Gericht / Entscheidungsdatum: LG Magdeburg, Beschl. v. 28.11.2022 - 23 Qs 279 Js 2275/21 (71/22)
Eigener Leitsatz:
Ist der „Vorgang“ wegen der Aktenführung unübersichtlich ist von einer schwierigen Sach- und Rechtslage auszugehen, deren Bestehen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers als geboten erscheinen lassen kann.
Landgericht Magdeburg
Beschluss
23 Qs 279 Js 2275/21 (71/22)
In der Beschwerdesache
gegen pp.
Verteidiger:
hat 3. große Strafkammer des Landgerichts Magdeburg als Beschwerdekammer durch die unterzeichnenden Richter am 28.11.2022 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers vom 09.08.2022 wird dem Beschuldigten im Verfahren 279 Js 2275/21 auch bezüglich des Vor-wurfes des schweren Diebstahls Herr Rechtsanwalt Funk als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last
Gründe:
Mit Strafanzeige vom 06.08.2020 (BI. 100 d.A.), geführt unter der polizeilichen agebuchnummer 1/2015812020, zeigte die Geschädigte E.H. an, dass ihr am 05.08.2020 in der Zeit von 15:00 bis 18:00 Uhr ein E-Bike mit der Rahmennummer pp. entwendet worden sei.
Unter dem 03.09.2022 und der Tagebuchnummer 1/22735/2020 wurde von Amts wegen ein Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer u.a. wegen Betruges eingeleitet, da dieser im Verdacht stand, Krankenscheine und Überweisungsträger gefälscht zu haben (BI. 1 ff. d.A.). Der Tatverdacht stützte sich auf den Umstand, dass bei einer am 03.09.2020 in der pp. durchgeführten Durchsuchung in dem von dem Beschwerdeführer und dessen Lebensgefährtin gemeinschaftlich genutzten Kellerräumen diverse Überweisungsscheine von Ärzten bzw. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aufgefunden worden sind. Aus der Niederschrift über die Durchsuchung, auf welchem die polizeiliche Vorgangsnummer 916/170210/2020 vermerkt ist, ist erkennbar, dass sämtliche dort sichergestellten Gegenstände in einem Verfahren wegen Betruges und Urkundenfälschung sichergestellt worden seien (BI. 14 d.A.).
Ausweislich des Sachverhaltsvermerks der Polizei vom 03.09.2020 zur neu aufgenommenen Strafanzeige unter der polizeilichen Tagebuchnummer 1/20158/2020 wurde als Zufallsfund in einem weiteren, ebenfalls vom Beschwerdeführer mitgenutzten Kellerraum ein E-Bike mit der Rahmennummer pp. aufgefunden, welches zuvor aufgrund der Diebstahlsanzeige der Geschädigten H. zur Fahndung ausgeschrieben worden war. Auch dieses wurde unter der polizeilichen Vorgangsnummer 916/170210/2020 sichergestellt (BI. 46 d.A.).
Unter dem 16.10.2020 zeigte Herr Rechtsanwalt pp. die Vertretung des Beschuldigten im Verfahren zu der polizeilichen Tagebuchnummer 1/22742/2020 an und beantragte, ihn als Pflichtverteidiger beizuordnen (BI. 68 d.A. in Kopie). Die Akte unter der polizeilichen Tagebuchnummer 1/22735/2020 wurde nach Abschluss der Ermittlungen am 18.01.2021 der Staatsanwaltschaft Magdeburg übersandt, wo sie unter dem Aktenzeichen 279 Js 2275/21 eingetragen worden ist. Mit Verfügung vom 20.04.2022 beantragte die Staatsanwaltschaft Magdeburg im Verfahren 279 Js 2275/21 sodann, dem Beschuldigten - unter Hinweis auf den Antrag des Herrn Rechtsanwalt Funk vom 16.10.2020 - einen Pflichtverteidiger zu bestellen.
Mit Beschluss vom 25.04.2022 (BI. 81 d.A.), welchem sich weder ein gerichtliches noch staatsanwaltschaftliches oder polizeiliches Aktenzeichen entnehmen lässt, ordnete das Amtsgericht Magdeburg dem Beschwerdeführer im Verfahren "wegen Betruges" Herr Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bei.
