Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 19.07.2023 - 1 Ws 225/23, 1 Ws 226/23, 1 Ws 227/23, 1 Ws 228/23, 1 Ws 229/23
Eigener Leitsatz:
Liegen zwischen Eröffnungsreife und Hauptverhandlung wegen der „Belastungssituation“ des Gerichts nicht (nur) drei Monate, wie dies üblicherweise der Fall sein soll, sondern rund sechs Monate, verzögert sich das Verfahren absehbar um mindestens drei Monate, weshalb schon nicht von einer nur vorübergehenden Überlastung auszugehen ist.
In pp.
Auf die Beschwerden der Staatsanwaltschaft gegen die Außervollzugsetzungsbeschlüsse des Landgerichts Frankfurt am Main - 24. große Strafkammer - vom 30. Juni 2023 werden die Haftbefehle des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 17. November 2022 und 15. Februar 2023 aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die den Angeschuldigten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
Die Angeschuldigten Vorname1 A, Vorname2 A, B und C befinden sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 17. November 2022 seit diesem Tag in Untersuchungshaft. Der Angeschuldigte D befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 15. Februar 2023 seit dem 19. Februar 2023 in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main hat unter dem 14. April 2023 Anklage zum Landgericht Frankfurt am Main - große Strafkammer - erhoben.
Mit Verfügung vom 20. April 2023 verfügte der Vorsitzende die Zustellung der Anklageschrift mit einer Äußerungsfrist von zwei Wochen. Die Zustellungen wurden bis zum 4. Mai 2023 bewirkt (ohne Übersetzung der Anklage). Die zweiwöchige Äußerungsfrist endete mithin am 19. Mai 2023. Erst am 8. Mai 2023 gingen weitere Nachgänge, darunter der Vermerk über die Sichtung sichergestellter Endgeräte des Mitangeschuldigten D vom 5. April 2023 und ein Ermittlungsbericht zu neuen Ermittlungsansätzen nach Vernehmung des Angeschuldigten C vom 2. Mai 2023 bei dem Landgericht ein. Unter dem 12. Mai 2023 verfügte der Vorsitzende ergänzende Akteneinsicht an alle Verteidiger und regte gegenüber der Staatsanwaltschaft die zeugenschaftliche Vernehmung des gesondert Verfolgten E an. Erst am 30. Mai 2023 ging die bereits bei Anklageerhebung beauftragte Übersetzung der Anklageschrift beim Landgericht ein, die der Vorsitzende am 31. Mai 2023 an die Angeschuldigten Vorname1 A, Vorname2 A und B verfügte. Die Zustellungen waren am 5. Juni 2023 bewirkt, so dass die Äußerungsfrist nicht vor dem 19. Juni 2023 abgelaufen war. Da auch der Kammer nach Ablauf der Äußerungsfrist regelmäßig ein Spielraum zur Prüfung und Beratung über die Eröffnung zusteht, ist Eröffnungsreife nicht vor Ende der ersten Juliwoche eingetreten. Unter dem 24. Mai 2023 zeigte der Vorsitzende Überlastung an und ersuchte das Präsidium des Landgerichts Frankfurt am Main, die Überlastung der 24. Strafkammer festzustellen und vorliegendes Verfahren auf eine andere Strafkammer zu übertragen. Zur Begründung verweist der Vorsitzende unter Vorlage des Verhandlungskalenders der Kammer bis Ende 2023 auf weitere bei der Kammer anhängige Verfahren. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Überlastungsanzeige vom 24. Mai 2023 verwiesen. In der Präsidiumssitzung vom 31. Mai 2023 wurde die vorgenannte Überlastungsanzeige erörtert. Eine Überlastung wurde mehrheitlich nicht festgestellt. Auf eine entsprechende Nachfrage des Senats im Haftprüfungsverfahren betreffend die Angeschuldigten Vorname1 A, Vorname2 A, B und C (…) teilte der Vorsitzende unter dem 27. Juni 2023 mit, dass aufgrund der Belastungssituation ein Beginn der Hauptverhandlung vor Ende Oktober nicht und die Fortsetzung in den Folgewochen allenfalls punktuell möglich sein wird.
