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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Lüneburg, Beschl. v. 02.03.2023 - 45 Qs 2/23 - 45 Qs 33/23

Leitsatz:

Rückwirkende Pflichtverteidigerbestellungen sind im Falle rechtzeitig gestellter Beiordnungsanträge auch noch nach Erledigung des Verfahrens - schon zur Verwirklichung des Rechts auf ein faires Verfahren - geboten.


Landgericht Lüneburg

Beschluss
45 Qs 2/2345 Qs 33/23

In der Strafsache
gegen pp.

Verteidigerin:

wegen Diebstahls u.a.

hat das Landgericht 4. Große Jugendkammer - Lüneburg durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, den Richter am Landgericht und die Richterin am Landgericht am 02.03.2023 beschlossen:

1. Auf die mit Schreiben seiner Verteidigerin vom 13.02.2023 eingelegte sofortige Beschwerde des Beschuldigten wird der Beschluss das Amtsgerichts Lüneburg vom 01.02.2023 aufgehoben.
2. Dem Beschuldigten wird Frau Rechtsanwältin pp. rückwirkend für folgende Verfahren pp. als notwendige Verteidigerin beigeordnet:
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie dessen notwendige Auslagen trägt die Landeskasse.

Gründe:

I.

Der Beschuldigte wendet sich gegen die die Pflichtverteidigerbestellung ablehnende Entscheidung des Amtsgerichts Lüneburg vom 13.02.2023. Diese betrifft insgesamt 32 Ermittlungsverfahren, die die Staatsanwaltschaft Lüneburg gegen den Beschuldigten wegen
Diebstahls und Sachbeschädigung geführt hat.

Mit Schriftsatz vom 14.07.2022 (BI. 5 „Antragsband") hat die Verteidigerin in 84, in einer Liste zusammengefassten, Ermittlungsverfahren beantragt, als Pflichtverteidigerin für den Beschuldigten beigeordnet zu werden. Eine Weiterleitung der Anträge durch die Staatsanwaltschaft Lüneburg an das zuständige Amtsgericht Lüneburg erfolgte zunächst nicht. Vielmehr wurden die die hiesigen Beschwerdeverfahren betreffenden Ermittlungsverfahren jeweils Mitte August 2022 durch die Staatsanwaltschaft Lüneburg nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt und die Ermittlungsakten sodann gemeinsam mit den weiteren 52 Ermittlungsakten, auf die sich die Anträge auf Pflichtverteidigerbestellung bezogen, mit Verfügung vom 05.12.2022 (BI. 31 Antragsband) an das zuständige Amtsgericht zur Entscheidung übersandt.

2. Die gemäß §§ 142 Abs. 7, 304 Abs. 1 StPO statthafte und zulässig erhobene sofortige Beschwerde hat Erfolg. Die Voraussetzungen für eine (ausnahmsweise rückwirkende) Pflichtverteidigerbestellung liegen in den im Tenor genannten Verfahren vor.

a) Ob und unter welchen Voraussetzungen eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung möglich ist, ist umstritten.:

Bis zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (nachfolgend: „PKH-Richtlinie") mit dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 - BGBl. I, S. 2128 ff. - (nachfolgend: „Pflichtverteidigerneuregelungsgesetz") ging die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur davon aus, dass eine nicht auf eine zukünftige Tätigkeit des Verteidigers gerichtete, sondern lediglich auf ein beendetes Verfahren bezogene rückwirkende oder nachträgliche Verteidigerbeiordnung grundsätzlich unzulässig sei (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 20.07.2009 - 1 StR 344/08). Denn die Beiordnung erfolge im Strafprozess nicht im Kosteninteresse des Angeklagten, sondern diene allein dem Zweck, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten.

Seit der Umsetzung der PKH-Richtlinie durch das Pflichtverteidigerneuregelungsgesetz wird in der obergerichtlichen und landgerichtlichen Rechtsprechung diskutiert, ob durch diese Neuregelung eine rückwirkende bzw. nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise zulässig ist (so OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020 - Ws 962/20; OLG Bamberg vom 29.04.2021 - 1 Ws 260/21; kritisch auch Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage, § 142 Rn. 20). Die Vertreter dieser Ansicht sehen in Art. 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie eine Erweiterung von Ziel und Zweck der Verteidigerbestellung auf eine finanzielle Unterstützung der beschuldigten Person. Gestützt werde dies durch die Neufassung der §§ 141 Abs. 1 S. 1, 142 Abs. 7 StPO, aus dem sich eine besondere Beschleunigung der Bestellung ergebe. Eine rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers sei danach dann zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gern. § 140 Abs. 1, Abs. 2 StPO zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und die Entscheidung durch gerichtsinterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte, mithin eine wesentliche Verzögerung erfahren hat (vgl. OLG Nürnberg Beschl. v. 6.11.2020 — Ws962/20, Ws963/20; LG Hamburg Beschl. v. 15.7.2021 — 622 Qs 22/21; LG Gera, Beschluss vom 10.11.2021 — 11 Qs 309/21).

