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Entscheidungen

StPO

Zustandekommen einer Verständigung, Verletzung der Mitteilungspflicht, Belehrungspflicht

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Koblenz, Beschl. v. 20.07.2023 - 4 ORs 4 Ss 16/23

Eigener Leitsatz:

Zur Verletzung der Mitteilungs- und Belehrungspflicht in Zusammenhang mit dem Zustandekommen einer Verständigung.


4 ORs 4 Ss 16/23

Oberlandesgericht Koblenz

Beschluss
In dem Strafverfahren
gegen pp.

wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung

hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Amtsgericht am 20. Juli 2023 einstimmig gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Bingen am Rhein vom 8. August 2022 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Das Verfahren wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Strafrichter zuständige Abteilung des Amtsgerichts Bingen am Rhein zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Am 8. August 2022 fand gegen den Angeklagten vor dem Amtsgericht - Strafrichter -Bingen am Rhein die Hauptverhandlung wegen im Straßenverkehr begangener Straftaten statt.

Unmittelbar nach der Belehrung des Angeklagten über seine Aussagefreiheit regte die Verteidigung ein Verständigungsgespräch an, woraufhin die Verhandlung unterbrochen wurde. Eine nachfolgende Wiedergabe vom wesentlichen Ablauf, Inhalt sowie Ergebnis von Verständigungsgesprächen nach §§ 257c, 273 Abs. la Satz 1 StPO sowie einer damit einhergehende Belehrung des Angeklagten lässt sich dem Hauptverhandlungsprotokoll ebenso wenig entnehmen wie das Negativattest gemäß § 273 Abs. 1 a Satz 3 StPO.

Das Hauptverhandlungsprotokoll verhält sich hierzu wie folgt:
„Der Verteidiger erklärte:
Die Verteidigung regt ein Verständigungsgespräch an.
Die Hauptverhandlung wird um 12:35 Uhr unterbrochen.
Die Hauptverhandlung wird um 13:06 Uhr fortgesetzt.
Zur Sache erklärte der Verteidiger:
Mein Mandant räumt den Verstoß ein. Die Straßenverkehrsgefährdung in Verbindung mit der Nötigung. Er hat beschleunigt und dann kam der LKW immer näher, er musste dann schnell links rüber ziehen und ist dann vom Gas gegangen. Sein Fahrzeug hat stark entschleunigt, dadurch hat sich dann die Notbremsung des Geschädigten eingeschaltet.
Auf Nachfrage des Gerichts erklärte der Angeklagte:
Ich stimme dem zu."

Aufgrund dieser Hauptverhandlung hat das Amtsgericht den Angeklagten sodann – bei gleichzeitiger Einstellung eines weiteren Tatvorwurfs nach § 154 Abs. 2 StPO - wegen Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit Nötigung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 30,- Euro verurteilt, ohne die Schuldform im Tenor kenntlich zu machen. Unter Verhängung einer Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis von sechs Monaten hat es dem Angeklagten darüber hinaus die Fahrerlaubnis entzogen und dessen Führerschein eingezogen.

Im Wesentlichen hat das Amtsgericht folgende Feststellungen getroffen:

Der Angeklagte befuhr am 23. Juni 2021 gegen 14:10 Uhr mit seinem Pkw Tesla mit dem amtlichen Kennzeichen pp. die Autobahn A60 in Fahrtrichtung Bingen, wobei er mehrfach zwischen der rechten und linken Spur hin und her wechselte. Zwischen der Anschlussstelle Ingelheim-Ost und Ingelheim-West befand sich der Angeklagte sodann auf der linken Fahrspur hinter dem PKW des Zeugen pp. mit dem amtlichen Kennzeichen pp., der mit einer Geschwindigkeit von 130 km/h fuhr. Der Angeklagte fuhr an den Zeugen heran und versuchte zunächst mehrfach erfolglos, diesen rechts zu überholen. Sodann wechselte der Angeklagte erneut auf die rechte Spur, beschleunigte und zog sein Fahrzeug knapp vor dem PKW des Zeugen auf die linke Spur und bremste ab. Im Fahrzeug des Zeugen pp. schaltete sich der automatische Bremsassistent ein, wodurch der Zeuge die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor, ins Schlingern geriet und über beide Fahrspuren schleuderte, bis er auf dem Standstreifen zum Stehen kam. Der Angeklagte hatte sich dabei im Interesse eines schnelleren Vorankommens über das Interesse der Allgemeinheit an der Einhaltung von Verkehrsvorschriften hinweggesetzt und eine Gefährdung des Zeugen zumindest billigend in Kauf genommen.

