Gericht / Entscheidungsdatum: LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 12.06.2023 – 5/27 Qs 22/23
Eigener Leitsatz:
Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist nicht zulässig.
Beschluss
In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
wegen Verdachts einer Straftat nach §§ 177, 22, 23 StGB
hat das Landgericht Frankfurt am Main - 27. große Strafkammer - durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, die Richterin am Landgericht und den Richter auf die sofortige Beschwerde des Beschuldigten am 12.06.2023 beschlossen:
Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 27.04.2023 (Geschäftsnummer: 4871 Js 216187/22 - 931 Gs) wird als unzulässig verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Gründe:
Die sofortige Beschwerde ist gemäß gern. § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthaft und wurde fristgerecht eingelegt (§ 311 Abs. 2 StPO). Die sofortige Beschwerde ist mangels Beschwer jedoch unzulässig und hat daher keinen Erfolg.
I.
Gegenstand des Ermittlungsverfahrens gegen den Beschuldigten war der Verdacht einer Straftat gemäß §§ 177, 22, 23 StGB.
Mit Schreiben vom 31.03.2022 meldete sich Herr Rechtsanwalt pp. als Verteidiger des Beschwerdeführers zum maßgeblichen Vorgang und beantragte die Gewährung von Akteneinsicht sowie die Beiordnung als notwendiger Verteidiger des Beschuldigten.
Mit Verfügung vom 20.06.2022 wurde das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Zugleich wurde der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 20.06.2022 von der Einstellung unterrichtet.
Mit Beschluss vom 27.04.2023 hat das Amtsgericht Frankfurt am Main (Geschäftsnummer: 4871 Js 216187/22 - 931 Gs) den Antrag auf Beiordnung zurückgewiesen. Zur Begründung verwies das Amtsgericht darauf, dass eine rückwirkende Beiordnung des antragstellenden Verteidigers grundsätzlich nicht in Betracht komme. Gegen diesen Beschluss richtet sich die sofortige Beschwerde vom 15.05.2023
Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthaft, aber unzulässig, weil die Beschwer auf Grund prozessualer Überholung entfallen ist (vgl. OLG Köln, Beschluss vorn 28.01.2011 - 2 Ws 74/11; KG, Beschluss vom 09.03.2006 ¬5 Ws 563/05; OLG Bamberg, Beschluss vom 15.10. 2007 - 1 Ws 675/07).
1. Das Ermittlungsverfahren wurde mit Verfügung vorn 20.06.2022 eingestellt. Die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO erfolgte durch eine entsprechende Verfügung (BI. 152 d.A.) und beendete das Verfahren (vgl. MüKoStPO/Kölbel StPO § 170 Rn. 19-20).
Die Beschuldigteneigenschaft des Beschwerdeführers endete mit dieser Einstellung. Für eine anwaltliche Verteidigung im Verfahren bestand ab diesem Zeitpunkt kein Bedürfnis mehr. Denn die Bestellung eines Pflichtverteidigers dient nicht dem Kosteninteresse des Verurteilten oder seines Verteidigers, sondern allein dem Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Betroffener in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird (BGH, Verfügung des Vorsitzenden vom 19.12.1996 - 1 StR 76/96). Dieser Zweck kann nach Rechtskraft der Entscheidung nicht mehr erreicht werden; die nachträgliche Bestellung wäre auf eine unmögliche Leistung gerichtet, da der Verteidiger seine Leistung bereits als Wahlverteidiger auf Grund eines Mandatsverhältnisses abschließend erbracht hat. Eine nachträgliche Bestellung würde daher ausschließlich dem verfahrensfremden Zweck dienen, dem Verteidiger für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, nicht jedoch eine notwendige ordnungsgemäße Verteidigung des Betroffenen zu gewährleisten (OLG Hamm, Beschluss vom 10. 07. 2008 - 4 Ws 181/08). Nur in dem Fall, dass das Verfahren, für das der Rechtsanwalt beigeordnet werden will, noch nicht beendet ist, ist noch eine für den Betroffenen rückwirkende Tätigkeit seines Verteidigers denkbar. Sobald das Verfahren abgeschlossen ist, scheidet eine den Zweck der Pflichtverteidigung entsprechende Tätigkeit aus (OLG Hamm, Beschluss vom 10. 07. 2008 - 4 Ws 181/08). Daher ist eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung für das abgeschlossene Verfahren unzulässig und zwar auch dann, wenn der Antrag — so wie hier — rechtzeitig und auch begründet gestellt wurde (OLG Köln, Beschluss vom 28. 01. 2011 - 2 Ws 74/11; KG, Beschluss vom 27.02.2006 - 3 Ws 624/05; LG Zweibrücken, Beschluss vom 20.05.2010 - Qs 32/10).
