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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Gießen, Beschl. v. 26.06.2023 - 1 Qs 12/23

Eigener Leitsatz:

Es ist ausnahmsweise möglich und geboten ist, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vorliegen, der Beiordnungsantrag noch vor (rechtskräftigem) Abschluss des Verfahrens gestellt wurde und der Antrag vor Verfahrensabschluss aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde.


1 Qs 12/23

LG Gießen
Beschluss

In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.

- Verteidiger:

wegen: des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung u.a.

hat die 1. große Strafkammer — Jugendkammer — des Landgerichts Gießen auf die sofortige Beschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Gießen vom 06.03.2023 am 26.06.2023 beschlossen:

Unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses wird dem Beschwerdeführer Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger rückwirkend ab dem 21.06.2022 beigeordnet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschwerdeführer insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

Der Beschwerdeführer war verdächtig, am 15.05.2022 in einer Notunterkunft in an einem Vorfall beteiligt gewesen zu sein, bei dem es zwischen mehreren Beteiligten zu Faustschlägen, Steinewerfen, Beleidigungen und Bedrohungen gekommen sein soll.

Unter dem 21.06.2022 zeigte Rechtsanwalt pp. in dem u.a. wegen (versuchter) gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung, Bedrohung und exhibitionistischen Handlungen gegen mehrere Personen geführten Verfahren die Verteidigung des Beschwerdeführers an, teilte mit, dieser werde keine Einlassung zur Sache abgeben und beantragte seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Zur Begründung führte er aus, der Beschwerdeführer stehe unter laufender Bewährung (Urteil des Landgerichts Gießen vom 06.07.2021: Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren wegen schwerer räuberischer Erpressung, besonders schwerer räuberischer Erpressung, versuchten schweren Raubes und versuchten besonders schweren Raubes; Bewährungszeit 3 Jahre), so dass wegen des vorliegenden Tatvorwurfs der Bewährungswiderruf drohe.

Nach Vernehmung aller denkbaren Beweispersonen — auch die Geschädigten wollten keine Angaben machen — konnte der Tathergang, wie sich aus einem Schlussvermerk vom 17.08.2022 ergibt, nicht aufgeklärt werden, weshalb das Verfahren durch die Staatsanwaltschaft schließlich am 13.12.2022 gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde.

Hiernach erinnerte der Verteidiger des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 17.02.2023 an seinen Beiordnungsantrag, den er ausdrücklich auch nach Einstellung des Verfahrens aufrecht erhielt.

Daraufhin übersandte die Staatsanwaltschaft die Akte mit dem Antrag, den Verteidiger als Pflichtverteidiger beizuordnen, dem Amtsgericht. Dieses lehnte den Antrag auf Beiordnung mit Beschluss vom 06.03.2022 ab und begründete die Entscheidung damit, eine rückwirkende Beiordnung scheide aus, da die Beiordnung des Verteidigers ausschließlich dem Zweck diene, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass der Betroffene in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhalte; dieser Zweck könne nach der Einstellung des Verfahrens nicht mehr erreicht werden. Vielmehr diene die (nachträgliche) Beiordnung ausschließlich der Befriedigung des Kosteninteresses des Verteidigers/ des Beschuldigten.

Gegen diesen — dem Verteidiger ausweislich des zur Akte gelangten Empfangsbekenntnisses am 09.05.2023 zugegangenen — Beschluss richtete sich die am 09.05.2023 beim Amtsgericht eingegangene sofortige Beschwerde.

Die zulässige, insbesondere statthafte (§ 142 Abs. 7 StPO), sofortige Beschwerde ist begründet.

Zum Zeitpunkt der Entscheidung über die sofortige Beschwerde lag zwar kein Fall der notwendigen Verteidigung (§ 68 JGG i.V.m. § 140 StPO) mehr vor, weil das Verfahren gegen den Beschuldigten zwischenzeitlich gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde. Über einen Antrag auf Beiordnung ist jedoch gemäß § 141 Abs. 1 StPO (i.V.m. § 2 Abs. 2 JGG) unverzüglich, d.h. so bald wie möglich ohne schuldhaftes Zögern, also ohne sachlich nicht begründete Verzögerung zu entscheiden (vgl. Meyer-Goßner/Sch-mitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 141 Rn. 7; Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, JGG, 11. Auflage 2021, § 68a Rn. 3). Gemäß § 142 Abs. 1 StPO legt die Staatsanwaltschaft den Antrag eines Beschuldigten unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vor.

Insofern ist innerhalb der Rechtsprechung jedoch umstritten, ob eine Bestellung auch noch rückwirkend etwa nach Ende des Verfahrens erfolgen kann, wenn trotz rechtzeitiger Antragstellung durch justizinterne Vorgänge eine solche unterblieben ist (vgl. u.a. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O. § 142 Rn. 19; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 142 Rn. 14; BeckOK StPO/Krawczyk, 47. Ed. 1.4.2023, StPO § 142 Rn. 30; Eisenberg/Kölbel, a.a.O. § 68a Rn. 15). Das praktische Interesse der Beschuldigten liegt in diesen Fällen vielfach darin, dass mit der nachträglichen Bestellung, d.h. mit dem rückwirkenden Übergang von der Wahl- zur Pflichtverteidigung, eine Befreiung von den Verteidigerkosten einhergehen kann. Insofern wird — zumindest in Jugendstrafverfahren im Hinblick auf den Grundgedanken des § 2 Abs. 1 JGG und dem folgend der Kostenbefreiung sowie dem Anliegen, erhebliche finanzielle Belastungen wegen ihrer spezialpräventiv abträglichen Implikationen zu vermeiden — vielfach vertreten, eine Bestellung sei auch noch rückwirkend nach Abschluss des vorzunehmen (vgl. Eisenberg/Kölbel, a.a.O. § 68a Rn. 15; LG Neubrandenburg, BeckRS 2016, 20411; BeckOK StPO/Krawczyk. a.a.O. § 142 Rn. 30; LG Bonn, BeckRS 2010, 6327; AG Kempten, BeckRS 2019, 23506). Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vom 09.12.2019 eine Stärkung des Rechts beschuldigter Personen auf Verteidigung im Strafverfahren zur Folge hat.

