgl. BverfG 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, Beschluss vom 14. Mai 1985/ BvVVerfGE 69, 315 Rn. 74).
ccc) Hinsichtlich der Dringlichkeit der beeinträchtigten Fahrten sind nach Aktenlage keine konkreten Feststellungen möglich. Es kann lediglich davon ausgegangen werden, dass angesichts einer Vielzahl von betroffenen Verkehrsteilnehmern auch dringliche Fahrten betroffen waren.
ddd) Ein Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand ist gegeben. Der Angeschuldigte und seine Mittäter legten nach Aktenlage unter anderem Transparente mit der Aufschrift "Öl sparen statt Bohren" aus, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. Ihr Protest richtete sich mithin gegen die Gewinnung von Energie aus fossilen Brennstoffen, konkret auch den Energieverbrauch durch den motorisierten Straßenverkehr, welcher ganz überwiegend noch mit Kraftstoffen auf Erdölbasis betrieben wird.
eee) Dem Festkleben als solchem ist im Zusammenhang mit der Abwägung im Rahmen des § 240 Abs. 2 StGB hier keine eigenständige größere Bedeutung zuzumessen. Das Festkleben wirkte sich in rechtlich relevanter Weise nämlich erst nach der Anordnung der Auflösung der Versammlung durch die Polizei aus. Zwar wurde so der Polizei die Durchsetzung dieser Anordnung erschwert – dazu auch im Folgenden unter bb. – die Ablösung des Angeschuldigten von der Fahrbahn war jedoch innerhalb sehr kurzer Zeit möglich. Vom Zeitpunkt der Auflösung der Versammlung (8.55 Uhr) bis zum Ablösen des Angeschuldigten und dessen Verbringung von der Fahrbahn (9.01 Uhr) vergingen nur wenige Minuten, in denen die Fortbewegungsfreiheit der betroffenen Verkehrsteilnehmer länger beeinträchtigt war als es ohne das Festkleben der Fall gewesen wäre.
fff) In einer Gesamtschau der genannten Umstände, insbesondere einer zwar sehr großen Zahl an beeinträchtigten Verkehrsteilnehmern mit teils sicherlich dringlichen Fahrten, einem Maß an tatsächlicher Beeinträchtigung, welches jedoch den tagtäglich in Berlin vorkommenden Verkehrsbeeinträchtigungen entspricht, und einem sehr konkreten Bezug des Protestgegenstandes zum Straßenverkehr, ist in einer Gesamtschau nur eine so große Beeinträchtigung von Rechten von Verkehrsteilnehmern festzustellen, dass die verursachte Beschränkung ihrer Fortbewegungsfreiheit als sozial-adäquate (Neben-) Folge der rechtmäßig durchgeführten Versammlung hinzunehmen ist und hinter der Versammlungsfreiheit zurücktreten muss.
bb) Nach Aktenlage besteht allerdings die erforderliche Wahrscheinlichkeit, dass der Angeschuldigte wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 Abs. 1 StGB verurteilt werden wird. Dies ergibt sich – ungeachtet der vom Amtsgericht vorgenommenen rechtlichen Bewertung, das Festkleben stelle keine Gewalt dar, – bereits aus tatsächlichen Erwägungen.
aaa) Unter Widerstand ist eine aktive Tätigkeit gegenüber dem Vollstreckungsbeamten mit Nötigungscharakter zu verstehen, mit der die Durchführung einer Vollstreckungsmaßnahme verhindert oder erschwert werden soll (vgl. BGH, Beschluss vom 15.01.2015 – 2 StR 204/14, NStZ 2015, 388, beck-online). Ein Erschweren liegt dann vor, wenn die Beamten ihre Amtshandlung nicht ausführen können, ohne ihrerseits eine nicht ganz unerhebliche Kraft aufwenden zu müssen (vgl. BGH, Urteil vom 16. 11. 1962 – 4 StR 337/62, NJW 1963, 769, beck-online). Hierbei ist festzuhalten, dass ausschließlich passiver Widerstand (bloßer Ungehorsam), etwa durch einfache Sitzblockade oder anderer Formen bloßer Verweigerung der Mitwirkung, für die Tatbestandsverwirklichung nicht ausreichen (vgl. BGH, Urteil vom 16. 11. 1962 a. a. O.).
