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Entscheidungen

StPO

Berufung, Wiedereinsetzung nach Verwerfungsurteil, ausreichende Entschuldigung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Freiburg, Urt. v. 18.04.2023 – 2/23 10 NBs 520 Js 15836/22

Leitsatz des Gerichts:

Im Fall der §§ 412, 329 StPO hat das Berufungsgericht sämtliche bis zum Schluss der Berufungsverhandlung bekannt gewordenen Umstände zu berücksichtigen. Dies führt in der vorliegenden Verfahrenskonstellation dazu, dass der geltend gemachte Wiedereinsetzungsgrund erneut im Berufungsverfahren zu prüfen ist.


In pp.

Auf die Berufung des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Müllheim vom 23.08.2022 insgesamt aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Müllheim zurückverwiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens und die im Berufungsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe

(abgekürzt gem. § 267 Abs. 4 i.V.m. § 332 StPO)

I.

Das Amtsgericht Müllheim hat den Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl vom 09.06.2022 durch Urteil vom 23.08.2022 – 2 Cs 520 Js 15836/22 – verworfen, nachdem der Angeklagte dem Hauptverhandlungstermin ohne vorherige Entschuldigung ferngeblieben ist. In dem Strafbefehl war gegen den Angeklagten wegen einer am 31.03.2022 begangenen Nötigung auf der Autobahn eine Geldstrafe von 25 Tagessätzen à 55,- € sowie ein einmonatiges Fahrverbot verhängt worden. In einem handschriftlichen Brief, der am 06.09.2022 beim Amtsgericht eingegangen ist, trug der Angeklagte vor, seine Mutter habe den Brief mit der Ladung verlegt, und bat um einen neuen Termin. Das Amtsgericht legte dieses Schreiben zu Gunsten des Angeklagten gem. § 300 StPO als Wiedereinsetzungsantrag und zugleich als Berufung aus. Den Wiedereinsetzungsantrag verwarf es mit Beschluss vom 21.12.2022 als „unzulässig und unbegründet“ und legte die Akten nach Rechtskraft des Beschlusses zur Entscheidung über die Berufung dem Landgericht vor.

In der Berufungsinstanz verfolgte der Angeklagte sein Ziel einer Verhandlung zur Sache in der ersten Instanz weiter.

Seine Berufung hatte Erfolg.

II.

Die Berufung ist zulässig.

Das am 06.09.2022 beim Amtsgericht eingegangene Schreiben des Angeklagten stellt auch nach Auffassung der Berufungsstrafkammer einen Wiedereinsetzungsantrag verbunden mit dem Rechtsmittel der Berufung dar. Dies entspricht dem richtig verstandenen Interesse des – nicht verteidigten – Angeklagten, § 300 StPO. Anders als im unmittelbaren Geltungsbereich des § 329 StPO, in dem mit dem Wiedereinsetzungsantrag nur solche Entschuldigungsgründe geltend zu machen sind, die nach der Verwerfung neu hervorgetreten sind, in der Revision dagegen die richtige Handhabung der Verwerfungsvorschrift durch das verwerfende Gericht geprüft wird, hat das Berufungsgericht im Fall der §§ 412, 329 StPO nämlich sämtliche bis zum Schluss der Berufungsverhandlung bekannt gewordenen Entschuldigungsgründe zu berücksichtigen (vgl. OLG Oldenburg Urt. v. 4.11.2019 – 1 Ss 136/19, BeckRS 2019, 33154 Rn. 5, beck-online, m. w. N.). Dies führt in der vorliegenden Verfahrenskonstellation dazu, dass derselbe Wiedereinsetzungsgrund zwei Mal geprüft wird. Hieraus ergibt sich aber nicht die Unzulässigkeit der Berufung. In der Berufung ist nämlich die Frage, ob der Angeklagte im erstinstanzlichen Termin ausreichend entschuldigt war, im Strengbeweisverfahren zu prüfen, während der Angeklagte den nachträglich mitgeteilten Entschuldigungsgrund im Wiedereinsetzungsverfahren glaubhaft machen muss. Diese unterschiedlichen Verfahrensweisen können – wie hier – zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, was wegen der Bedeutung des ersten Zugangs zum Gericht als gewollt anzusehen ist.

III.

Die Einlassung des Angeklagten und die insbesondere durch die Vernehmung der Mutter des Angeklagten als Zeugin durchgeführte Beweisaufnahme hat folgende Umstände ergeben, die dazu führten, dass der Angeklagte den erstinstanzlichen Verhandlungstermin versäumte:

Der jetzt 55 Jahre alte Angeklagte ist seit fast 10 Jahren bei seiner jetzt knapp 80-jährigen Mutter gemeldet. Seine Mutter lebt seit vielen Jahrzehnten in Deutschland, spricht aber nur sehr rudimentär deutsch. Sie holte aber immer schon die Post der Familie aus dem Briefkasten und legte sie den jeweiligen Familienmitgliedern hin, an die die Post adressiert war. Seit dem Tod ihres Ehemanns vor ca. sechs Jahren ist sie für ihre eigenen Verwaltungsangelegenheiten auf die Hilfe ihres Sohnes angewiesen und wird immer unsicherer.

