Gericht / Entscheidungsdatum: LG Kaiserslautern, Beschl. v. 17.03.2023 - 5 Qs 9/23
Eigener Leitsatz:
1. Die Vorschriften über die notwendige Verteidigung (§§ 140 ff. StPO) sind über § 46 Abs. 1 OWiG auch im gerichtlichen Bußgeldverfahren anwendbar.
2. Auch wenn Haft in einer anderen Sache vollstreckt wird, liegt nach zutreffender Ansicht ein Fall der notwendigen Verteidigung i.S.v. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor.
2. Jedenfalls dann, wenn der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtzeitig gestellt wurde und die Entscheidung alleine aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der Betroffene keinen Einfluss hatte, führt die zwischenzeitlich erfolgte Einstellung nicht dazu, dass eine Verteidigerbeiordnung unzulässig wird.
In pp.
1. Auf die sofortige Beschwerde des Betroffenen K. wird der Beschluss des Amtsgerichts Kaiserslautern vom 18.01.2023 aufgehoben.
2. Dem Betroffenen wird gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO i.V.m. § 46 OWiG Rechtsanwalt R., als Pflichtverteidiger bestellt.
3. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
1. Die Beschwerde des Betroffenen ist statthaft und zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
a) Die sofortige Beschwerde ist fristgerecht eingelegt worden. Vorliegend ist nicht zu erkennen, dass eine Zustellung an den Verteidiger beabsichtigt war. In der Verfügung vom 18.01.2023 (Bl. 39 d. A.) ist angegeben: „Eine beglaubigte Abschrift des Beschlusses vom 18.01.2023 hinausgeben an (...) Wahlverteidiger des Betroffenen R. - formlos (elektronisch) zustellen EB“. In der Akte findet sich kein Zustellungsnachweis. Es ist nicht mehr nachzuvollziehen, ob der Beschluss zugestellt oder lediglich formlos hinausgegeben wurde. Dass der Verteidiger zu einem nicht bekannten Zeitpunkt tatsächlich Kenntnis von der Ablehnungsentscheidung des Amtsgerichts erlangt hat, ist nicht geeignet den Zustellungsmangel gem. § 37 StPO i.V.m. § 189 ZPO zu heilen. Hiernach würde das Dokument, dessen formgerechte Zustellung nicht nachweisbar ist oder das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, in dem Zeitpunkt als zugestellt gelten, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist. Voraussetzung für eine Heilung ist aber, dass überhaupt eine Zustellung beabsichtigt war (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage 2022, § 36, Rn. 8a), was vorliegend nicht zu erkennen ist. Somit wurde die Frist mangels Zustellung nicht in Gang gesetzt. Die Beschwerde ist nicht verfristet.
b) Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Vorschriften über die notwendige Verteidigung (§§ 140 ff. StPO) über § 46 Abs. 1 OWiG auch im gerichtlichen Verfahren Bußgeldverfahren anwendbar sind. Für das behördliche Verfahren trifft § 60 OWiG eine abweichende Regelung, doch war dieses vorliegend bereits abgeschlossen und das Amtsgericht mit dem Verfahren betraut. Die Tatbestände des § 140 Abs. 1 StPO sind hier somit anzuwenden (vgl. KK-OWiG/Kurz, 5. Aufl., § 60 Rn. 26; Krenberger/Krumm, OWiG, 7. Aufl., § 46 Rn. 40).
Bei Antragsstellung lag ein Fall notwendiger Verteidigung gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor. Auch wenn - wie im vorliegenden Fall - Haft in einer anderen Sache vollstreckt wird, liegt nach zutreffender Ansicht ein Fall der notwendigen Verteidigung i.S.v. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor (OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22.04.2010 - 3 Ws 351/10, NStZ-RR 2011, 19; LG Mainz, Beschluss vom 11.10.2022 – 1 Qs 39/22, BeckRS 2022, 27767; LG Köln, Beschluss vom 28.12.2010 - 105 Qs 342/10, BeckRS 2011, 25712; BeckOK StPO/Krawczyk, 44. Ed. 1.7.2022, StPO § 140 Rn. 12; a.A.: LG Dresden, Beschluss vom 23.05.2018 - 14 Qs 16/18, BeckRS 2018, 13746; LG Osnabrück, Beschluss vom 06.06.2016 - 18 Qs 526 Js 9422/16 (17/16), BeckRS 2016, 13008). Weder § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO noch Art. 4 Abs. 4 der EU-Richtlinie 2016/1919 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, auf der die Neuregelung der StPO-Normen zu dem Pflichtverteidiger basieren, differenziert danach, in welchem Verfahren die Freiheitsentziehung angeordnet worden ist, sondern bejaht die notwendige Verteidigung bei jeder Inhaftierung. Die Regelung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO bezweckt es, solche Nachteile zu kompensieren, die der Beschuldigte aufgrund eingeschränkter Freiheit und der damit einhergehenden eingeschränkten Möglichkeit, seine Verteidigung vorzubereiten, erleidet (MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl., § 140 Rn. 19). Derartige Nachteile entstehen bei jeder Inhaftierung.
Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist möglich. Der Antrag auf die Beiordnung des Verteidigers wurde bereits am 30.08.2022, vor Einstellung des Verfahrens am 02.01.2023, gestellt. Während bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung am 10.12.2019 eine Beiordnung zum Pflichtverteidiger nach Verfahrensabschluss bzw. Einstellung des Verfahrens teilweise noch abgelehnt wurde, ist dieser Auffassung nach der Reform der §§ 141, 142 StPO nicht mehr zu folgen (OLG Nürnberg Beschluss vom 06.11.2020 – Ws 962/20, Ws 963/20, BeckRS 2020, 35193; BeckOK StPO/Krawczyk, 46. Ed. 1.1.2023, § 142 Rn. 30; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl., § 142 Rn. 14; a.A.: OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 – 2 Ws 112/20, BeckRS 2020, 27077; OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2021 – 1 Ws 12/21, BeckRS 2021, 3268). Jedenfalls dann, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt wurde und die Entscheidung alleine aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der Betroffene keinen Einfluss hatte, führt die zwischenzeitlich erfolgte Einstellung nicht dazu, dass die Verteidigerbeiordnung unzulässig wird (OLG Bamberg Beschluss vom 29.04.2021 - 1 Ws 260/21, BeckRS 2021, 14711; OLG Nürnberg Beschluss vom 06.11.2020 - Ws 962/20, Ws 963/20, BeckRS 2020, 35193). So liegt der Fall hier.
Zum Zeitpunkt der Antragsstellung war der Verfahrensausgang für den Betroffenen noch nicht absehbar, die Bestellung war zur Vorbereitung einer etwaigen Hauptverhandlung erforderlich (KK-OWiG/Kurz, 5. Aufl., § 60 Rn. 28).
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 StPO analog, § 46 Abs. 1 OWiG.
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