Mit Schriftsatz vom 04.05.2022 beantragte Herr Rechtsanwalt pp. Akteneinsicht im Verfahren 279 Js 2275/21, welche ihm mit staatsanwaltlicher Verfügung vom 31.05.2022 gewährt wurde. Mit Schriftsatz vom 13.06.2022 (BI. 106 d.A.) beantragte Herr Rechtsanwalt pp. zudem Akteneinsicht in die Akte bezüglich des Vorwurfes des Fahrraddiebstahls unter dem Betreff "Tatvorwurf Fahrraddiebstahl z.N. pp. Tatzeitpunkt 03.09.2020, Tatort: pp.: Tagebuchnummer unbekannt" und begehrte gleichzeitig, ihn auch in diesem Verfahren als Pflichtverteidiger beizuordnen. Ebenso richtete er sein Beiordnungsbegehren mit Schriftsatz vom 14.06.2022 an das Amtsgericht Magdeburg (BI. 109 d.A.)
Am 05.07.2022 (BI. 94 d.A.) erhob die Staatsanwaltschaft Magdeburg im Verfahren unter dem Aktenzeichen 279 Js 2275/21 gegen den Beschwerdeführer Anklage wegen schweren Diebstahles mit dem Tatvorwurf, am 05.08.2020 zwischen 15.00 und 18:00 Uhr das oben genannte E-Bike der Geschädigten H. entwendet zu haben.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 07.07.2022 (BI. 113 d.A.) erinnerte Rechtsanwalt pp. an seinen Beiordnungsantrag bezüglich des Tatvorwurfes des schweren Diebstahls. Durch Schriftsatz vom 09.08.2022 legte Rechtsanwalt pp. gegen die im Hinblick auf den Tatvorwurf des schweren Diebstahls aus seiner Sicht bislang rechtswidrig unterbliebene Beiordnung seiner Person als Pflichtverteidiger im Namen des Beschwerdeführers sofortige Beschwerde ein. Hierbei stehe ein Unterlassen einer Beiordnung einer Ablehnung gleich.
Mit Verfügung vom 25.08.2022 nahm die Staatsanwaltschaft die Anklage zurück und übersandte die Akte dem Amtsgericht Magdeburg mit dem Hinweis, dass irrtümlich angenommen worden sei, dass die Strafanzeige wegen Diebstahls (BI. 24 ff. d.A.) zur polizeilichen Tagebuchnummer 1/20158/20 Gegenstand des hiesigen Verfahrens zum Aktenzeichen 279 Js 2275/21 gewesen sei. Das Verfahren zum Diebstahl wurde durch die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 25.08.2022 nunmehr zum Verfahren 279 Js 2275/21 hinzuverbunden und beantragt, auch wegen des Tatvorwurfs des Diebstahls eine Pflichtverteidigerbeiordnung vorzunehmen (BI. 120 d.A.).
Das Amtsgericht Magdeburg lehnte eine Pflichtverteidigerbeiordnung mit der Begründung ab, dass eine Beiordnung bereits mit Beschluss vom 25.04.2022 erfolgt sei, da der Diebstahlsvorgang (BI. 24 ff. d.A.) auch schon im Zeitpunkt der damaligen Beschlussfassung Teil der Verfahrensakte gewesen sei und der Verteidiger zu diesem Zeitpunkt bereits Akteneinsicht gehabt habe.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.
Wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO ist dem Beschuldigten — auch hinsichtlich des Vorwurfs des schweren Diebstahls — ein Pflichtverteidiger beizuordnen.
Der gesamte Akteninhalt stellt sich als gänzlich unübersichtlich dar.
