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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Bestellung, Schwerbehinderung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Nürnberg Fürth, Beschl. v. 18.07.2023 - 1 Qs 48/23

Eigener Leitsatz:

Die Verteidigung ist notwendig, wenn zu bezweifeln ist, dass der Beschuldigte seine Interessen selbst wahren und inner- und außerhalb der Hauptverhandlung alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vornehmen kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn auf der Grundlage ärztlicher Unterlagen beim Angeschuldigten eine Schwerbehinderteneigenschaft mit einem Grad der Behinderung von 50 festgestellt und diese mit der Gesundheitsstörung „Verhaltensstörungen und Lernbehinderung" begründet wird.


In pp.

wegen Vergehens nach § 29 BtMG

erlässt das LG Nürnberg-Fürth – 1. Strafkammer - durch die unterzeichnenden Richter am 18. Juli 2023 folgenden

Beschluss

Auf die sofortige Beschwerde des Angeschuldigten pp. gegen den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 26.06.2023 wird dieser aufgehoben.
Dem Angeschuldigten wird Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bestellt.
Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeschuldigten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe:

Mit Verfügung vom 30.05.2023 erhob die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth gegen den Angeschuldigten Anklage wegen vorsätzlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln gern. § 1 Abs. 1 BtMG iVm Anlagen I und III zum BtMG, §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Nr. 3 BtMG. Mit Schriftsatz vom 16.06.2023 beantragte der Wahlverteidiger RA pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Er begründete dies mit Verweis auf den vorgelegten Bescheid des Zentrums Bayern Familie und. Soziales vom 08.05.2018, aus dessen Feststellungen sich ergebe, dass der Angeschuldigte nicht in der Lage sei, sich selbst zu verteidigen. Mit Beschluss vom 26.06.2023, dem Verteidiger des Angeschuldigten zugestellt am 29,06.2023, hat das Amtsgericht Nürnberg eine Beiordnung abgelehnt. Es begründete seine Entscheidung damit, dass sich dem Bescheid nicht die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO entnehmen ließen. So werde dem Angeschuldigten zum einen ein Handel mit Amphetamin und Ecstasy vorgeworfen, was ein gewisses strukturiertes Vorgehen voraussetze. Zum anderen sei der Bescheid mehr als fünf Jahre alt und enthalte deswegen keine aktuellen Feststellungen.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Angeschuldigte und legte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 05.07.2023, eingegangen beim Amtsgericht am 05.07.2023, sofortige Beschwerde ein. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth legte mit Verfügung vom 10.07.2023 die sofortige Beschwerde vor und beantragte diese als unbegründet zu verwerfen.

Die gem. §§ 142 Abs. 7 Satz 1, 311 StPO zulässige Beschwerde ist begründet. Dem Angeschuldigten war ein Pflichtverteidiger zu bestellen, da ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vorliegt.

1. Die Mitwirkung eines Verteidigers ist immer dann erforderlich, wenn Anhaltspunkte dafür be-stehen, dass der Beschuldigte aus in seiner Person liegenden Gründen (geistige Fähigkeiten, Gesundheitszustand, sonstige Umstände) nicht in der Lage sein wird, alle Möglichkeiten einer sach-gemäßen Verteidigung zu nutzen Die Verteidigungsfähigkeit setzt mehr voraus als die bloße Verhandlungsfähigkeit (BeckOK StPO/Krawczyk, 47. Ed. 1.4.2023, StPO § 140 Rn. 39 m.w.N.). Die Verteidigung ist notwendig, wenn zu bezweifeln ist, dass der Beschuldigte seine Interessen selbst wahren und inner- und außerhalb der Hauptverhandlung alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vornehmen kann. Zweifel können aufgrund seiner individuellen Fähigkeiten, Einschränkungen aufgrund seiner speziellen Situation bestehen. Die Möglichkeit, der Verhandlung zu folgen und sich sachgemäß zu äußern, schließt die Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit nicht aus, da Verteidigung mehr beinhaltet. Eine gänzliche Verteidigungsunfähigkeit muss für ein Erfülltsein der Bestellungsvoraussetzungen nicht vorliegen (MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 140 Rn. 47). § 140 Abs. 2 StPO ist bereits dann anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen (Mey-er-Goßner/Schmitt/Schmitt, 66. Auflage 2023, § 140 StPO, Rn. 30a).

Abzustellen ist nach diesem Maßstab daher nicht, wie vom Amtsgericht angenommen, auf das dem Angeschuldigten vorgeworfene - und diesem im Übrigen erst noch nachzuweisende - strukturierte Vorgehen bei Begehung der zur Last gelegten Tat, weil vom Tatvorwurf keine Rückschlüsse auf die Fähigkeit, sich adäquat verteidigen zu können, gezogen werden können.

2. Aufgrund der vom Verteidiger vorgebrachten geistigen Einschränkungen des Angeschuldigten bestehen erhebliche Zweifel, dass dieser in der Läge ist, seine Interessen selbst zu wahren und alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vorzunehmen.

Diese Zweifel ergeben sich aus dem vorgelegten Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 08.05.2018. So wurde darin auf der Grundlage ärztlicher Unterlagen beim Angeschuldigten eine Schwerbehinderteneigenschaft mit einem Grad der Behinderung von 50 festgestellt und mit der Gesundheitsstörung „Verhaltensstörungen und Lernbehinderung" begründet. Bei Verhaltensstörungen richte sich der GdB nach dem Ausmaß der Einordnungsschwierigkeiten, bei der Beurteilung der Lernbehinderung sei nicht allein das Ausmaß der Intelligenzminderung des Angeschuldigten maßgebend, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung auf 'effektivem und emotionalem Gebiet, der Antrieb und die Prägung durch die Umwelt zu berücksichtigen.

Lernschwierigkeiten und andere kognitive Einschränkungen legen die Annahme des § 140 Abs. 2 StPO nahe (vgl. MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 140 Rn. 49). Erhebliche Zweifel an der Fähigkeit des Angeschuldigten sich zu verteidigen sind auf der Grundlage der Feststellungen im Bescheid auch im vorliegenden Fäll angezeigt. Es kann nicht unterstellt werden, dass der Angeschuldigte bei Störungen seiner geistigen Fähigkeiten, die für sich alleine immerhin zu einem GdB von 50 und damit zu einer Schwerbehinderung geführt haben, in der Lage ist, den gesamten Akteninhalt, der u.a. ein chemisch-toxikologisches Sachverständigengutachten beinhaltet, vollständig und zutreffend zu erfassen. Infolge einer unzureichenden Erfassung des Akteninhaltes kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Angeschuldigte in der Hauptverhandlung alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen alleine vornehmen kann.

Die Zweifel an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung werden auch nicht dadurch entkräftet, dass der Bescheid bereits vor fünf Jahren ergangen ist, weil die Schwerbehinderteneigenschaft ausdrücklich unbefristet festgestellt worden ist. Greifbare Anhaltspunkte dafür, dass sich die Gesundheitsstörung des Angeschuldigten zwischenzeitlich gebessert haben könnte, bestehen nicht.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 StPO analog.


Einsender: RA R. E. Peisl, Nürnberg

Anmerkung:


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