II.

Gegen das Urteil vom 8. August 2022 hat der Angeklagte durch taggleich beim Amtsgericht eingegangenen Bestellungsschriftsatz seines weiteren Verteidigers, Rechtsanwalt pp., am 15. August 2022 zunächst Berufung eingelegt.

Aufgrund von Versäumnissen im Geschäftsbereich des Amtsgerichts wurde das Protokoll der Hauptverhandlung erst am 25. November 2022 fertiggestellt und aufgrund richterlicher Verfügung vom gleichen Tag eine formlose Übersendung des - zuvor indes fristgerecht mit Gründen zur Geschäftsstelle gelangten - Urteils an den Angeklagten sowie eine Zustellung an den (ersten) Verteidiger veranlasst, der das Urteil am 6. Dezember 2022 erhielt.

Mit taggleich beim Amtsgericht eingegangenem Schriftsatz vom 4. Januar 2023 erklärte der weitere Verteidiger des Angeklagten, das eingelegte Rechtsmittel werde als Sprungrevision durchgeführt und begründete diese zugleich.

Der Angeklagte rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Hinsichtlich der näheren Einzelheiten wird auf die Revisionsbegründungsschrift (BI. 155 ff. d.A.) Bezug genommen.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, wie erkannt. Der Angeklagte hatte Gelegenheit zur Stellungnahme, hat hiervon indes keinen Gebrauch gemacht.

1. Die nach §§ 335 Abs. 1, 312 StPO statthafte Sprungrevision ist zulässig erhoben, da sie gemäß §§ 341 Abs. 1, 344 Abs. 1, Abs. 2, 345 Abs. 1 und 2 StPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet wurde.

Insbesondere hat der Angeklagte die einwöchige Revisionseinlegungsfrist des § 341 Abs. 1 StPO durch Einlegung des zunächst als Berufung bezeichneten Rechtsmittels, das nachfolgend als Sprungrevision konkretisiert wurde, gewahrt. Der entsprechende Schriftsatz ging am 15. August 2022 - und somit am letzten Tag der Wochenfrist des § 341 Abs. 1 StPO nach Verkündung des Urteils am 8. August 2022 - beim Amtsgericht ein. In dem Fall, dass ein Urteil sowohl mit der Berufung als auch mit der (Sprung-) Revision angefochten werden kann (§ 335 StPO), ist der Übergang vom Rechtsmittel der Berufung zum Rechtsmittel der Revision grundsätzlich auch dann noch zulässig, wenn der Rechtsmittelführer sein Rechtsmittel bereits ausdrücklich als Berufung bezeichnet hat, vorausgesetzt, die für den Übergang erforderliche Erklärung erfolgt - wie hier geschehen - innerhalb der Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO (vgl. BGH, Beschl. 1 StR 279/53 v. 20.11.1953; 2 StR 317/84 v. 19.04.1985 - jew. n. juris). Solange der Übergang zur Revision noch zulässig ist, ist das Rechtsmittel als unter dem Vorbehalt der endgültigen Bestimmung eingelegt anzusehen (vgl. BGH, Beschl. 5 StR 442/61 v. 22.01.1962 ; 5 StR 12/74 v. 19.03.1974 -jew. n. juris). Die Erklärung des Übergangs ist eine Rechtsmitteleinlegung und wie diese zu behandeln (vgl. BayObLG, Beschl. Reg 5 St 138/83 v. 25.07.1983 - MDR 1983, 1045), sodass sie - wie vorliegend geschehen - grundsätzlich bei dem Gericht anzubringen ist, das das angegriffene Urteil erlassen hat.

Infolge der zunächst unterbliebenen Zustellung des amtsgerichtlichen Urteils an den Verteidiger, die am 6. Dezember 2022 nachgeholt wurde, lief die einmonatige Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO noch bis zum Ablauf des 6. Januar 2023, sodass die beim Amtsgericht angebrachte Umstellung auf das Rechtsmittel der Sprungrevision durch taggleich eingegangenen Schriftsatz vom 4. Januar 2023 fristgerecht erfolgte.