bbb) Unter Anwendung dieses Maßstabes ergibt sich der hinreichende Tatverdacht bereits aus den Bekundungen des Zeugen POM pp.. Danach soll der Angeschuldigte, nachdem die Versammlung von der Polizei aufgelöst und er von der Fahrbahn getrennt wurde, während der Zuführung unter die Autobahnbrücke immer wieder versucht haben, sich aktiv auf die Fahrbahn zu setzen. Er soll mehrfach versucht haben, wieder auf die Fahrbahn zu gelangen, was durch "Anwendung von Zwang, Schieben und Drücken" durch die Polizeibeamten unterbunden werden konnte. Durch diese Versuche, sich erneut auf die Fahrbahn zu begeben, hat der Angeschuldigte durch tätiges Handeln eine Kraftäußerung gegenüber den Polizeibeamten bewirkt, die offenbar auch geeignet war, die polizeiliche Maßnahme zu erschweren. Denn die Polizeibeamten mussten die erneuten Versuche des Angeschuldigten durch Anwendung nicht unerheblicher Kraft – in Form von Schieben und Drücken – unterbinden. Ein Fall des bloßen Ungehorsams liegt gerade nicht vor. Anhaltspunkte für Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen POM pp. ergeben sich aus der Akte nicht. Vor allem hat der Zeuge PK pp. in seiner Zeugenaussage ebenfalls von (zumindest) einem weiteren durch die Polizeibeamten unterbundenen Versuch durch den Angeschuldigten, sich auf die Fahrbahn zu begeben, um sich festzukleben, berichtet, was im Einklang mit der Aussage des Zeugen POM pp. steht.
ccc) Darüber hinaus ist nach der Bewertung der Beschwerdekammer auch durch das Festkleben der Hand des Angeschuldigten auf die Fahrbahn eine strafbewehrte Widerstandshandlung im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB gegeben.
Das Festkleben der Hand auf die Fahrbahn richtete sich von vornherein gegen das Verbringen des Angeschuldigten durch die Polizei an einen anderen Ort. Die durch das Auftragen des Sekundenklebers bewirkte Kraftäußerung des Angeschuldigten erschwerte das Wegtragen durch die Polizei, da zunächst die Ablösung der Hand von der Fahrbahn – wenngleich dies nur etwa zwei Minuten dauerte – erforderlich war. Selbst wenn unterstellt wird, dass der Angeschuldigte mit dem Festkleben öffentliche Aufmerksamkeit erzielen wollte, so nahm er zumindest billigend in Kauf, dass das Festkleben die Vollstreckungshandlung, hier das erwartete Verbringen von der Fahrbahn durch Polizeibeamte, erschweren würde (vgl. hierzu OLG Stuttgart, Urteil vom 30. Juli 2015 – 2 Ss 9/15 –, Rn. 19, juris).
Das Festkleben erfolgte auch "bei der Vornahme einer Diensthandlung" (§ 113 Abs. 1 StGB).
Grundsätzlich muss die Vollstreckungshandlung bereits begonnen haben oder zumindest unmittelbar bevorstehen und darf noch nicht beendet sein. Beginn und Ende werden dabei nicht rein formal in vollstreckungsrechtlicher Betrachtung festgelegt, sondern auf Ereignisse in unmittelbarem Zusammenhang mit der eigentlichen hoheitlichen Tätigkeit ausgedehnt. Danach kann ein enger Zusammenhang mit der Vollstreckungstätigkeit angenommen werden, wenn sich der Amtsträger bereits im "Kontakt- bzw. Herrschaftsbereich" des von der Amtshandlung Betroffenen befindet (MüKoStGB/Bosch, 4. Aufl. 2021, StGB § 113 Rn. 13, beck-online).
Nach obergerichtlicher Rechtsprechung genügt es jedoch, wenn die bei der Widerstandsleistung notwendige Kraftentfaltung auch schon vor dem Beginn der erwarteten Amtshandlung vorgenommen wird, wenn der Betroffene mit entsprechendem Vorsatz handelt, durch seine Tätigkeit den Widerstand vorzubereiten (BGH, Urteil vom 16. 11. 1962 a. a. O.; OLG Stuttgart, Urteil vom 30. Juli 2015 a.a.O.).
