Gericht / Entscheidungsdatum: LG Chemnitz, Beschl. v. 10.07.2023 - 4 Qs 232/23
Eigener Leitsatz:
Eine Pflichtverteidigerbestellung kommt in Betracht, wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht. § 140 Abs. 2 ist dabei schon anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur eigenen Verteidigung erhebliche Zweifel bestehen. Das kann der Fall sein, wenn der Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden" bestellt ist.
4 Qs 232/23
Beschluss
In dem Strafverfahren
gegen pp.
Verteidiger
Rechtsanwalt
Betreuerin:
wegen Unterschlagung
ergeht am 10.07.2023
durch das Landgericht Chemnitz - 4. Strafkammer als Beschwerdekammer - nachfolgende Entscheidung:
1. Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Chemnitz vom 13.06.2023 aufgehoben.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten hat die Staatskasse zu tragen.
Gründe:
Gegen den Angeklagten wurde unter dem 04.082021 Anklage wegen des Vorwurfes der Unterschlagung nach § 246 Abs. 1 und Abs. 2 StGB erhoben. Mit Beschluss des Amtsgerichts Chemnitz vom 12.01.2022 wurde dem Angeklagten Rechtsanwalt Jan-Robert Funck aus Braunschweig gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO bestellt. Der Angeklagte befand sich seit dem 19.09.2021 in anderer Sache in Strafhaft.
Am 15.07.2022 wurde der Angeklagte aus der Strafhaft entlassen. Das Amtsgericht Chemnitz hob daher mit der angefochtenen Entscheidung die Beiordnung von Rechtsanwalt pp. auf und stellte diesem die Entscheidung am 19.06.2023 zu.
Mit Schreiben seines Verteidigers vom 21.06.2023, eingegangen beim Amtsgericht Chemnitz am selben Tag, legte der Angeklagte sofortige Beschwerde ein, in der er zunächst mangelnde Ermessensausübung rügt. Darüber hinaus trägt er vor, dass er, der Angeklagte, unter amtlicher Betreuung stehe und schon deshalb ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliege. Bei Aktenvorlage hat die Staatsanwaltschaft Chemnitz beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
Auf Aufforderung der Kammer hat der Verteidiger einen Betreuerausweis vorgelegt, aus dem sich ergibt, dass Frau pp. durch das Amtsgericht Haldensleben, Betreuungsgericht, seit dem 22.12.2022 als Berufsbetreuerin des Angeklagten unter anderem mit dem Auf-gabenkreis „Vertretung vor Ämtern, Behörden und Versicherungen" bestellt ist. Eine Rückfrage beim Amtsgericht Haldensleben hat ergeben, dass das Betreuungsverfahren nach wie vor anhängig ist und der Angeklagte derzeit bis 2029 unter Betreuung gestellt ist.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere ist sie fristgerecht erhoben worden. Aber auch in der Sache erweist sie sich als erfolgreich und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
1. Zwar sind die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO nach der Haftentlassung des Angeklagten nicht mehr gegeben, was auch die Beschwerde nicht in Abrede stellt.
2. Es liegt aber ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO liegt vor. Danach hat eine Pflichtverteidigerbestellung auch dann nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst hinreichend verteidigen kann.
Zwar gebietet die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage vorliegend keine Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO. Es steht jedoch zu befürchten, dass sich der Angeklagte - auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes des fairen Verfahrens - nach Aktenlage jedenfalls nicht selbst hinreichend wird verteidigen können.
Zwar genügt die bloße Betreuerbestellung nicht, um allein deswegen eine Verteidigerbestellung auszusprechen. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt aber dann ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn der Angeklagte aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten oder seines Gesundheitszustands in seiner Verteidigungsfähigkeit eingeschränkt ist. Diese Voraussetzungen liegen vor. Eine Pflichtverteidigerbestellung kommt in Betracht, wenn der Angeklagte unter Betreuung steht (OLG Naumburg FamRZ 2017, 757 f.; OLG Hamm NJW 2003, 3286). § 140 Abs. 2 ist dabei schon anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur eigenen Verteidigung erhebliche Zweifel bestehen (vgl. Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2019, § 140 Rn. 30 m. w. N.).
Ausweislich des vom Verteidiger vorgelegten Betreuerausweises ist die Berufsbetreuerin pp. im Betreuungsverfahren 4 XVII 471/22 (Amtsgericht Haldensleben) unter anderem mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden" bestellt. Im Rahmen des Aufgabenkreises vertritt sie ihn gerichtlich und außergerichtlich. Der Begriff der Vertretung vor Behörden umfasst dabei auch die Vertretung vor einem Gericht; es bedarf insoweit keiner ausdrücklichen Nennung der Vertretung in Gerichtsangelegenheiten. Auch das durch diese Be-stellung anerkannte Defizit des Angeklagten, seine Rechte selbst vor einem Gericht vertreten zu können, legt bereits die Unfähigkeit des Angeklagten zur Verteidigung nahe (vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, a.a.O.; LG Berlin StV-2016, 487 f.).
Unter diesen Umständen erscheint es nach Ansicht der Kammer dem Angeklagten hier nicht zumutbar, sich adäquat selbst zu verteidigen, zumal in der zu erwartenden Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung die Frage, ob der Angeklagte sich bezüglich des verfahrensgegenständlichen Mobiltelefons sich bereits durch das Unterlassen der Herausgabe als Eigentümer gerierte, eine entscheidende Rolle spielen dürfte.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens waren der Staatskasse aufzuerlegen, da sie diese bei erfolgreicher Beschwerde mangels eines anderen Kostenschuldners trägt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 473, Rnr. 2). Gleiches gilt für die notwendigen Auslagen des An-geklagten im Beschwerdeverfahren (Meyer-Goßner/Schmidt, a.a.O., § 464, Rnr. 11, 11a).
Einsender: RA J.-R. J. Funck, Braunschweig
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