In der Akte befinden sich zahlreiche Unterlagen mit unterschiedlichen Vorgangsnummern. So erfolgte unter der Tagebuchnummer 1/22735/2020 von Amts wegen eine Strafanzeige wegen Diebstahls aufgrund des Auffindens vermeintlich gefälschter Krankenscheine, Überweisungsträger und Arztrezepte. Ebenso im selben Vorgang befindet sich die unter der Vorgangsnummer 1/20158/2020 erfasste Strafanzeige wegen Diebstahls des Fahrrads der Geschädigten H. vom 05.08.2020. Gleichzeitig befindet sich in der Akte das Sicherstellungsprotokoll zur Vorgangsnummer 916/170210/2020 teils im Original, auf welchem unter anderem auch das im Diebstahlsverfahren streitgegenständliche Fahrrad enthalten ist. Weiterhin enthält die Akte — aus nicht erkennbaren Gründen — auf Blatt 68 bis 74 Kopien aus dem ebenso gegen den Beschuldigten wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz geführten Verfahren unter der polizeilichen Vorgangsnummer 1/22742/2020, welches ausweislich des handschriftlichen Vermerks auf BI. 62 d.A. offensichtlich zum Verfahren 275 Js 2347/21 der Staatsanwaltschaft Magdeburg gehört. So war auch der auf Bl. 68 der Akte enthaltene Antrag des Herrn Rechtsanwalt pp. vom 16.10.2020, gerichtet auf seine Beiordnung als Pflichtverteidiger, zum Verfahren zur Vorgangsnummer 1/22742/2020 gehörig. Trotz dessen wurde durch die Staatsanwaltschaft Magdeburg nach Eintragung des hiesigen Verfahrens unter dem Aktenzeichen 279 Js 2275/21 zum Verfahren wegen Betruges irrtümlich auf diesen Antrag zur Vorgangsnummer 1/22742/2020 Bezug genommen (BI. 89 d.A.). Das Verfahren wegen Diebstahls des Fahrrads wurde — bis zur Hinzuverbindung durch Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 25.08.2022 und erfolgter Zurücknahme der Anklage (BI. 120 d.A.) — währenddessen weiterhin als Verfahren gegen unbekannt unter dem Aktenzeichen 111 UJs 15396/20 geführt.
Soweit mit Beschluss des Amtsgerichts Magdeburg vom 25.04.2022 eine Beiordnung des Herrn Rechtsanwalt pp. im Verfahren "wegen Betruges" (und nicht etwa "wegen Betruges u.a.") erfolgte, ist bereits nicht erkennbar, ob das Gericht hierbei auch davon ausging, dass ebenfalls die Diebstahlstat zum Vorgang gehörte. Indes lässt sich dem Beschluss schon nicht entnehmen, für welches Verfahren eine Beiordnung erfolgte, da dieser weder ein gerichtliches noch staatsanwaltschaftliches oder polizeiliches Aktenzeichen erkennen lässt und gegen den Beschuldigten augenscheinlich zeitgleich mehrere Verfahren anhängig gewesen zu sein scheinen.
Zwar erfolgt eine Pflichtverteidigerbeiordnung grundsätzlich nicht in Bezug auf einzelne Tatvorwürfe, sondern hinsichtlich eines Verfahrens. Hier ist jedoch angesichts der genannten Umstände davon auszugehen, dass das Verfahren zu diesem Zeitpunkt die Diebstahlstat noch nicht umfasst hatte. Dies gilt umso mehr, als dass nunmehr mit Verfügung vom 25.08.2022 eine Verbindung des Verfahrens 279 Js 2275/21 (wegen Betruges) mit dem Verfahren 111 UJs 15396/20 (wegen Diebstahls) vorgenommen worden ist.
Aufgrund der Unübersichtlichkeit des Vorgangs, resultierend aus der Aktenführung, ist von einer schwierigen Sach- und Rechtslage auszugehen, deren Bestehen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers als geboten erscheinen lässt. Aus Klarstellungsgründen erstreckt sich diese auf den nach Verbindung der Vorgänge hinzugetretenen Vorwurf des schweren Diebstahls, da mit Beschluss vom 04.05.2022 bereits eine Beiordnung wegen Betruges stattfand.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 StPO.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 310 StPO).
Einsender: RA J.-R. Funck, Braunschweig
Anmerkung:
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