Vorliegend ist – nach Aktenlage – davon auszugehen, dass der Angeschuldigte von vornherein mit entsprechender Absicht handelte, sich auf die Fahrbahn zu kleben, um die Verbringung durch die Polizeibeamten, die ihrerseits bereits vor Ort und damit im "Kontaktbereich" des Angeschuldigten waren, zu erschweren. Aufgrund vorheriger Blockadeaktionen durch die Gruppierung "Aufstand der letzten Generation" und deren Auflösungen durch die Polizei wusste der Angeschuldigte, dass auch die hiesige, verfahrensgegenständliche Versammlung vom 30. Juni 2022 aufgelöst werden wird. Das Festkleben stellte sich insoweit als gegen die Polizeibeamten gerichtete, vorweggenommene tätige Handlung dar, die der Angeschuldigte in Erwartung des späteren Einsatzes der Polizeibeamten vornahm und die sich im Zeitpunkt der Amtshandlung – dem Wegtragen von der Fahrbahn – tatsächlich auch auswirkte, da die Ablösung von der Fahrbahn zunächst veranlasst werden musste. Mangels erkennbaren eigenständigen Kommunikationsgehalt des Festklebens ist hier von einem entsprechenden Vorsatz des Angeschuldigten auszugehen.
ddd) Die Handlungen des Angeschuldigten, welche er unternommen haben soll, um trotz des Eingreifens der Polizei möglichst lange die Blockade aufrechterhalten zu können, also das Festkleben und wie auch die Versuche, sich wieder auf die Straße zu setzen bzw. auf diese zurückzukehren, sind insgesamt Teil der im Strafbefehl bezeichneten Tat im Sinne des § 264 StPO, welche Gegenstand der Entscheidung ist, auch wenn die letztgenannten Handlungen keine ausdrückliche Erwähnung im Strafbefehl gefunden haben. Die prozessuale Tat im Sinne von § 264 StGB ist der einheitliche geschichtliche Vorgang, innerhalb dessen ein Angeschuldigter einen Straftatbestand verwirklicht haben soll; sie umfasst das gesamte Verhalten des Täters, soweit es sich nach natürlicher Lebensauffassung als einheitlicher Lebensvorgang darstellt, dessen getrennte Aburteilung zu einer Aufspaltung eines zusammengehörenden Geschehens führen würde (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl. 2023, StPO § 264 Rn. 2 und 3). Dies ist hier gegeben.
b) Der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 20. Oktober 2022 ist aufzuheben.
Angesichts des Umstandes, dass die Beschwerdekammer von der rechtlichen Beurteilung im Strafbefehlsantrag abweicht und die Staatsanwaltschaft im Verfahren deutlich gemacht hat, dass sie an ihrer rechtlichen Bewertung festhält, kommt der Erlass eines Strafbefehls nach § 408 Abs. 3 Satz 1 StPO nicht in Betracht, sondern nur eine Vorgehensweise nach § 408 Abs. 3 Satz 2 StPO. In diesem Fall trifft deshalb die Beschwerdekammer nach § 309 Abs. 2 StPO selber die Entscheidung ob nach § 408 Abs. 3 Satz 1 oder Satz 2 StPO vorgegangen werden soll.
Von der Möglichkeit, die Sache vor einer anderen Abteilung des Amtsgerichts zu eröffnen (§ 210 Abs. 3 Satz 1 StPO) hat die Beschwerdekammer keinen Gebrauch gemacht, da sie ihre Eröffnungsentscheidung auf ein tatsächliches Geschehen stützt, welches von der rechtlichen Würdigung durch das Amtsgericht nicht erfasst war.
2. Eine Kosten- und Auslagenentscheidung ist derzeit nicht veranlasst; diese bleibt der abschließenden Sachentscheidung in der Hauptsache vorbehalten (vgl. OLG München, Beschluss vom 23.10.2013 – 2 Ws 794/13 u.a., juris; OLG Hamm, Beschluss vom 24.01.2013 – III-3 Ws 13/13, juris).
Einsender:
Anmerkung:
Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.
Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".