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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Unfähigkeit der Selbstverteidigung, nicht hinreichend sprachkundiger Beschuldigter, Dolmetscher

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Stuttgart, Beschl. v. 27.04.2023 - 9 Qs 23/23

Eigener Leitsatz:

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird bei einem nicht hinreichend sprachkundigen Angeklagten nicht bereits deshalb entbehrlich, wenn die sich aus den Sprachschwierigkeiten ergebenden Einschränkungen seiner Verteidigungsmöglichkeiten durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers „abgemildert" werden. Vielmehr kann in solchen Fällen nur dann von der Verteidigerbestellung abgesehen werden, wenn die Einschränkungen durch den Dolmetscher völlig ausgeglichen werden, was bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage fraglich sein kann.


9 Qs 23/23

Landgericht Stuttgart

Beschluss

In dem Strafverfahren gegen

wegen sexueller Belästigung u.a.

hier Pflichtverteidigerbestellung
hat das Landgericht Stuttgart - 9. Große Strafkammer - am 27. April 2023 beschlossen:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Esslingen vom 29. März 2023 aufgehoben.
2. Dem Angeklagten wird Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit angefallenen notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.

Gründe:

Gegen den Angeklagten wird ein Strafverfahren wegen sexueller Belästigung sowie wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Bedrohung, geführt.

Unter anderem wird ihm zur Last gelegt, er habe seine Schwiegertochter in deren Wohnung umarmt und auf die Wangen geküsst, wobei ihm das sexuelle Gepräge seines Verhaltens bewusst gewesen sei. Aufgrund des sexuellen Bezuges der Berührungen habe die mutmaßlich Geschädigte diese als sehr unangenehm empfunden, was der Angeklagte zumindest billigend in Kauf genommen habe.

Aufgrund dieser Vorwürfe erließ das Amtsgericht Esslingen gegen den Angeklagten am 16. Januar 2023 einen Strafbefehl, der eine Gesamtgeldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 10,00 € bei Einzelstrafen von jeweils 40 Tagessätzen vorsah. Hiergegen hat der Angeklagte fristgerecht Ein-spruch eingelegt. Das Amtsgericht hat daraufhin Termin zur Hauptverhandlung auf den 15. Mai 2023 bestimmt.

Mit Schriftsatz vom 20. März 2023 beantragte der Angeklagte über seinen Verteidiger dessen Be-stellung zum Pflichtverteidiger.

Diesen Antrag hat das Amtsgericht Esslingen mit Beschluss vom 29. März 2023 abgelehnt. Die Mitwirkung eines Verteidigers sei nicht geboten. Es sei nicht ersichtlich, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen könne. Zudem werde zur Hauptverhandlung ein Dolmetscher für die tamilische Sprache hinzugezogen, was etwaige Sprachschwierigkeiten des Angeklagten abmildere.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner sofortigen Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat deren Verwerfung als unbegründet beantragt.

II.

Das gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässig erhobene Rechts-mittel hat Erfolg. Denn die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO liegen vor. Die Mitwirkung eines Verteidigers ist zum einen wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten und zum anderen ist ersichtlich, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann.

Im Einzelnen:

1. Eine Strafbarkeit nach § 184i Abs. 1 StGB setzt voraus, dass der Täter eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt. Objektiv sexuell bestimmt ist eine Berührung dann, wenn sie schon nach dem äußeren Erscheinungsbild einen sexuellen Bezug hat; vor allem also Berührungen von primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen, auch oberhalb der Kleidung. Nach Ansicht des Gesetzgebers sollen zweifelsfrei erfasst sein z.B. das „Küssen des Nackens, der Haare und des Kopfes der von hinten umfassten Geschädigten", „Berühren des Vaginalbereichs über der Kleidung" sowie ein „festes Drücken der behandschuhten Hand der Geschädigten auf das Geschlechtsteil des Beschuldigten" (Fischer, StGB, 70. Aufl., § 184i, Rn. 4a).