2. Die Revision hat bereits mit der Verfahrensrüge Erfolg, sodass die ebenfalls erhobene Sachrüge keiner weiteren Prüfung bedarf.

Es liegt eine Verletzung formellen Rechts vor, da eine erforderliche Verfahrenshandlung unterblieben ist. Der Revisionsführer rügt zu Recht die - auch bewiesene - Verletzung von § 243 Abs. 4 Satz 2 iVm. § 273 Abs. 1 a Satz 2 StPO dadurch, dass die Tatrichterin nicht nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO über außerhalb der Hauptverhandlung tatsächlich geführte Verständigungsgespräche berichtet und den Angeklagten nicht nach § 257c Abs. 5 StPO belehrt hat.

a) Die Rüge des Verstoßes gegen Mitteilungspflichten nach § 243 Abs. 4 StPO im Zusammenhang mit einem vorgetragenen Verständigungsgespräch in unterbrochener Hauptverhandlung ist zulässig, denn das Vorbringen genügt den gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zu stellenden Anforderungen.

Grundsätzlich sind die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen so vollständig und genau darzulegen, dass das Revisionsgericht allein auf Grund dieser Darlegung das Vorhandensein eines Verfahrensmangels feststellen kann, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen sind oder bewiesen werden (vgl. BGH, Beschl. 1 StR 602/12 v. 08.01.2013 - NStZ 2013, 672 ; MüKo-StPO/Knauer/Kudlich, 1. Aufl. § 344 Rn. 57). Eine Verfahrensrüge ist daher im Allgemeinen unzulässig, wenn sich dem Revisionsvorbringen nicht die bestimmte Behauptung entnehmen lässt, dass ein Verfahrensfehler vorliegt, sondern nur, dass er sich aus dem Protokoll ergebe (vgl. BGH, Beschl. 4 StR 181/11 v. 13.07.2011 - juris).

Soweit der Revisionsführer - wie hier - die fehlende Dokumentation aller mit dem Ziel einer Verständigung geführten Erörterungen rügt, genügt sein Vorbringen den strengen Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO indes bereits dann, wenn Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung geführt wurden und eine Mitteilung des Vorsitzenden über deren wesentlichen Inhalt tatsächlich nicht erfolgt ist oder jedenfalls nicht im Protokoll dokumentiert wurde und der Revisionsführer nur auf das Fehlen dieser Dokumentation hinweist (BGH, Urt. 2 StR 195/12 v. 10.07.2013 - juris).

Diesen Anforderungen wird die Begründungsschrift gerecht, denn der Revisionsführer führt detailliert aus, dass auf Anregung seines damaligen Verteidigers, Rechtsanwalt pp., während unterbrochener Hauptverhandlung ein ohne den Angeklagten geführtes Verständigungsgespräch zwischen diesem, der Vorsitzenden und der Vertreterin der Staatsanwaltschaft stattgefunden habe. Er stellt weiter den wesentlichen Inhalt der Gespräche dahingehend dar, dass es zu einer Absprache gekommen sei, der sowohl Staatsanwaltschaft als auch Gericht zugestimmt hätten. Gegenstand derselben sei es gewesen, den angeklagten Fall 2, eine falsche Verdächtigung nach § 164 StGB, gemäß § 154 Abs. 2 StPO einzustellen und für den angeklagten Fall 1, der letztlich auch zur Verurteilung gelangte, eine Geldstrafe von höchstens 90 Tagessätzen zu verhängen. Zudem wird unter Darstellung der entsprechenden Protokollstellen dargestellt, dass sich darin keine Ausführungen zu diesen Vorgängen finden.

Die Revision stellt damit insbesondere nicht auf eine nur fehlende Protokollierung ab, ohne zugleich darzustellen, ob der nicht protokollierte Vorgang tatsächlich stattgefunden hat oder nicht. Die Grundsätze zur Unzulässigkeit einer bloßen Protokollrüge gelten nicht, wenn - wie hier - ein Verfahrensfehler behauptet wird, der in seinem Kern darin besteht, dass das Hauptverhandlungsprotokoll den Inhalt außerhalb der Verhandlung geführter Verständigungsgespräche nicht wiedergibt (BGH, Urt. 2 StR 195/12 v. 10.07.2013 - juris).

b) Der Rügeinhalt ist auch als bewiesen anzusehen.