Von der obergerichtlichen Rechtsprechung wurde eine rückwirkende Bestellung nach Verfahrensabschluss bislang überwiegend abgelehnt, da eine Beiordnung weder dem Kosteninteresse des Verteidigers noch des Beschuldigten dienen solle, sondern lediglich dem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O. § 142 Rn. 19; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, a.a.O. § 142 Rn. 14; BeckOK StPO/Krawczyk, a.a.O. § 142 Rn. 30; OLG Brandenburg, NStZ 2020, 625; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 23. März 2022 —1 Ws 28/22 (S) juris; BGH, NStZ-RR 2009, 348; OLG Bremen, NStZ 2021, 253).

Die Kammer folgt jedoch der Auffassung, dass es ausnahmsweise möglich und geboten ist, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung (§ 140 StPO bzw. § 68 JGG) vorliegen, der Beiordnungsantrag noch vor (rechtskräftigem) Abschluss des Verfahrens gestellt wurde und der Antrag vor Verfahrensabschluss aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde (vgl. u.a. OLG Stuttgart, Beschluss vom 15. Dezember 2022 — 4 Ws 529/22 —, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 —1 Ws 260/21 —, juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 — Ws 962/20 juris; LG Düsseldorf, BeckRS 2021, 36883; LG Köln NStZ 2021, 639; LG Wuppertal BeckRS 2021, 32474; LG Bremen, Beschluss vom 17. August 2020 — 3 Qs 221/20 juris; LG Hechingen, BeckRS 2020, 14359; LG Magdeburg, BeckRS 2020, 2477; LG Saarbrücken, Beschluss vom 26.02.2004 — 4 Qs 10/04 1, juris Ls.; a.A. u.a.: OLG Frankfurt, Beschluss vom 23. Februar 2023 — 7 Ws 30/23 —, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 24. Oktober 2012 —111-3 Ws 215/12 —, juris; Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 — 2 Ws 112/20 —, juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 2. März 2021 — 1 Ws 12/21 —, juris; KG Berlin, Beschluss vom 5. November 2020 — 5 Ws 217/19 —, juris). Andernfalls besteht die Gefahr, dass eine an sich gebotene Pflichtverteidigerbestellung wegen verzögerter Sachbearbeitung vermieden wird und eine effektive Verteidigung wegen der ungeklärten Kostenfrage unterbleibt (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, a.a.O. § 142 Rn. 30 m.w.N.).

Die Voraussetzungen des Ausnahmefalls sind vorliegend erfüllt. Der Antrag auf Beiordnung wurde auf die Übersendung einer schriftlichen Anhörung an den Beschuldigten bereits am 21.06.2022 gestellt. Die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung nach § 68 JGG lagen vor. Im Falle der Anwendung von Jugendstrafrecht hätte im Falle einer Verurteilung im Hinblick auf die Einbeziehung der früheren Verurteilung durch das Landgericht die Bildung einer Einheitsjugendstrafe (§ 31 Abs. 2 JGG) gedroht, sodass ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 68 Nr. 5 JGG vorgelegen hätte (vgl. BeckOK JGG/Noak, 29. Ed. 1.5.2023, JGG § 68 Rn. 27 m.w.N.). Insoweit kann es auch bereits dahinstehen, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO (i.V.m. § 68 Nr. 1 JGG) begründet war (vgl. Meyer-Goß-ner/Schmitt, a.a.O., § 140 Rn. 23c), weil der Beschuldigte für den Fall einer neuerlichen Verurteilung — soweit es nicht zu einer Einbeziehung gekommen wäre — mit dem Widerruf der Bewährung aus dem Urteil des Landgerichts Gießen (1 KLs 605 Js 3922/21) — Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren auf Bewährung — hätte rechnen müssen. Schließlich ist die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben, auf die der Beschuldigte keinen Einfluss hatte.

Eine Entscheidung über den Antrag auf Beiordnung vom 21.06.2021 hätte zeitnah nach dessen Eingang ergehen müssen. Gemäß § 141 Abs. 1 StPO wird in den Fällen der notwendigen Verteidigung dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Der Anhörungs-bogen wurde dem Beschuldigten mit Datum vom 10.06.2022 übersandt. Eine Entscheidung über den Antrag ist aufgrund justizinterner Vorgänge bis zur Einstellung des Verfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO am 13.12.2022 unterblieben. Das Schreiben des Verteidigers ging zunächst am 21.06.2022 beim Polizeipräsidium Mittelhessen eingegangen. Das Verfahren wurde mit Abverfügung vom 18.08.2022 an die Staatsanwaltschaft Gießen abgegeben und ging dort am 23.08.2022 ein. Erst mit Verfügung vom 28.02.2023 wurde die Sache — nach zwischenzeitlicher Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO und Erinnerung des Verteidigers an seinen Antrag — an das Amtsgericht Gießen mit dem Antrag, den Verteidiger als Pflichtverteidiger zu bestellen abgegeben. Von einer zeitnahen Entscheidung kann daher nicht mehr die Rede sein.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung von § 467 StPO.


Einsender: RA C. Schmid, Frankfurt am Main

Anmerkung:


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