Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Hamm, Beschl. v. 20.06.2023 - 4 Ws 88/23
Eigener Leitsatz:
§ 112 Abs. 3 StPO findet auf die Norm des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. - analoge - Anwendung.
In pp.
Die Beschwerde wird als unbegründet verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die etwaigen notwendigen Auslagen des Angeschuldigten trägt die Landeskasse.
Gründe
I.
Die Staatsanwaltschaft Münster wirft dem Angeschuldigten mit Anklageschrift vom 23. März 2023 vor, seine am 00.00.0000 geborene Stieftochter S. G. in der Zeit von 2012 bis 2017 sexuell missbraucht zu haben. Im Einzelnen wirft sie ihm neun Fälle schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB a.F. sowie einen Fall des sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 3 StGB a.F. vor.
Die Staatsanwaltschaft Münster hat mit Verfügung vom 23. März 2023 den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeschuldigten unter Berufung auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO beantragt. Es seien sowohl Flucht- als auch Verdunkelungsgefahr nicht auszuschließen. Der Angeschuldigte habe mit einer mehrjährigen Haftstrafe zu rechnen. Mit der Zustellung der Anklageschrift werde ihm der volle Umfang der Tatvorwürfe bekannt werden, so dass nicht sicher sei, dass er sich dem weiteren Verfahren nicht durch Flucht entziehen werde. Zudem liege auch Verdunkelungsgefahr vor, da der Angeschuldigte bereits in der Vergangenheit äußerst manipulativ auf die Zeugin G. eingewirkt habe.
Mit Beschluss vom 4. Mai 2023 hat die Strafkammer des Landgerichts Münster bei dem Amtsgericht Bocholt den Antrag auf Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeschuldigten zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die in der Anklageschrift aufgeführten Straftatbestände seien in § 112 Abs. 3 StPO nicht ausdrücklich benannt, so dass diese Norm keine Anwendung finde. Im Übrigen lägen weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr vor. Wegen der Einzelheiten wird auf den angefochtenen Beschluss Bezug genommen.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Münster vom 11. Mai 2023. Sie ist der Auffassung, § 112 Abs. 3 StPO erfasse auch die Regelung des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F., da diese mit der Neuregelung in § 176c Abs. 1 Nr. 2 a StGB - die von § 112 Abs. 3 StPO ausdrücklich genannt werde - inhaltsgleich sei. Hinsichtlich der Haftgründe nimmt sie auf den Haftbefehlsantrag Bezug.
Die Anklageschrift ist dem Angeschuldigten am 4. Mai 2023 zugestellt worden.
II.
Die statthafte Beschwerde ist formgerecht eingelegt, sie hat in der Sache jedoch keinen Erfolg. Die Strafkammer hat im Ergebnis zu Recht den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeschuldigten abgelehnt.
Zutreffend hat das Landgericht einen dringenden Tatverdacht aufgrund der bisherigen Ermittlungsergebnisse gegen den Angeschuldigten bejaht.
Entgegen der Ansicht des Landgerichts findet § 112 Abs. 3 StPO auf die Norm des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. - analoge - Anwendung. Zutreffend ist zwar, dass § 112 Abs. 3 StPO grundsätzlich nur auf die Normen Anwendung findet, die enumerativ in § 112 Abs. 3 StPO aufgezählt werden (vgl. Böhm in MüKOStPO, 2. Aufl. 2023, StPO, § 112, Rn. 88; Graf in KK, StPO, 9. Aufl. 2023, § 112, Rn. 41), wozu § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. nicht zählt. Insoweit ist die Regelung des § 112 Abs. 3 StPO aber analog anzuwenden.
Die Gesetzesbegründung steht dem nicht entgegen. Ein Wille des Gesetzgebers, Straftaten, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder am 1. Juli 2021 begangen wurden, aus dem Anwendungsbereich auszuschließen, ist nicht ersichtlich.