Demgegenüber sehen andere Oberlandesgerichte (OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2021 - 1 Ws 12/21; OLG Bremen, Beschluss vom 23.09.2020 - 1 Ws 120/20; OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 - 2 Ws 112/20) in der Neuregelung der §§ 141 ff. StPO keine Absicht des Gesetzgebers hin zu einem Systemwechsel und hält weiterhin die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers für ausgeschlossen. Dies werde bereits aus der Gesetzesbegründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung (S. 20 ff. BT-Drs. 19/13829) deutlich. Aus Art. 4 Abs. 1 der PHK-Richtlinie ergebe sich nichts Anderes. Ziel der Richtlinie sei lediglich, dem Beschuldigten den Zugang zu einem Rechtsbeistand zu ermöglichen, nicht hingegen, diesen von den Kosten freizustellen. Dieses Erfordernis. den Zugang zu einem Rechtsbeistand zu erreichen, könne hingegen nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens, an dem ein Rechtsbeistand beteiligt war, nicht mehr erreicht werden. Eine rückwirkende Beiordnung diene ausschließlich dem Zweck, dem Verteidiger für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, nicht jedoch, die notwendige ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten. Die rückwirkende Beiordnung sei auf etwas Unmögliches gerichtet und würde die notwendige Verteidigung eines Angeklagten in der Vergangenheit nicht mehr gewährleisten.

b) Die Kammer schließt sich der erstgenannten Auffassung an. Denn die Versagung einer rückwirkenden Bestellung trotz rechtzeitigen Beiordnungsantrags würde dazu führen, dass der mittellose Beschuldigte auf notwendige Verteidigung - und gerade nicht nur auf Kostenerstattung - faktisch verzichten müsste, da fraglich sein dürfte, ob Rechtsanwälte in Kenntnis einer Versagung rückwirkender Bestellungen in der Endphase eines Verfahrens nicht mehr zur Übernahme der Verteidigung mittelloser Beschuldigter bereit sind. Daher sind rückwirkende Bestellungen im Falle rechtzeitig gestellter Beiordnungsanträge schon zur Verwirklichung des Rechts auf ein faires Verfahren geboten. Nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung muss eine rückwirkende Bestellung erst recht möglich sein, da hierdurch insgesamt der frühzeitige Zugang zu einem Rechtsbeistand insbesondere auch für mittellose Beschuldigte gewährleistet und nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistandes gesichert werden soll. Eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten als deklariertes Regelungsziel würde jedoch unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde.

Die Anträge auf Pflichtverteidigerbestellung wurden hier bereits am 14.07.2022 und damit rechtzeitig vor Abschluss der Verfahren gestellt, der jeweils erst zwischen dem 15. und dem 25. August 2022 und damit zwischen vier bis sechs Wochen später verfügt wurde. Die Entscheidung über die Bestellung hat eine wesentliche Verzögerung allein aufgrund justizinterner Vorgänge erfahren. Die Staatsanwaltschaft hätte diese Anträge gemäß § 142 Abs. 1 Satz 2 StPO unverzüglich dem zuständigen Gericht zur Entscheidung vorlegen müssen. Tatsächlich legte die Staatsanwaltschaft Lüneburg die Anträge dem Amtsgericht Lüneburg erstmals mit Verfügung vorn 05.12.2022 vor, worauf das Amtsgericht letztlich am 01.02.2023 und damit mehr als fünf Monate nach den Anträgen auf Bestellung zur Pflichtverteidigerin eine Entscheidung traf, wohl vor dem Hintergrund, dass die Ermittlungsakten zunächst nicht vollständig übersandt und eine zusätzliche Stellungnahme des Bezirksrevisors eingeholt worden waren.

Es lag zum maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung am 14.07.2022 auch jeweils ein Fall der notwendigen Verteidigung vor nach § 68 Nr. 1, Nr. 5, 68a JGG vor. Nach § 68 Nr. 1 JGG liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde und nach § 68 Nr. 5 JGG, wenn die Verhängung einer Jugendstrafe, die Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe oder die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt zu erwarten ist. Da eine Vielzahl der gegen den Beschuldigten geführten Verfahren verbunden vor dem Jugendschöffengericht angeklagt und verhandelt wurden, stand zu erwarten, dass eine hypothetische Anklageerhebung in den das Beschwerdeverfahren betreffenden Verfahren ebenfalls zum Jugendschöffengericht erfolgt wäre, was die Erwartung der Verhängung einer die Strafgewalt des Jugendrichters überteigende Rechtsfolge von über einem Jahr Jugendstrafe voraussetzt.

Ein Absehen von der Beiordnung nach § 68a Abs. 1 Satz 2, 2. Alt. JGG kam zum maßgeblichen Zeitpunkt ebenfalls nicht in Betracht. Hiernach kann von der notwendigen Beiordnung abgesehen werden, wenn ein Absehen von der Strafverfolgung nach § 45 Absatz 2 oder 3 JGG zu erwarten ist. Für eine solche Erwartung ergaben sich zum Zeitpunkt der Antragstellung aus den Ermittlungsakten keinerlei Anhaltspunkte.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 StPO.


Einsender: RÄin U. Petschull, Soltau

Anmerkung:


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