Darüber hinaus sind Berührungen erfasst, die subjektiv sexuell bestimmt sind, also nach den Umständen des Einzelfalles ein sexuelles Gepräge haben, aber keine sexuellen Handlungen sind. Nicht erfasst sein sollen aber bloße Distanzlosigkeiten oder „Ungehörigkeiten" wie „beispielsweise das einfache In-den-Arm-nehmen oder der Kuss auf die Wange" (Fischer a.a.O.). Denn solche Handlungen sind nach Auffassung des Gesetzgebers nicht ohne weiteres dazu geeignet, die sexuelle Selbstbestimmung zu beeinträchtigen (BT-Drs. 18/9097, S. 30).

Gerade solche Handlungen sind es jedoch, die dem Angeklagten vorliegend vorgeworfen werden. Weshalb hier ausnahmsweise die sexuelle Selbstbestimmung beeinträchtigt worden sein soll, bedarf einer umfassenden Überprüfung in der Hauptverhandlung. Die sich hierbei stellenden rechtlichen Fragen vermag der Angeklagte ohne den Beistand eines Verteidigers nicht zu beant-worten, zumal seine Verteidigungsmöglichkeiten aufgrund seiner unzureichenden Kenntnisse der deutschen Sprache ohnehin beeinträchtigt sind. Diese Beeinträchtigungen können nicht durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers hinreichend ausgeglichen werden.

2. Insoweit ist das Amtsgericht bereits von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen. Denn die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird bei einem nicht hinreichend sprachkundigen Angeklagten nicht bereits deshalb entbehrlich, wenn die sich aus den Sprachschwierigkeiten ergebenden Einschränkungen seiner Verteidigungsmöglichkeiten durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers „abgemildert" werden. Vielmehr kann in solchen Fällen nur dann von der Verteidigerbestellung abgesehen werden, wenn die Einschränkungen durch den Dolmetscher völlig aus-geglichen werden (KG, Beschluss vom 25. September 2013 — (4) 121 Ss 147/13; vgl. auch LG Bremen, Beschluss vom 28. Juni 2021 — 41 Qs 243/21).

Dies ist vorliegend nicht der Fall. Angesichts der vorstehend dargelegten Schwierigkeit der Sach-und Rechtslage kann der Angeklagte nicht darauf verwiesen werden, dass er sich mit Hilfe eines Dolmetschers selbst verteidigen könne. Vielmehr bedarf es auch wegen seiner unzureichenden Sprachkenntnisse der Mitwirkung eines Pflichtverteidigers, zumal auch nicht ersichtlich ist, dass der Angeklagte in der Lage sein könnte, den Akteninhalt ohne den Rat eines Verteidigers selbst-ständig auszuwerten.

3. Darüber hinaus ergeben sich aus dem Akteninhalt weitere gewichtige Anhaltspunkte für eine unzureichende Fähigkeit zur Selbstverteidigung des Angeklagten. So ist im Ermittlungsbericht der Polizei vermerkt, dass der Angeklagte sich nach Angaben seiner Tochter wegen einer Psychose im Dezember 2021, mithin nur wenige Monate vor den ihm nunmehr zur Last gelegten Taten, in eine mehrwöchige stationäre Behandlung habe begeben müssen. Auch sei es zu einem Suizid-versuch des Angeklagten gekommen. Es liegt auf der Hand, dass eine psychische Erkrankung die Fähigkeiten zur Selbstverteidigung in einem Gerichtsprozess erheblich beeinträchtigt.

4. Dass der Verteidiger nicht erklärt hat, im Falle seiner Beiordnung das Wahlmandat niederzulegen, hindert die Beiordnung nicht. Denn der für den Angeklagten eingereichte Antrag eines Wahl-verteidigers, ihn zum Pflichtverteidiger zu bestellen, enthält konkludent eine entsprechende Erklärung (BGH, Urteil vom 13. August 2014 - 2 StR 573/13, juris Rn. 12; KK-StPO/Willnow, 9. Aufl., § 141, Rn. 4)

Die Entscheidung zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens und den insoweit angefallenen notwendigen Auslagen des Angeklagten beruhen auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.


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