Mit Beschlüssen vom 30. Juni 2023 setzte die Kammer die Haftbefehle des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 17. November 2022 und 15. Februar 2023 gegen Auflagen außer Vollzug.
Die Kammer begründet die Außervollzugsetzung im Wesentlichen damit, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Außervollzugsetzung gebieten würde. Bei Abwägung des Strafverfolgungsinteresses des Staates und des Freiheitsanspruchs der Angeschuldigten habe die Kammer im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit auch den Beschleunigungsgrundsatz, dem in Haftsachen besondere Bedeutung zukomme, zu berücksichtigen. Vorliegend käme aufgrund der Belastungssituation der Kammer - für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens - die Durchführung der Hauptverhandlung vor Januar 2024 nicht in Betracht.
Unter dem 30. Juni 2023 hat die Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen die Beschlüsse sämtliche Angeschuldigten betreffend eingelegt und die Anordnung der Aussetzung der Vollziehung gemäß § 307 Abs. 2 StPO beantragt. Zur Begründung führt die Staatsanwaltschaft an, dem sich angesichts der hohen Straferwartung ergebenden Fluchtanreiz könne durch die angeordneten Maßnahmen und Auflagen nicht in geeigneter Weise entgegengetreten werden. Die Kammer gehe außerdem von einem falschen Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen des § 116 StPO aus. Halte die Kammer den Vollzug der Haftbefehle für nicht mehr verhältnismäßig, hätte sie die Haftbefehle aufheben müssen. Schließlich könne im Falle einer Reduzierung der Sitzungstage im Verfahren … eine Terminierung in hiesiger, vorrangiger Sache bereits ab September 2023 erfolgen.
Die Kammer hat der Beschwerde mit Beschluss vom 3. Juli 2023 nicht abgeholfen und den Antrag auf Anordnung der Aussetzung der Vollziehung abgelehnt. Eine Reduzierung der Sitzungstage in dem Verfahren pp. sei nicht möglich, da auch gegen einen der dortigen Angeklagten seit geraumer Zeit ein Haftbefehl bestehe, der gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt sei, was jedoch nichts daran ändere, dass das Verfahren entsprechend zu fördern sei. Auch zeige der Sitzungskalender, dass eine parallele Verhandlung beider Verfahren nicht möglich sei. Schließlich sei auch die Historie des Verfahrens … in den Blick zu nehmen. Die Situation sei dem Präsidium bekannt gewesen, die Entscheidung des Präsidiums vom 31. Mai 2023, mit der eine Überlastung der Kammer nicht festgestellt worden sei, sei bestenfalls als nicht nachvollziehbar anzusehen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Nichtabhilfebeschluss der Kammer vom 3. Juli 2023 verwiesen.
Die Angeschuldigten sind zwischenzeitlich aus der Haft entlassen worden. Nachdem sich das beim Senat anhängige Haftprüfungsverfahren betreffend die Angeschuldigten Vorname1 A, Vorname2 A, B und C (…) damit erledigt hat, ist nunmehr auch insoweit über die Beschwerden zu entscheiden.
II.
Die Beschwerden sind zulässig, haben in der Sache jedoch keinen Erfolg; sie führen vielmehr zur Aufhebung der Haftbefehle.
Die Angeschuldigten sind der ihnen in den Haftbefehlen des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 17. November 2022 bzw. 15. Februar 2023 zur Last gelegten Taten nach Maßgabe der Anklageschrift vom 14. April 2023 dringend verdächtig. Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den in den Haftbefehlen und in der Anklageschrift angegebenen Beweismitteln und der im Rahmen des wesentlichen Ermittlungsergebnisses vorgenommenen Beweiswürdigung. Gegen die Angeschuldigten besteht auch der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, wovon sowohl die Strafkammer als auch die Staatsanwaltschaft grundsätzlich übereinstimmend ausgehen.