Zwar findet sich weder in der Urteilsurkunde noch im Hauptverhandlungsprotokoll gemäß den §§ 267 Abs. 3 Satz 5, 273 Abs. 1 Satz 2, Abs. 1 a Satz 1 und 2 StPO die Feststellung, dass eine Verständigung im Laufe des Verfahrens stattgefunden habe. Andererseits fehlt im Hauptverhandlungsprotokoll auch das sogenannte Negativattest des § 273 Abs. la Satz 3 StPO, dass eine Verständigung nicht stattgefunden habe. Mithin enthält das Protokoll auf Grund seiner jeweils negativen Beweiskraft sich widersprechende Feststellungen zur Frage, ob in der Hauptverhandlung eine Verständigung stattgefunden hat, womit seine Beweiskraft insoweit entfällt (vgl. BGH, Urt. 2 StR 395/61 v. 20.11.1961 - juris; Mey-er-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. § 274 Rn 16). Aufgrund dessen hatte der Senat die Frage, ob in der Hauptverhandlung eine Verständigung erfolgt ist, im Freibeweisverfahren aufzuklären (vgl. BGH, Urt. 1 StR 125/62 v. 10.04.1962 - juris; Meyer-Goßner aaO. Rn 18 mwN.).

Der Senat hat hierzu (dienstliche) Stellungnahmen der Beteiligten eingeholt, die in würdigender Gesamtschau belegen, dass es in unterbrochener Hauptverhandlung zu Verständigungsgesprächen gekommen ist, die nachfolgend nicht ordnungsgemäß protokolliert wurden.

Sowohl der in der fraglichen Hauptverhandlung anwesende Verteidiger des Angeklagten als auch die entscheidende Richterin haben durch Schriftsatz vom 5. April 2023 sowie dienstliche Stellungnahme vom 23. Mai 2023 klar bestätigt, dass (Anm. d. Senats: entsprechend dem Gesetzeswortlaut des § 257c Abs. 1 Satz 1 StPO) „Gespräche zwischen dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung stattgefunden haben, in denen über den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens gesprochen wurde."

Dies fügt sich darüber hinaus plausibel in das - wenn auch lückenhaft - dokumentierte prozessuale Geschehen, insbesondere die protokollierte Anregung des Verteidigers, die folgende Verhandlungspause, die anschließende geständige Verteidigererklärung zu Fall 1 der Anklage sowie - vor dem Hintergrund der nach § 257c Abs. 4 StPO erforderlichen Zustimmungen - der nach der Verteidigererklärung protokollierten Erklärung des Angeklagten „Ich stimme dem zu" ein.

Diesem insoweit stimmigen Gesamtbild steht auch nicht die dienstliche Stellungnahme der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft entgegen, nach deren Ansicht „das Rechtsgespräch nicht das Gepräge einer Verständigung im Strafverfahren" gehabt habe und die „an eine Zusage über die Höhe der zu erwartenden Geldstrafe" keine Erinnerung hat. Zum Einen weist sie darauf hin, sich aufgrund des Zeitablaufes an die Hauptverhandlung nur noch vage erinnern zu können. Zudem spricht der Gesamtinhalt ihrer dienstlichen Stellungnahme auch nicht gegen das Vorliegen einer Verständigung, sondern der Umstand, dass sie in der staatsanwaltlichen Handakte unter anderem vermerkte „Aufgrund kurzer Verständigung bzw. Besprechung wurde das Geständnis abgegeben hinsichtlich Fall 1" neben den - bereits dargestellten - weiteren Stellungnahmen und dem zu einer Verständigung „passenden" äußeren Geschehensablauf auch eher für als gegen deren Vorliegen.

c) Die Rüge ist auch begründet. Es fehlt an einer Information durch das Gericht sowie einer ordnungsgemäßen Protokollierung über den wesentlichen Inhalt des geführten Verständigungsgesprächs, in dem für den Fall eines Geständnisses von Fall 1 der Anklageschrift eine bestimmte Rechtsfolge in Aussicht gestellt wurde. Bei diesem Gespräch handelt es sich um eine Erörterung, die auf eine einvernehmliche Verfahrenserledigung gerichtet war; es unterfällt mithin der Regelung des § 257c StPO. Dies stellt einen Verfahrensfehler dar, auf dem das Urteil auch beruht.

Nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO teilt der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes mit, ob Erörterungen im Sinne der §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung gewesen ist, und gegebenenfalls deren wesentlichen Inhalt (vgl. dazu auch OLG Koblenz, Urt. 2 StR 47/13 v. 10.07.2013). Diese Mitteilungspflicht ist gemäß § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO weiter zu beachten, wenn - wie hier Erörterungen erst nach Beginn der Hauptverhandlung stattgefunden haben (vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 12; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. § 243 Rn. 18c). Zur Gewährleistung der Möglichkeit einer effektiven Kontrolle ist die Mitteilung des Vorsitzenden hierüber gemäß § 273 Abs. 1 a StPO in das Protokoll der Hauptverhandlung aufzunehmen. Das Fehlen der Protokollierung ist ein Rechtsfehler des Verständigungsverfahrens (vgl. BVerfG Urt. 2 BvR 2628/10 v. 19.03.2013 - NJW 2013, 1058 <1067>). Ein Mangel des Verfahrens an Transparenz und Dokumentation der Gespräche, die mit dem Ziel der Verständigung außerhalb der Hauptverhandlung geführt wurden, führt - ebenso wie die mangelhafte Dokumentation einer Verständigung - regelmäßig dazu, dass ein Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler des Verstoßes gegen § 257c StPO nicht auszuschließen ist (vgl. BVerfG, aaO.; BGH, Beschl. 1 StR 315/15 v. 18.07.2016 - juris).

Die Generalstaatsanwaltschaft hat ergänzend dazu in ihrem Votum vom 6. März 2023 wie folgt ausgeführt:

„Eine Ausnahme kommt nur dann in Betracht, wenn das gesetzliche Schutzkonzept der §§ 243 Abs. 4, 273 Abs. 1 a, 257c StPO nicht unterlaufen wird (BVerfG, BGH - wie vor). In besonders gelagerten Einzelfällen ist dies insbesondere denkbar, wenn etwa feststeht, dass es tatsächlich keine Verständigungsgespräche gegeben hat oder der Prozessverlauf trotz stattgefundener Gespräche nicht beeinflusst worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 15.01.2015, 1 StR 315/14, bei juris Rn. 17 m.w.N.). Nach Maßgabe dessen liegt jedenfalls unter den vorliegenden Umständen hier kein Ausnahmefall vor, in dem das Beruhen des Urteils auf dem Verstoß gegen § 243 Abs. 4 S. 1 StPO ausgeschlossen werden kann. Aufgrund nicht lediglich einer Beschränkung der Mitteilung, sondern ihres vollständigen Unterlassens, liegt ein Ausschluss des Beruhens schon aus Transparenzgründen fern (vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 15.01.2015, 1 StR 315/14, juris Rn. 19). Selbst wenn der Angeklagte von seinem Verteidiger über den Inhalt des Gesprächs hinreichend informiert wurde - was dieser indes bestreitet (BI. 158 d. A.) -, ist das gesetzliche Schutzkonzept dennoch berührt, denn jedenfalls die Gewährleistung effektiver Kontrolle des mit der Verständigung verbundenen Geschehens durch die Öffentlichkeit konnte hierdurch nicht ersetzt werden."

Dem schließt sich der Senat nach eigener Wertung vollumfänglich an. 3.

Im Zusammenhang mit der vorstehenden Verfahrensrüge hat der Angeklagte darüber hinaus auch eine Verletzung der sich aus § 257c Abs. 5 StPO ergebenden Belehrungspflicht gerügt, der ebenfalls ein Erfolg nicht zu versagen ist.

Soweit der Angeklagte hinsichtlich der auszuführenden Verfahrenstatsachen auf die vorherige Rüge Bezug nimmt, steht dies der Einhaltung der strengen Erfordernisse des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ausnahmsweise nicht entgegen, da die mitzuteilenden Tatsachen sich insoweit als identisch darstellen, da sie auf ein und demselben Verfahrensvorgang beruhen. Der Rügevortrag ist damit weiterhin - trotz Bezugnahme - aus sich heraus so verständlich, dass das Revisionsgericht ohne Weiteres daran anknüpfen kann (vgl. BGH Beschl. 3 StR 486/09 v. 18. Februar 2010; 1 StR 75/14 v. 04.09.2014 - jew. n. juris).

