Gericht / Entscheidungsdatum: AG Speyer., Beschl. v. 23.03.2023 - 1 Ls 5121 Js 25842/19
Eigener Leitsatz:
1. Wird ein Rechtsanwalt zunächst einem Mandanten als Pflichtverteidiger „für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen“ beigeordnet und dann später als Pflichtverteidiger für das Verfahren, handelt es sich nicht um dieselbe Angelegenheit, so dass eine Anrechnung von Gebühren nicht in Betracht kommt.
2. Erfolgt die Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO, handelt es sich nicht um eine Einzeltätigkeit, sondern um eine Tätigkeit im Sinne von Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG mit der Folge, dass der beigeordnete Rechtsanwalt die Grundgebühr, die Verfahrensgebühr und die Terminsgebühr verdient.
In dem Strafverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
wegen Vergewaltigung
hat das Amtsgericht Speyer am 27.03.2023 beschlossen:
Der Erinnerung vom 20.01.2023 gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 26.06.2022 wird nicht abgeholfen.
Gründe:
I.
Die Erinnerung ist zulässig, jedoch unbegründet.
Mit Beschluss des Amtsgerichts Speyer vom 16.12.2020 wurde Rechtsanwalt Pp. dem Beschuldigten für die Dauer der Vernehmung der Zeugin pp. im Rahmen des Ermittlungsverfahrens beigeordnet. Der Beschluss wurde Rechtsanwalt Pp. zusammen mit der Terminsbestimmung zur Zeugeneinvernahme am 08.01.2021 zugestellt.
Rechtsanwalt Pp. nahm am 11.01.2021 Akteneinsicht.
In der nichtöffentlichen Sitzung vor dem Ermittlungsrichter am 28.01.2021 nahm Rechtsanwalt Pp. teil.
Für seine Tätigkeit beantragte dieser mit Kostenfestsetzungsantrag vom 02.02.2021, seine Kosten wie folgt festzusetzen:
Nr. 4100 VV RVG: 160,00 €
Nr. 4104 VV RVG: 132,00 €
Nr. 4102 Nr. 1 VV RVG: 136,00 €
Nr. 7002 VV RVG: 20,00 €
Nr. 7000 Nr. 1 VV RVG: 41,65 €
Nr. 7008 VV RVG: 93,03 €.
Die beantragten Kosten wurden mit Beschluss vom 06.04.2021 antragsgemäß festgesetzt.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom 12.04.2021 wurde dem Beschuldigten mit Beschluss vom 21.04.2021 Rechtsanwalt Pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nahm dieser am 07.05.2021 und 17.08.2021, auch jeweils auf Hinweis der Staatsanwaltschaft, erneut Akteneinsicht. Die Einsichtnahmen erfolgten zu Zeit-punkten, in denen das Ermittlungsverfahren schon so weit vorangeschritten war, dass der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Zulassung der Anklageschrift und Eröffnung des Hauptverfahrens absehbar waren. Die entsprechenden Anträge gingen beim Amtsgericht Speyer - Schöffengericht -am 21.10.2021 ein.
Der erste Hauptverhandlungstermin fand am 02.03.2022 vor dem Schöffengericht statt und dauerte von 9 Uhr bis 16.20 Uhr.
Rechtsanwalt Pp. nahm am Fortsetzungstermin am 04.04.2022 teil, der von 9 Uhr bis 13.32 Uhr dauerte.
Im Fortsetzungstermin am 04.04.2022 erging Urteil, das am 12.04.2022 Rechtskraft erlangte.
Nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung und somit mit Eintritt der Fälligkeit beantragte Rechtsanwalt Pp. mit Schriftsatz vom 12.04.2022, seine weiteren Gebühren und Auslagen wie folgt festzusetzen:
Nr. 4100 VV RVG: 176.00 €
Nr. 4104 VV RVG: 145,00 €
Nr. 4106 VV RVG: 145,00 €
Nr. 4108 VV RVG: 242,00 €
Nr. 4110 VV RVG: 121,00 €
Nr. 4108 VV RVG: 242,00 €
Nr. 7002 VV RVG: 40,00 €
2 x Aktenversendungspauschale 24,00 €
Nr. 7000 Nr. la VV RVG: 158,65 €
Nr. 7008 VV RVG: 245,79 €
Mit Beschluss vom 26.06.2022 wurden die Kosten antragsgemäß festgesetzt.