Ausweislich des Gesetzesentwurfes der Bundesregierung vom 21. Oktober 2020 sollte in Fällen schwerer sexualisierter Gewalt gegen Kinder die Anordnung der Untersuchungshaft erleichtert werden (Seite 2 des Gesetzesentwurfes). Durch die Aufnahme des mit der Regelung des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. wortgleichen § 176c Abs. 1 Nr. 2a) StGB n.F. in den Katalog des Untersuchungshaftgrundes der Schwerkriminalität in § 112 Absatz 3 StPO soll die hohe Bedeutung des geschützten Rechtsgutes zum Ausdruck gebracht werde (Seite 54 des Gesetzesentwurfes). Dass der Gesetzgeber sog. Altfälle anders bewerten wollte, ist nicht ersichtlich und erscheint dem Senat abwegig. Es ist daher davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Aufnahme des dem § 176c Abs. 1 Nr. 2a) StGB n.F. entsprechenden § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. übersehen hat. Es liegt damit eine planwidrige Regelungslücke vor und eine Analogie ist aufgrund der Gleichheit des gesetzlich nicht geregelten Falls mit dem gesetzlich geregelten Fall geboten. Aufgrund des identischen Regelungsgehalts dieser beiden Normen kann der Bedeutung des geschützten Rechtsguts nur Rechnung getragen werden, wenn auch die Taten erfasst werden, die längere Zeit zurückliegen. Das Analogieverbot des § 103 Abs. 2 GG steht dem nicht entgegen, da dieses nicht auf das Strafverfahrensrecht Anwendung findet (vgl. BGH, Beschl. v . 25. November 2006 - 1 BGs 184/2006).
Die Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO sind vorliegend jedoch nicht erfüllt. Der Haftgrund der Schwerkriminalität ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass nach den Umständes des Falles die Flucht- oder Verdunkelungsgefahr nicht auszuschließen sein darf oder die ernstliche Befürchtung besteht, dass der Beschuldigte weitere Straftaten ähnlicher Art begehen werde (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15. Dezember 1965 - 1 BvR 513/65 in BVerfGE 19, 342 ff.). Es müssen auch hier stets Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnten. Der zwar nicht mit "bestimmten Tatsachen” belegbare, aber nach den Umständen des Falles doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsverdacht kann u.U. bereits ausreichen. (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15. Dezember 1965 - 1 BvR 513/65 in BVerfGE 19, 342 ff.).
Zutreffend hat das Landgericht einen solchen Verdacht vorliegend verneint. Zwar hat der Angeschuldigte mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Allerdings hat der Angeschuldigte - wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat - bisher keinerlei Fluchttendenzen gezeigt. Unter dem 4. Mai 2023 ist dem Angeschuldigten die Anklageschrift zugestellt worden; dennoch ist nicht bekannt, dass er nunmehr Tendenzen in diese Richtung gezeigt hätte. Dies trotz des Umstandes, dass er, wie sich aus dem durch die Polizei ausgewerteten Chat zwischen ihm und seiner Ehefrau ergibt, eine realistische Straferwartung hat. In diesem Chat hat der Angeschuldigte geäußert, er werde "bestimmt 5-10 Jahre eingesperrt" werden.
Auch ist vorliegend ein Verdunkelungsverdacht nicht gegeben. Zwar soll der Angeschuldigte nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen auf die Zeugin G. in der Vergangenheit manipulativ eingewirkt haben. Die Zeugin G. hat sich - wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat - zwischenzeitlich jedoch vollständig dem Einflussbereich des Angeschuldigten entzogen und eine eigene Wohnung mit ihrem Lebensgefährten bezogen. Dass der Angeschuldigte im Zuge des Ermittlungsverfahrens in irgendeiner Form zu dieser auch nur Kontakt aufgenommen hätte, ist nicht ersichtlich.
Anhaltspunkte dafür, dass der bislang nicht vorbestrafte Angeschuldigte Straftaten ähnlicher Art begehen wird, sind ebenfalls nicht gegeben.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs.1 Satz 1, Abs. 2 StPO.
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