Wie sich bereits aus den Darlegungen unter II. 2. ergibt, hat in einer Unterbrechung der Hauptverhandlung am 8. August 2022 vor dem Amtsgericht ein Erörterungsgespräch nach § 257c StPO stattgefunden, dem sodann in der Hauptverhandlung ein Geständnis - das hier in Form einer Verteidigererklärung mit anschließender Zustimmung des Angeklagten erfolgte - nachging. Dieses Verfahrensgeschehen löste die Belehrungspflicht des § 257c Abs. 5 StPO aus, sodass der Angeklagte vor Abgabe seines Geständnisses über die Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichts von dem in Aussicht gestellten Ergebnis hätte belehrt werden müssen. Die Belehrung gemäß § 257 c Abs. 5 StPO ist eine wesentliche Förmlichkeit, die in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen gewesen wäre (§ 273 Abs. 1 a S. 2 StPO). Da es hieran fehlt, ergibt sich im Hinblick auf die negative Beweiskraft des Protokolls (§ 274 S. 1 StPO), dass der Angeklagte nicht wie erforderlich belehrt wurde. Der Angeklagte wurde daher vom Gericht nicht in die Lage versetzt, eine autonome Entscheidung über seine Mitwirkung an der Verständigung zu treffen (vgl. hierzu BVerfG, Urt. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10 und 2 BvR 2155/11 v. 19.03.2013 - NJW 2013, 1058). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beruht ein solches Geständnis auf dem Unterlassen der Belehrung und mithin dem Verstoß gegen die Belehrungspflichten, wenn sich nicht ausnahmsweise feststellen lässt, dass der Angeklagte das Geständnis auch bei ordnungsgemäßer Belehrung abgegeben hätte (BVerfG, aaO.; 2 BvR 85/13 v. 30.06.2013; 2 BvR 2048/13 v. 25.08.2014 - jew. n. juris).

Ein solcher Einzelfall liegt in der vorliegenden Situation nicht vor, da der Revisionsführer insbesondere anbringt, dass er weder über den Inhalt noch das Ergebnis des geführten Verständigungsgesprächs unterrichtet worden sei. Zudem sei ihm nicht klar gewesen, dass mit dem abgelegten Geständnis auch die Entziehung der Fahrerlaubnis und eine Sperre verbunden waren. Der Angeklagte konnte die Tragweite seiner Zustimmung zu der Verteidigererklärung im Moment der Erklärung mangels ausreichender Informationsgrundlage demnach nicht beurteilen.

4. Wegen der aufgezeigten Rechtsfehler war das Urteil - mit den zugehörigen Feststellungen gemäß § 353 Abs. 1 StPO aufzuheben (§ 353 Abs. 2 StPO) und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine andere als Strafrichter zuständige Abteilung des Amtsgerichts Bingen am Rhein zurückzuverweisen.

Bei Verfahrensmängeln sind die hiervon betroffenen Urteilsteile grundsätzlich mit den Feststellungen aufzuheben (KK-StPO/Gericke, 9. Aufl. § 353 Rn. 27). Anderes gilt dann, wenn sich die fehlerhaft vorgenommene oder unterlassene Verfahrenshandlung im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf das angefochtene Urteil - wie hier eingedenk des Umstandes der Abgabe eines Geständnisses nicht - isolieren lässt (BeckOK-StPO/Wiedner, 47. Ed. § 353 Rn. 48).

5. Für die erneut durchzuführende Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Im Fall eines erneuten Schuldspruches wegen des Delikts des § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB bedarf es einer intensiveren Auseinandersetzung mit gleich mehreren Tatbestandsmerkmalen der Vorschrift. Der neue Tatrichter hat insoweit entsprechende - ausführlichere Feststellungen zu treffen und deren Vorliegen im Rahmen der Beweiswürdigung tragend zu begründen.

aa) So verhält sich grob rücksichtslos, wer sich aus eigensüchtigen Gründen über die ihm bewusste Pflicht zur Vermeidung unnötiger Gefährdung anderer (§ 1 StVO) hinwegsetzt oder aus Gleichgültigkeit Bedenken gegen sein Verhalten von vornherein nicht aufkommen lässt (vgl. BGH, Urt. 4 StR 796/53 v. 25.02.1954; BayObLG, Urt. RReg 1 St 101/86 v. 22.08.1986 - jew. n. juris).

