Gericht / Entscheidungsdatum: LG Halle, Beschl. v. 25.11.2022 - 3 Qs 135/22
Eigener Leitsatz:
Erstrebt die Staatsanwaltschaft mit einer Berufung gegen ein erstinstanzliches Verfahren in einer Parallelsache, in der der Angeklagte bereits schon zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist, eine (deutlich) höhere Freiheitsstrafe, sodass dem Angeklagten auch im Wege einer (ggf. nachträglichen) Gesamtstrafenbildung mit der Strafe aus einer etwaigen Verurteilung in dem Verfahren, in dem über eine Pflichtverteidigerbestellung zu entscheiden ist, insgesamt ein (deutlich) höherer Freiheitsentzug als ein Jahr drohen würde, ist ihm wegen Schwere der Tat ein Pflichtverteidiger zu bestellen, auch wenn es sich bei der Verurteilung aus dem Verfahren, in dem die Entscheidung zu treffen ist, voraussichtlich nur um eine Geldstrafe handeln wird.
Landgericht Halle
3 Qs 135/22
Beschluss
In der Strafsache
gegen pp.
Verteidiger:
wegen Sachbeschädigung
hat die 3. Große Strafkammer des Landgerichts Halle — Beschwerdekammer — durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht zur, die Richterin am Landgericht und die Richterin am 25.11.2022 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Naumburg vom 18.10.2022, Az.: 10 Cs 714 Js 207208/22, wird der angefochtene Beschluss aufgehoben.
Dem Angeklagten wird Rechtsanwalt pp. als notwendiger Verteidiger bestellt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Landeskasse zur Last.
Gründe:
Gegen den Angeklagten wurde durch die Staatsanwaltschaft Halle wegen Beleidigung und Sachbeschädigung ermittelt.
Die Staatsanwaltschaft Halle beantragte bei dem Amtsgericht Naumburg, gegen den Angeklagten im Wege eines Strafbefehls wegen des Vergehens der Sachbeschädigung (Tatzeit: 23.05.2022) eine Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen zu je 10,00 € festzusetzen. Der betreffende Strafbefehl wurde durch das Amtsgericht auch erlassen und dem Angeklagten am 28.09.2022 zugestellt.
Mit Schreiben vom 30.09.2022, eingegangen beim Amtsgericht am selben Tag, zeigte der Verteidiger gegenüber dem Amtsgericht die Vertretung des Angeklagten an und legte namens und in Vollmacht des Angeklagten Einspruch gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts ein und beantragte gleichzeitig für den Angeklagten, als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden.
Die Staatsanwaltschaft beantragte mit Verfügung vom 11.10.2022 die Ablehnung des Beiordnungsantrages. Es seien weder Gründe nach § 140 Abs. 2 StPO vorgetragen, noch würden sie sich diese aus den Akten ergeben. Über die beantragte Geldstrafe hinaus drohe dem Angeklagten weder ein Bewährungswiderruf noch eine Gesamtstrafenbildung.
Mit Beschluss des Amtsgerichts Naumburg vom 18.10.2022, Az.: 10 Cs 714 Js 207208/22, dem Angeklagten zugestellt am 20.10.2022, wies das Gericht den Antrag des Angeklagten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zurück. Zur Begründung führte es aus, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 und 2 StPO nicht vorliegen würden. Es drohe dem Angeklagten lediglich die Verurteilung zu einer Geldstrafe; ein Bewährungswiderruf stehe nicht im Raum. Es sei auch nicht ersichtlich, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen könne.
Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 26.10.2022, der am selben Tag beim Amtsgericht einging, legte der Angeklagte gegen den vorgenannten Beschluss sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass gegen den Angeklagten weitere Verfahren anhängig seien, in denen Rechtsanwalt Funck als Pflichtverteidiger beigeordnet worden sei. Daher könne das vorliegende Verfahren nicht isoliert betrachtet werden. Selbst wenn lediglich durch eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung eine Gesamtfreiheitsstrafe von über einem Jahr drohe, sei ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben.
Die Staatsanwaltschaft beantragte mit Verfügung vom 02.11.2022, die sofortige Beschwerde aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses als unbegründet zu verwerfen, und legte die Akten dem hiesigen Landgericht zur Entscheidung vor.
1. Die sofortige Beschwerde ist nach § 142 Abs. 7 S. 1 StPO statthaft und auch sonst zulässig, insbesondere fristgerecht gern. § 311 Abs. 2 StPO eingelegt worden.
2. Sie hat auch in der Sache Erfolg, weil die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO hier nach Auffassung der Kammer vorliegen.
Nach § 140 Abs. 2 StPO ist dem Angeklagten unter anderem dann ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Allgemein anerkannt ist, dass eine Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers geben. Die Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird (Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 64. Auflage, § 140, Rn. 23 a m.w.N.).
Durch das Amtsgericht Naumburg wurde der Angeklagte am 29.11.2021 wegen Diebstahls (Tatzeit 21.04.2021) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt (Az.: 10 Ls 570 Js 203738/21). Gegen dieses Urteil legten sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft jeweils Berufung ein, sodass in diesem Verfahren noch keine Rechtskraft eingetreten ist. Die Berufungshauptverhandlung soll vor dem hiesigen Landgericht ab Anfang Dezember 2022 stattfinden [Az.: 9 Ns 570 Js 203738/21 (5/22)]. Zwischen der Tat aus dem hiesigen Verfahren (Tatzeit 23.05.2022) sowie derjenigen, welche dem Urteil des Amtsgerichts Naumburg zugrunde liegt und über die aufgrund der jeweils eingelegten Berufungen Anfang Dezember 2022 verhandelt werden soll, würde Gesamtstrafenfähigkeit bestehen. Denn für die Frage der Gesamtstrafenfähigkeit würde es jeweils auf den Zeitpunkt der letzten Tatsachenentscheidung (hier u. a. auf das zu erwartende Berufungsurteil des hiesigen Landgerichts in dem Parallelverfahren und nicht etwa auf die erstinstanzliche Entscheidung des Amtsgerichts Naumburg vom 29.11.2021 in dem Parallelverfahren) ankommen.
In dem erstinstanzlichen Verfahren vor dem Amtsgericht Naumburg in der Parallelsache wurde der Angeklagte, wie bereits oben ausgeführt, schon zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit der von ihr eingelegten Berufung gemäß der dortigen Berufungsbegründung vom 15.02.2022 sogar eine noch (deutlich) höhere Freiheitsstrafe, sodass dem Angeklagten auch im Wege einer (ggf. nachträglichen) Gesamtstrafenbildung mit der Strafe aus einer etwaigen Verurteilung in hiesiger Sache (auch wenn es sich hierbei voraussichtlich nur um eine Geldstrafe handeln wird) insgesamt ein (deutlich) höherer Freiheitsentzug als ein Jahr drohen würde.
Sämtliche vorherige Verurteilungen des Angeklagten sind im Übrigen bereits vor dem 21.04.2021 (Tatzeit in dem o. g. Parallelverfahren) rechtskräftig geworden, sodass hier auch keine Zäsurwirkung anderer Verurteilungen der Gesamtstrafenbildung entgegenstehen würde.
Aufgrund dieser Gegebenheiten war dem Angeklagten daher auch im hiesigen Verfahren ein Pflichtverteidiger zu bestellen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.
Einsender: RA J.-R. Funck, Braunschweig
Anmerkung:
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