Der Angeklagte hat seit März oder April 2022 eine neue Freundin, bei der er sich seitdem auch öfters über Nacht aufhält. Er ging aber auch regelmäßig nach Hause zu seiner Mutter, kümmerte sich dort um ihre liegengebliebenen Dinge und nahm die Post in Empfang, die in den zurückliegenden Tagen für ihn angekommen war. Wenn Post für den Angeklagten dabei war, händigte sie ihm diese Briefe aus, wenn er nach Hause kam, bzw. hatte sie auf eine bestimmte Ablage gelegt, wo der Angeklagte sie dann an sich nehmen konnte. Die Ladung zum Termin hatte sie ihm aber nicht hingelegt oder gegeben. Bis dahin hatte der Angeklagte sich darauf verlassen können, dass sie seine und ihre Post nicht durcheinanderbrachte und ihm seine Post zuverlässig aushändigte bzw. hinlegte. Dies tat sie aber nicht mit der Ladung zum Termin zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung, die dem Angeklagten am 06.07.2022 durch Einlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt worden war. Erst als sie ihm das Urteil des Amtsgerichts vom 23.08.2022 gab, wurde ihm klar, dass sie seine Ladung verlegt hatte und dass er nicht mehr auf ihre Zuverlässigkeit vertrauen kann. Er machte sich Vorwürfe, dass er dies nicht vorher bemerkt hatte. Auch die Mutter des Angeklagten macht sich große Vorwürfe.

Soweit der Angeklagte in seinem Schreiben vom 06.09.2022 ausführt, er habe seine Mutter „par mal“ gefragt, ob Post vom Gericht gekommen sei, worauf sie geantwortet habe, sie könne sich nicht erinnern, blieb in der Hauptverhandlung unklar, ob diese Nachfragen vor oder nach dem Hauptverhandlungstermin vom 23.08.2022 stattgefunden hatten. Sowohl der Angeklagte als auch seine Mutter verstanden den Unterschied zwischen den beiden Konstellationen nicht und bejahten beide Varianten.

IV.

Bei dieser Sachlage hält die Strafkammer das Ausbleiben das Angeklagten in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung für ausreichend entschuldigt.

An den Begriff der genügenden Entschuldigung dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Die Möglichkeit, den Einspruch gegen den Strafbefehl bei Ausbleiben des Angeklagten zu verwerfen, birgt die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich. Daraus folgt, dass bei der Prüfung vorgebrachter oder vorliegender Entschuldigungsgründe eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten angebracht ist, handelt es sich doch um den ersten Zugang des Angeklagten zum Gericht. Zu berücksichtigen sind stets die Umstände des Einzelfalls - insbesondere die konkreten Umstände in der Zeit vor der Hauptverhandlung, in der der Einspruch verworfen wurde - und die Verhältnisse des Angeklagten. Eine genügende Entschuldigung ist u.a. dann anzunehmen, wenn der Angeklagte die zu erwartenden Verhaltensweisen ergriffen hat, um für seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung Sorge zu tragen, oder wenn das Verschulden gering ist. Hat der Angeklagte die notwendigen Maßnahmen nicht ergriffen und dies auch zu vertreten, so sind die Gründe für das Ausbleiben mit der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung abzuwägen (KG Beschl. v. 12.5.2020 – (5) 161 Ss 101/19 (19/19), BeckRS 2020, 33654 Rn. 8, beck-online, m. w. N.).

Die Strafkammer hält das Verschulden des Angeklagten vorliegend auch dann für gering, wenn er seine Mutter vor dem Hauptverhandlungstermin am 23.8.2022 gefragt hatte, ob Post vom Gericht gekommen sei, und sie geantwortet hatte, sie wisse es nicht. Die Strafkammer schloss nämlich aus den überzeugenden Schilderungen des Angeklagten, dass er damals davon ausging, dass dann auch keine Post gekommen sei. Nie vorher habe sie ihm etwas nicht hingelegt. Daher habe er sich einfach nicht vorstellen können, dass sie einen amtlichen Brief vergisst bzw. irgendwo hinlegt, wo sie ihn nicht mehr findet. Dass dies inzwischen zu befürchten sei, sei ihm erst klar geworden, als das Verwerfungsurteil kam. Andernfalls hätte er sich natürlich z. B. durch einen Anruf beim Gericht erkundigt, da er unbedingt vor Gericht zu dem aus seiner Sicht falschen Tatvorwurf angehört werden möchte.

Dem bei dieser Sachlage nach Auffassung der Strafkammer geringen Verschulden des Angeklagten steht gegenüber, dass gegen den Angeklagten in dem genannten Strafbefehl nicht nur eine Geldstrafe, sondern insbesondere auch ein Fahrverbot verhängt wurde. In Hauptverhandlung über den überschaubaren Sachverhalt sollte nur ein Zeuge aussagen, so dass eine Neuladung keinen erheblichen Aufwand bedeutet.

In der Abwägung ist die Strafkammer der Auffassung, dass vorliegend das berechtigte Interesse des Angeklagten am ersten Zugang zum Gericht sein mögliches geringes Verschulden überwiegt.

Das Verwerfungsurteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Müllheim zurückzuverweisen.

V.

Die Kostenentscheidung beruht bezüglich der in der Berufungsinstanz entstanden Kosten und notwendigen Auslagen auf §§ 473 Abs. 1, 467 StPO analog. Bezüglich der erstinstanzlichen Kosten und notwendigen Auslagen wird in der neuen Verhandlung zu entscheiden sein.


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