Gericht / Entscheidungsdatum: LG Stuttgart, Beschl. v. 18.04.2023 - 9 Qs 22/23
Eigener Leitsatz:
Beschränkende Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO sind nur dann zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht; die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbrauchen könnte, genügt hingegen nicht.
9 Qs 22/23
Landgericht Stuttgart
Beschluss
In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.
wegen vorsätzlichen Handeltreibens mit einer Schusswaffe u.a.
hier Haftbeschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO
hat das Landgericht Stuttgart - 9. Große Strafkammer - am 18. April 2023 beschlossen:
1. Auf die Beschwerde des Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 10. März 2023 aufgehoben.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit angefallenen notwendigen Auslagen des Beschuldigten trägt die Staatskasse.
Gründe:
Das Amtsgericht Stuttgart erließ gegen den Beschuldigten am 10. März 2023 wegen des Verdachts des vorsätzlichen Handeltreibens mit einer Schusswaffe in Tateinheit mit weiteren waffenrechtlichen Delikten einen auf den Haftgrund der Flucht gestützten Haftbefehl.
Mit Beschluss vom selben Tage ordnete das Amtsgericht zudem gemäß § 119 Abs. 1 StPO Haftbeschränkungen an. Unter anderem wurde angeordnet, dass Besuche sowie die Telekommunikation des Beschuldigten der Erlaubnis bedürfen und zu überwachen sind. Auch ist der Schrift- und Paketverkehr zu überwachen. In den Beschlussgründen wird ausgeführt, dass die Anordnungen „wegen des Vorliegens der Haftgründe erforderlich und zumutbar seien. Zudem entsprächen die Anordnungen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere bestehe die Gefahr, dass der Beschuldigte Fluchtversuche unternimmt, da er schon vor der Festnahme untergetaucht gewesen sei.
Gegen die im Beschränkungsbeschluss angeordneten Maßnahmen wendet sich der Beschuldigte mit seinem Rechtsmittel. Er beanstandet insbesondere, dass die Anordnung der Maßnahmen nicht hinreichend begründet sei.
Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und der Strafkammer die Akten zur Entscheidung über das Rechtsmittel vorgelegt. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Die Voraussetzungen für den Erlass beschränkender Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO liegen nicht vor.
1. Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Stuttgart, der die Strafkammer folgt, sind Haftbeschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO nur zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht, die nicht anders als durch die in Rede stehenden Beschränkungen abgewehrt werden können (OLG Stuttgart, Beschluss vom 8. Februar 2022 — 1 Ws 21/22, juris Rn. 8). Nach dem Willen des Gesetzgebers soll aus grundrechtlichen Erwägungen jede Beschränkung auf ihre konkrete Erforderlichkeit geprüft und begründet werden, eine standardmäßige Beschränkung der Rechte des Untersuchungsgefangenen ist nicht zulässig (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. Januar 2021 — 3 Ws 7-9/21). Bei der Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO ist insbesondere dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb nur unvermeidlichen Einschränkungen seiner Grundrechte unterworfen werden darf (BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2014 — 2 BvR 1513/14, juris Rn. 18).
Hieraus folgt insbesondere, dass beschränkende Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO nur dann zulässig sind, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht; die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbrauchen könnte, genügt hingegen nicht (OLG Stuttgart a.a.O.; OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Bremen, Beschluss vom 10. Mai 2022 —1 Ws 30/22).
2. Von diesen Maßstäben ausgehend hält der angefochtene Beschluss der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Konkrete Anhaltspunkte für eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke werden in der Entscheidung des Amtsgerichts nicht dargelegt und sind auch nicht ersichtlich. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass der Angeklagte, sei es aus der Justizvollzugsanstalt heraus oder mithilfe von auf freiem Fuß befindlichen dritten Personen, Fluchtvorbereitungen getroffen hätte.
a) Dabei hat die Strafkammer nicht übersehen, dass sich der Beschuldigte einem vor dem Amts-gericht Ellwangen geführten Strafverfahren durch Flucht entzogen hatte und erst nach mehreren Monaten und umfangreichen Fahndungsmaßnahmen festgenommen werden konnte. Dieser Umstand rechtfertigt die Anordnung von Haftbeschränkungen jedoch nicht, wenn es, wie vorliegend, an konkreten Anhaltspunkten für aktuelle Fluchtplanungen fehlt. Denn in solchen Fällen wird der Gefahr der Flucht eines Beschuldigten bereits durch dessen Inhaftierung hinreichend begegnet, zumal ein Entweichen aus der Untersuchungshaft anderer Planungen bedarf als das Untertauchen eines Beschuldigten, der sich auf freiem Fuß befindet (OLG Stuttgart a.a.O., juris Rn. 11).
b) Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Beschuldigte strafrechtlich nicht unerheblich vorbelastet ist und nach polizeilichen Erkenntnissen der rechten Szene angehört.
Zwar kann zur Feststellung einer Gefahr, die die Anordnung von haftgrundbezogenen Beschränkungen rechtfertigen kann, auch auf tatsachengestützte allgemeine Erfahrungssätze zurückgegriffen werden (OLG Bremen, Beschluss vom 7. September 2022 — 1 Ws 97/22). Ein Erfahrungssatz dahingehend, dass ein Beschuldigter, der sich vor seiner Inhaftierung der Festnahme durch Flucht zu entziehen versuchte, auch aus der Haft heraus Fluchtvorbereitungen trifft, besteht jedoch nicht (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.). Auch folgt eine konkrete Fluchtgefahr nicht allei-ne aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Szene.
c) Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Vollzug der Untersuchungshaft für den Be-schuldigten schon allein aus Gründen der Sicherheit und Ordnung in der Vollzugsanstalt nach den einschlägigen justizvollzugsrechtlichen Vorschriften des Landes Baden-Württemberg mit di-versen Beschränkungen verbunden ist, ohne dass es hierfür gesonderter Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO bedarf. So ermächtigen etwa die §§ 13, 14, 17, 19, 20 und 21 JVollzGB II die zuständige Justizvollzugsanstalt zu umfangreichen Überwachungsmaßnahmen im Zusammen-hang mit den Verkehr mit der Außenwelt und die §§ 43 bis 53 JVollzGB II rechtfertigen Maßnah-men zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt.
Die Entscheidung zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens und den insoweit angefallenen notwendigen Auslagen des Beschuldigten beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.
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