Hiergegen hat die Bezirksrevisorin beim Landgericht Frankenthal als Vertreterin der Landeskasse mit Schreiben vom 20.01.2023 Erinnerung eingelegt und beantragt, die Vergütung auf insgesamt 1.682,24 € festzusetzen, unter Berücksichtigung der Anrechnung der Gebühren für das Ermittlungsverfahren und hat auf die Entscheidung des Landgerichts Mannheim, Beschluss vom 21.01.2019, 5 Qs 61/18, verwiesen.
Eine Anrechnung von Gebühren ist in der Aufstellung der Kostentatbestände, Teil 4 der Anlage 1 RVG, nicht vorgesehen.
II.
Eine Anrechnung von Gebühren kommt auch nicht nach § 15 Abs. 5 RVG in Betracht, der in bestimmten Fällen eine Anrechenbarkeit zuließe.
Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der Rechtsanwalt, nachdem er in einer Angelegenheit tätig geworden ist, beauftragt wird, in derselben Angelegenheit weiter tätig zu werden. Sodann darf dieser nicht mehr an Gebühren erhalten, als der Rechtsanwalt erhielte, wenn dieser von vornherein hiermit beauftragt worden wäre.
Den Begriff „derselben Angelegenheit" erwähnt das RVG in den §§ 16-18 Vergütungsverzeichnis; es definiert ihn aber nicht. Die Abgrenzung von unterschiedlichen Angelegenheiten wird der Rechtsprechung und dem Schrifttum überlassen (vgl. Gerold/Schmidt, RVG, 25. Auflage, § 15, Rn. 5).
Die anwaltliche Tätigkeit in derselben Angelegenheit muss danach aufgrund eines einheitlichen Auftrags erfolgen, sich im gleichen Rahmen halten, zwischen den einzelnen Handlungen und/oder Gegenständen einen inneren Zusammenhang haben und in der Zielsetzung übereinstimmen (vgl. Mayer/Kroiß, RVG, 8. Auflage, § 15, Rn. 2 - 4).
Gemessen an diesen Maßstäben liegt die Anwendbarkeit des § 15 Abs. 5 RVG hier nicht vor.
Mit Beschluss vom 16.12.2020 wurde Rechtsanwalt Pp. im Ermittlungsverfahren wie folgt bestellt: „Für die Dauer der Vernehmung wird dem Beschuldigten Rechtsanwalt Pp., Speyer, beigeordnet." Grund für die Beiordnung war der Ausgleich für den Ausschluss des Angeschuldigten während der Dauer der Vernehmung, sodass wenigstens für diesen einen Termin, sein beigeordneter Verteidiger seine Rechte wahrnehmen konnte, § 168c Abs. 3, Abs. 5 S. 2 StPO.
Der Vernehmungstermin fand am 28.01.2021 statt, Herr Rechtsanwalt Pp. war zugegen. Aus dem Protokoll dieser nichtöffentlichen Sitzung ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass Rechtsanwalt Pp. mit einer sukzessiven Erweiterung des Auftrags rechnen konnte. So beantragte dieser nach Auftragserledigung mit Schriftsatz vom 02.02.2021 seine Vergütung festzusetzen, was letztendlich antragsgemäß mit Beschluss vom 06.04.2021 erfolgte.
Erst 3 Monate nach Beendigung seines Auftrags aus dem Bestellungsbeschluss vom 16.12.2020 wurde Rechtsanwalt Pp. mit Beschluss vom 21.04.2021 als Pflichtverteidiger gemäß § 140 Abs. 1 StPO beigeordnet.