2. Die Kammer verkennt nicht, dass die Rechtsfrage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung nach der Neuregelung der Vorschriften über die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gern. §§ 140 ff StPO zum 10.12.2019 (BGBl. I, S. 2128 ff.) umstritten ist. Während die obergerichtliche Rechtsprechung weit überwiegend an der bisherigen Auffassung festhält, wendet sich hiergegen die überwiegende Rechtsprechung der Landgerichte, nach der eine rückwirkende Bestellung nach Verfahrensabschluss möglich sein soll, wenn trotz rechtzeitigen Antrags über die Bestellung nicht vor Verfahrensabschluss entschieden wurde (LG Bonn, Beschluss vom 18.05.2021 — 920 Js 214/21; LG Aurich, Beschluss vom 05.05.2020 — 12 Qs 78/20; LG Mannheim, Beschluss vom 26.03.2020 - 7 Qs 11/20; LG Magdeburg, Beschluss vom 20.02.2020 —Az. 29 Qs 2/20; Thomas/Kämpfer in: Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl. 2014, § 141 Rn. 9; jeweils m.w.N.). Die Vertreter dieser Ansicht sehen in Art. 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie eine Erweiterung von Ziel und Zweck der Verteidigerbestellung auf eine finanzielle Unterstützung einer beschuldigten Person. Gestützt werde dies durch die Neufassung der §§ 141 Abs. 1 S. 1, 142 Abs. 7 StPO, aus dem sich eine besondere Beschleunigung der Bestellung ergebe.
Soweit nach dieser Ansicht also eine rückwirkende Bestellung mit Blick auf den mit dem Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 verfolgten Zweck möglich sein soll, um einen mittellosen Beschuldigten von den Kosten der Verteidigung freizustellen, verkennt dies jedoch, dass nach Art. 4 der PKH-Richtlinie EU 2016/1919 vom 26.10.2016 der „Anspruch auf Prozesskostenhilfe" nur dann besteht, „wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist", mithin für das weitere Verfahren von Bedeutung ist. Keineswegs sieht die Richtlinie vor, den Beschuldigten nachträglich in jedweder Phase des Verfahrens von den Kosten der Verteidigung frei zu halten, gar nach rechtskräftig erfolgter kostenpflichtiger Verurteilung noch eine Beiordnung eines Verteidigers vorzunehmen (OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 — 2 Ws 112/20).
Ferner beabsichtigte der Gesetzgeber in Umsetzung der Richtlinie gerade keinen Systemwechsel in der Frage der Pflichtverteidigerbestellung im Sinne einer Anknüpfung an eine Bedürftigkeitsprüfung statt wie bisher allein an das Vorliegen eines Rechtspflegeinteresses (BT-Drucksache 19/13829 S. 22). Zu Recht ging der Gesetzgeber dabei davon aus, dass die PKH-Richtlinie der Beibehaltung des deutschen Systems der notwendigen Verteidigung nicht entgegensteht (BT-Drucksache, a.a.O.). Nach Art. 4 Abs. 2 der PKH-Richtlinie steht es den Mitgliedstaaten nämlich frei, ob sie eine Bedürftigkeitsprüfung, eine Prüfung der materiellen Kriterien (vor allem Schwere der Straftat, Schwierigkeit der Rechtslage, Straferwartung, vgl. Art. 4 Abs. 4 PKH-Richtlinie) oder beides vornehmen (OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 — 2 Ws 112/20). Nach Art. 4 Abs. 1 der PKH Richtlinie haben die Mitgliedstaaten zwar sicherzustellen, dass die von der Richtlinie erfassten Personen über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen. Die Beiordnung bezweckt jedoch den „Zugang zu einem Rechtsanwalt" (Art. 3 der PKH Richtlinie) und setzt deshalb gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie voraus, dass die Bereitstellung finanzieller Mittel „im Interesse der Rechtspflege erforderlich" ist. Ein solches Erfordernis besteht dann nicht mehr, wenn das maßgebliche Verfahren bereits abgeschlossen ist OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2021 — 1 Ws 12/21).
Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung bleibt demnach auch unter Berücksichtigung der geänderten Rechtslage unzulässig und unwirksam (OLG Braunschweig Beschl. v. 2.3.2021 — 1 Ws 12/21; OLG Bremen, Beschluss vom 23.09.2020 - 1 Ws 120/20; OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 — 2 Ws 112/20; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 09.03.2020 - 1 Ws 19/20 & 1 Ws 20/20; KG, Beschluss vom 04.09.2020 - Ws 217/19; LG Frankfurt, Beschluss vom 25.08.2021 - 5/17 Os 26/21).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
Gegen diese Entscheidung ist eine weitere Beschwerde nicht statthaft (§ 310 Abs. 2 StPO).
Einsender: RA T. Hein, Bad Vilbel
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