Als subjektives Merkmal kann Rücksichtslosigkeit nicht schlechthin aus dem äußeren Tathergang gefolgert werden. Die Umschreibung, dass der Angeklagte zum Zwecke des schnelleren Fortkommens überholen wollte, reicht nicht aus. Jeder, der überholt, will schneller sein Fahrtziel erreichen. Es hat vielmehr eine Auseinandersetzung damit zu erfolgen, aus welchen Motiven der Angeklagte schneller vorankommen wollte.

bb) Gleiches gilt für das Merkmal des grob verkehrswidrigen Verhaltens. Grob verkehrswidrig ist ein nach Sachlage besonders gefährliches Abweichen vom pflichtgemäßen Verhalten (BeckOK-StGB/v. Heintschel-Heinegg, 57. Ed. § 315c Rn. 39). Zwar kann ein Autofahrer, der mit hoher Geschwindigkeit auf ein vorausfahrendes Fahrzeug auffährt, rechts überholt und sodann wieder einschwenkt und abbremst, sich dabei grob verkehrswidrig verhalten. Es bedarf jedoch tatrichterlicher Feststellungen zur Fahrtgeschwindigkeit des Angeklagten, des vorausfahrenden Fahrzeugs, der Anzahl der Fahrspuren der Autobahn sowie der Verkehrsdichte.

cc) Eine konkrete Gefährdung liegt vor, wenn das Gefährdungsobjekt so in den Wirkbereich der schadensträchtigen Tathandlung gelangt ist, dass der Eintritt eines Schadens nicht mehr gezielt abgewendet werden kann und sein Ausbleiben folglich nur noch von bloßen Zufälligkeiten abhängt; es muss also ein sog. „Beinaheunfall" vorliegen, bei dem es rückblickend nur „gerade noch einmal gut gegangen" ist (BGH, Beschl. 4 StR 375/68 v. 05.03.1969; 4 StR 667/11 v. 25.04.2012; 4 StR 725/94 v. 30.03.1995 -jew. n. juris). Letzteres ist anhand der konkreten Umstände mit Angaben etwa zu den gefahrenen Geschwindigkeiten, zur Intensität der Gefahrenbremsungen sowie dazu, inwieweit im Fall einer Kollision auch Leib und Leben der gefährdeten Person oder einer fremden Sache von bedeutendem Wert bedroht gewesen wären, darzulegen (vgl. BGH, Beschl. 4 StR 324/13 v. 24.09.2013 -BeckRS 2013, 18828; 4 StR 188/15 v. 30.06.2015 - BeckRS 2015, 13519).

dd) Darüber hinaus bedürfte im Falle erneuter Annahme des Vorliegens eines bedingten Vorsatzes hinsichtlich der Gefährdung derselbe eingehenderer Begründung sowie einer Abgrenzung zumindest zur bewussten Fahrlässigkeit.

b) Im Falle einer erneuten Verurteilung hat der Urteilstenor die Schuldform auszuweisen, da das Delikt ausweislich § 315c Abs. 3 Nr. 2 StGB sowohl vorsätzlich als auch fahrlässig begangen werden kann. Gleiches gilt hinsichtlich der konkreten Gefährdung, § 315c Abs. 3 StGB.

c) Die neuen schriftlichen Urteilsgründe haben sich, ausführlicher als bislang geschehen, mit der Einlassung des Angeklagten auseinanderzusetzen, die jedenfalls ihrem wesentlichen Inhalt nach wiederzugeben ist. Dies gilt auch in Fällen, in denen der Angeklagte ein Geständnis ablegt, denn ein Geständnis enthebt den Tatrichter nicht von der Pflicht, dieses einer kritischen Prüfung auf Plausibilität und Tragfähigkeit hin zu unterziehen und zu den sonstigen Beweismitteln in Beziehung zu setzen. Diese Maßstäbe gelten auch in Fällen, in denen der Angeklagte im Rahmen einer Verfahrensverständigung ein Geständnis ablegt (vgl. BGH, Beschl. 2 StR 75/14 v. 21.07.2015 - juris). Die Verständigung über den Strafrahmen darf gerade nicht dazu führen, dass ein Geständnis dem Schuldspruch zugrunde gelegt wird, ohne dass sich der Tatrichter von dessen Richtigkeit überzeugt (BVerfG, Urt. 2 BvR 2628/10 v. 19.03.2013, 2 BvR 2883/10 v. 21.06.2012 - jew. n. juris).


Einsender: RA T. Scheffler, Windesheim

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