Soweit fraglich ist, ob vorliegend die Voraussetzungen gegeben waren, unter denen die Kammer trotz des laufenden besonderen Haftprüfungsverfahrens gemäß § 121 StPO den Haftbefehl vom 17. November 2023 gemäß § 116 StPO außer Vollzug setzten durfte, bedarf es keiner Entscheidung. Aus dem Umstand, dass der Haftbefehl, wenn sein Vollzug ausgesetzt wird, bestehen bleibt, folgt, dass die Aussetzung jedenfalls unzulässig ist, wenn der Haftbefehl aufzuheben ist (Löwe-Rosenberg/Hilger, StPO, § 116 Rn. 6, 26. Aufl.). So liegt der Fall hier.
Auf die Beschwerden der Staatsanwaltschaft, die gemäß § 301 StPO auch zugunsten der Angeschuldigten wirken, sind die Haftbefehle aufzuheben.
Die Aufrechterhaltung der Haftbefehle ist vorliegend nicht gerechtfertigt, weil das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1, 2. Halbsatz MRK folgende Beschleunigungsgebot verletzt ist. Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte von Anfang an alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (vgl. nur BVerfG, BeckRS 2007, 33088). Liegt ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor, kann die Untersuchungshaft zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung nicht mehr als notwendig anerkannt werden. Selbst wenn noch keine vermeidbare Verzögerung vorliegt, aber bereits hinreichend deutlich absehbar ist, dass das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung betrieben werden kann, ist von der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft abzusehen (BVerfG, BeckRS 2007, 33088; OLG Stuttgart, NStZ-RR 2012, 62). Eine erst bevorstehende, aber zum Entscheidungszeitpunkt schon deutlich absehbare Verfahrensverzögerung steht einer bereits eingetretenen Verfahrensverzögerung gleich (BVerfG, Beck RS 2021, 1240 Rn. 39).
So liegt der Fall hier. Die Strafkammer hat in den angefochtenen Entscheidungen festgehalten, dass angesichts der Belastungssituation der Kammer die Hauptverhandlung nicht vor Januar 2024 beginnen könne. Zwischen Eröffnungsreife und Hauptverhandlung lägen mithin nicht drei Monate, wie dies üblicherweise der Fall sein soll, sondern rund sechs Monate. Damit verzögert sich das Verfahren absehbar um mindestens drei Monate, weshalb schon nicht von einer nur vorübergehenden Überlastung auszugehen ist. Die Verzögerung ist schließlich auch der Justiz anzulasten, was die Aufhebung und nicht die Außervollzugsetzung der Haftbefehle gebietet. Soweit die Staatsanwaltschaft rügt, die Kammer wähne sich trotz der anderslautenden Entscheidung des Präsidiums und auch zu Unrecht überlastet und könne bei gebotener Reduzierung der Sitzungstage in dem Verfahren … eine Terminierung im September 2023 ermöglichen, bedarf es keiner Entscheidung des Senats. Der Senat hat keine Möglichkeit, auf die Terminierung der Kammer Einfluss zu nehmen, geschweige denn, eine bestimmte Terminierung zu erzwingen. Umgekehrt, soweit die Kammer der Auffassung ist, das Präsidium habe eine Überlastung zu Unrecht nicht festgestellt, vermag der Senat auch keinen Einfluss auf die Gerichtsorganisation des Landgerichts zu nehmen. Es verbleibt dabei, dass ein Beginn der Hauptverhandlung vor Januar 2024 mit dem Beschleunigungsgebot nicht in Einklang zu bringen ist. Justizinterne Unstimmigkeiten zwischen dem Präsidium des Gerichts und der Kammer bzgl. deren Belastungssituation dürfen nicht zu Lasten der Angeschuldigten gehen. Die Angeschuldigten haben die absehbare Verzögerung keinesfalls zu vertreten.
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