Gericht / Entscheidungsdatum: LG Berlin, Beschl. v. 20.06.2023 - 534 Qs 97/23
Eigener Leitsatz:
Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist nicht zulässig.
Landgericht Berlin
Beschluss
534 Qs 97/23
In der Strafsache
gegen pp.
Beschwerdeführer und ehemaliger Beschuldigter,
Verteidiger:
Rechtsanwalt
wegen Betruges
hat die 34. allgemeine große Strafkammer des Landgerichts Berlin am 20. Juni 2023 beschlossen:
Die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 24. April 2023 wird aus den weiterhin zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräftet werden, auf seine Kosten (§ 473 Abs. 1 Satz 1 StPO) als unbegründet verworfen.
Die vorliegend beantragte nachträgliche, rückwirkende Bestellung des Wahlverteidigers, . Rechtsanwalt pp., zum Pflichtverteidiger wäre rechtswidrig.
Eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung für das im Rechtszug abgeschlossene Verfahren wird in der Rechtsprechung überwiegend und mit überzeugender Argumentation als rechtswidrig angesehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. April 1989 -1 StR 627/88 in StV 1989, 378 und vom 19. Dezember 1996 - 1 StR 76/96 in NStZ 1997, 299 f; Kammergericht, Beschlüsse vom 9. März 2006 —1 AR 1407/05 - 5 Ws 563/05 - in StraFo 2006, 200 ff und vom 31. März 2014 - 4 Ws 27/14 - in NStZ-RR 2014, 279; OLG Köln, Beschluss vom 28. Januar 2011 - III 2 Ws 74/11 - in NStZ-RR 2011, 325; OLG Bamberg, Beschluss vom 15. Oktober 2007 -1 Ws 675/07 - in NJW 2007, 3796 f; OLG Hamm, Beschluss vom 28. Juni 2007 - 2 Ws 174/07 — in Juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11. Dezember 2002 - 2 Ws 307/02 in StraFo 2003, 94; zustimmend Willnow in Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl., 2023, § 141 Rn. 4). Von maßgeblicher Bedeutung ist dabei, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht im Kosteninteresse des Beschuldigten oder seines Verteidigers erfolgt, sondern einzig dem Zweck dient, im öffentlichen Interesse in schwerwiegenden Fällen eine ordnungsgemäße Verteidigung des Beschuldigten in einem noch ausstehenden oder noch anhängigen Verfahren durch einen rechtskundigen Beistand sicherzustellen sowie einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten (vgl. Kammergericht, Beschluss vom 9. März 2006, a.a.O., unter Hinweis auf BVerfGE 39, 238, 242; OLG Bamberg, a.a.O.; OLG Düsseldorf a.a.O.). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Wahlverteidiger seine Verteidigungsleistung aufgrund des Mandatsverhältnisses bei einem endgültig abgeschlossenen Verfahren bereits abschließend erbracht hat, sodass er die mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger einsetzende öffentlich-rechtliche Pflicht zum Tätigwerden nicht mehr erfüllen kann. Die Pflichtverteidigerbestellung für ein zurzeit der Bestellung bereits abgeschlossenes Verfahren wäre damit auf eine unmögliche Leistung gerichtet und würde nicht der Gewährleistung einer noch notwendigen ordnungsgemäßen Verteidigung des Beschuldigten, sondern ausschließlich dem verfahrensfremden Zweck dienen, dem Verteidiger für ein bereits abgeschlossenes Verfahren einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 20. Juli 2000 - 1 Ws 206/00 - in juris).