Schließlich ist es unerheblich, dass die „endgültige" Beiordnung von Rechtsanwalt Pp. vom 21.04.2021, wie zuvor die Beiordnung für die Dauer der Vernehmung vom 16.12.2020, im Ermittlungsverfahren erfolgt sind. Es ist nicht schon deshalb dieselbe Angelegenheit, weil die Beiordnungen in demselben Verfahrensabschnitt (Vorverfahren) erfolgt sind. Vielmehr ist ausschlaggebend, dass die Beiordnungen mit anderen Zielsetzungen erfolgt sind. Zum einen wie angeführt, zum Ausgleich des Ausschlusses des Angeschuldigten für die erzwungene Abwesenheit des Angeschuldigten in der Vernehmung am 28.01.2021 und zum anderen zur weiteren Verteidigung für das gesamte Verfahren.
Durch die erneute Wiedereinarbeitung in den Sachverhalt, betrachtet aus der Perspektive eines vollumfänglich bestellen Pflichtverteidigers mit Wirkung ab 21.04.2021, wird ein größerer Aufwand verursacht, der die Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG (nochmals) durchaus rechtfertigt.
Im Übrigen kann es sich schon deshalb nicht um dieselbe Angelegenheit handeln, da es andernfalls keiner erneuten Beiordnung für das gesamte Verfahren des Rechtsanwalts Pp. bedurft hätte.
Auch waren die Voraussetzungen des § 15 Abs. 6 RVG zu prüfen, wonach eine „Deckelung" der entstandenen Gebühren in bestimmten Fällen vorzunehmen ist. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor.
Voraussetzung hierfür wäre, dass der Rechtsanwalt lediglich mit einzelnen Handlungen oder Tätigkeiten beauftragt worden wäre, die eine Erstattungsfähigkeit allein der Gebühr Nr. 4301 VV RVG rechtfertigen könnte.
Zwar hätte der Wortlaut des Tenors des Bestellungsbeschlusses vom 16.12.2020 eine Einzeltätigkeit nahelegen können. Da die Bestellung des Rechtsanwalts jedoch nach § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO erfolgte, handelt es sich nicht um eine Einzeltätigkeit, sondern um eine Tätigkeit im Sinne von Teil 4 Abschnitt 1 der Anlage 1 des RVG mit der Folge, dass der beigeordnete Rechtsanwalt die Grundgebühr, die Verfahrensgebühr und die Terminsgebühr verdient (vgl. Gerold/Schmidt, RVG, 25. Auflage, VV Nr. 4301, Rn. 15; so auch RVGreport 2017, 402-406 - § 141 Abs. 2 Nr. 3 StPO n. F.). § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO ist nicht auf das Ermittlungsverfahren beschränkt, sondern auf alle richterlichen Vernehmungen vor und nach Anklageerhebungen anzuwenden. Erfasst sind Zeugen-, Sachverständigen- u. Beschuldigtenvernehmungen, vgl. BeckOK StPO/Krawczyk § 140 Rn. 19.
Zudem besteht keine Streitigkeit darüber, ob im Rahmen der ersten Bestellung im Vorverfahren lediglich die Gebühr Nr. 4301 W RVG erstattungsfähig ist, sondern darüber, ob § 15 Abs. 6 RVG Anwendung findet.
Es bleibt daher vorliegend dahingestellt, ob dem beigeordneten Rechtsanwalt für Einzeltätigkeiten, die sich nach Nr. 4301 Nr. 4 W RVG bestimmen, nicht mehr an Gebühren erstattet werden können, die ein mit der gesamten Angelegenheit betrauter Rechtsanwalt für die gleiche Tätigkeit erhalten würde.
Der Erinnerung konnte aus den vorgenannten Gründen nicht abgeholfen werden. Die festgesetzten Gebühren und Auslagen des beigeordneten Rechtsanwalts sind entstanden und auch erstattungsfähig.
Einsender: RA A. Flory, Speyer
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