Zwar wird teilweise in der Rechtsprechung und Literatur eine rückwirkende Bestellung dann für zulässig und geboten angesehen, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt sowie vom Gericht nicht, nicht rechtzeitig, ohne Gründe oder fehlerhaft beschieden wurde (vgl. LG Potsdam, Beschluss vom 25. August 2004 - 24 Qs 90/03 - in StraFo 2004, 381; LG Braunschweig, Beschluss vom 28. Dezember 2000 - 43 Qs 52/00 - in StV 2001, 447; LG Saarbrücken, Beschluss vom 26. Februar 2004 - 4 Qs 10/04 - in StV 2005, 82; Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, 4. Aufl., 2020, § 141 Rn. 39; Meyer—Goßner/Schmitt, a.a.O., § 142 Rn. 20). Diese Ansicht überzeugt jedoch nicht, weil sie statt Sinn und Zweck der Vorschriften zur Pflichtverteidigerbestellung die wirtschaftlichen Interessen des Betroffenen in den Vordergrund stellt (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 20. Juli 2000, a.a.O.). Zu einer anderen Beurteilung von Sinn und Zweck der §§ 140 ff StPO gibt auch nicht die durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Oktober 2019 umgesetzte Richtlinie EU 2016/1919 des europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 - PKH-Richtlinie - Anlass. Zwar wird die Ansicht vertreten, die Intention des Gesetzgebers und der PKH-Richtlinie sei es, nicht nur eine ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten, sondern gleichermaßen den mittellosen Beschuldigten von den Kosten seiner Verteidigung freizustellen. Dieses Gesetzesziel spreche dafür, eine rückwirkende Bestellung dann als zulässig zu bewerten, wenn trotz des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140 f StPO über den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung nicht entschieden oder wenn der Antrag ohne Begründung abgelehnt wurde (vgl. Meyer—Goßner/Schmitt, a.a.O.). Diese Ansicht überzeugt jedoch nicht. Dem Gesetzgeber war die vorherrschende Meinung zur Rechtswidrigkeit der nachträglichen, rückwirkenden Verteidigerbestellung bekannt. Wenn er durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Oktober 2019 diese Auslegung der Vorschriften hätte ändern wollen, so hätte er dies durch eine entsprechende eindeutige Vorschrift oder zumindest im Rahmen der Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebracht. Dies hat er jedoch nicht getan. Nach alledem erachtet die Kammer die Mindermeinung für nicht vereinbar mit dem Sinn und Zweck der Regelung zur Pflichtverteidigerbestellung und hält an der gegenteiligen sowie weiterhin zu der neuen Rechtslage überwiegend vertretenen Ansicht (vgl. KG, Beschluss vom 9. April 2020 - 2 Ws 30 - 31/20 - in StraFo 2020, 326; OLG Hamburg StraFo 2021, 486; OLG Bremen NStZ 2021, 253) fest, dass eine nachträgliche rückwirkende Beiordnung rechtswidrig ist.
Vorliegend ist durch die am 24. Januar 2023 erfolgte Einstellung des Verfahrens nach § 154 Abs. 2 StPO das Verfahren gegen den Beschwerdeführer endgültig beendet worden. Entgegen den Formulierungen des Gesetzes in § 154 Abs. 2 StPO „vorläufig einstellen" und in § 154 Abs. 4 sowie 5 StPO „vorläufig eingestellt" beendet die Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO das Verfahren endgültig (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 154 Rn. 16a, 17, 18; Teßmer in Münchener Kommentar, StPO, 2. Aufl. 2023, § 154 Rn. 65 jeweils m. w. N.). Es beendet die gerichtliche Anhängigkeit und schafft ein Verfahrenshindernis zu dessen Beseitigung es eines Wiederaufnahmebeschlusses nach § 154 Abs. 5 StPO bedarf (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 154 Rn. 17, 22). Für die Frage der Beendigung des Verfahrens durch die Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO ist es nicht bedeutsam, ob das Bezugsverfahren rechtskräftig abgeschlossen worden ist oder — wie hier - nicht. Sollte das vorliegende Verfahren gegen den Beschwerdeführer gemäß § 154 Abs. 5 StPO wieder aufgenommen werden, bleibt es dem Beschwerdeführer unbenommen, erneut einen Antrag auf Beiordnung seines Wahlverteidigers zu stellen.
Einsender: RA T. Kujus, Leipzig,
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