Gericht / Entscheidungsdatum: LG Köln, Beschl. v. 23.03.2023 - 105 Qs 89/22
Eigener Leitsatz:
1. Eine nachträgliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers kann ausnahmsweise zulässig sein, wenn trotz Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO über den rechtzeitig gestellten Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung aus justizinternen Gründen nicht entschieden worden ist bzw. die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. Insofern sieht das geltende Recht zur effektiven Ausgestaltung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand vor, dass ein Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vorzulegen ist. Um eine Untergrabung dieses Rechts zu verhindern, kann dem Beschuldigten bei Missachtung dieser Abläufe - der ansonsten richtige - Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht entgegengehalten werden, wenn das konkrete Verteidigungsbedürfnis nach dieser angemessenen Entscheidungszeit wegfällt. Es ist in solchen Fällen dann regelmäßig auf die Begründetheit des Antrags vor Wegfall - etwa durch Verfahrenseinstellung - abzustellen.
2. Eine Pflichtverteidigerbestellung hat nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte selbst nicht hinreichend verteidigen kann. Zwar genügt die bloße Betreuerbestellung nicht, um allein deswegen eine Verteidigerbestellung auszusprechen. Die Verteidigungsfähigkeit bemisst sich nach den geistigen Fähigkeiten, dem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Einzelfalles. Eine Beiordnung ist indes bereits regelmäßig angezeigt, wenn an der Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten erhebliche Zweifel bestehen.
Landgericht Köln
Beschluss
In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
hat die 5. große Strafkammer des Landgerichts Köln auf die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 28.11.2022 - Az: 501 Gs 3345/22 -durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, die Richterin am Landgericht und die Richterin am 23.03.2023 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin wird der Beschluss aufgehoben und wie folgt neu gefasst:
Der Beschuldigten wird Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen der
Beschwerdeführerin werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe:
Die gemäß §§ 142 Abs. 7 S. 1, 311 StPO statthafte und auch im Übrigen in zulässiger Weise, insbesondere fristgerecht, eingelegte sofortige Beschwerde der vormals Beschuldigten gegen die Zurückweisung des Antrags auf Pflichtverteidigerbestellung vom 05.07.2022 hat auch in der Sache Erfolg.
Eine nachträgliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers kann ausnahmsweise zulässig sein, wenn trotz Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO über den rechtzeitig gestellten Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung aus justizinternen Gründen nicht entschieden worden ist bzw. die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. Insofern sieht das geltende Recht zur effektiven Ausgestaltung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand vor, dass ein Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vorzulegen ist, sodass die Entscheidung über die Pflichtverteidigerbeiordnung in angemessener Zeit erfolgt, § 141 Abs. 1 S. 1 StPO. Die Entscheidung über den Antrag des Beschuldigten kann nach § 142 Abs. 7 StPO mit der sofortigen Beschwerde überprüft werden. Um eine Untergrabung dieses Rechts zu verhindern, kann der Beschuldigten bei Missachtung dieser Abläufe — der ansonsten richtige — Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht entgegengehalten werden, wenn das konkrete Verteidigungsbedürfnis nach dieser angemessenen Entscheidungszeit wegfällt. Es ist in solchen Fällen dann regelmäßig auf die Begründetheit des Antrags vor Wegfall — etwa wie hier durch Verfahrenseinstellung — abzustellen (vgl. OLG Nürnberg StraFo 2021 71f.)
Bei hypothetischer unverzüglicher Weiterleitung des Antrags des Verteidigers an den Ermittlungsrichter, hätten bei der Entscheidung des Amtsgerichts die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung hinsichtlich des ursprünglichen Vorwurfs des Hausfriedensbruchs vorgelegen. Es lag ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor. Danach hat eine Pflichtverteidigerbestellung auch dann nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte selbst nicht hinreichend verteidigen kann. Zwar genügt die bloße Betreuerbestellung nicht, um allein deswegen eine Verteidigerbestellung auszusprechen. Die Verteidigungsfähigkeit bemisst sich nach den geistigen Fähigkeiten, dem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Einzelfalles. Eine Beiordnung ist indes bereits regelmäßig angezeigt, wenn an der Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten erhebliche Zweifel bestehen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 14.08.2003 — 2 Ss 439/03 — m.w.N.; Meyer-Goßner-Schmitt/Schmitt, StPO, 65. Aufl., 2022, § 140, Rn. 30a m.w.N.). Von einer fehlenden Verteidigungsfähigkeit ist auszugehen, wenn ein Beschuldigter unter einer besonders umfassenden Betreuung steht (vgl. LG Schwerin, Beschluss vom 30. September 2021 — 31 Qs 56/21; KG Berlin, Beschluss vom 20. Dezember 2021 — (2) 161 Ss 153/21 (35/21)). Dies ist hier der Fall. Die vormals Beschuldigte stand zum Zeitpunkt des Antrags auf Pflichtverteidigerbeiordnung aufgrund eines erheblichen Alkoholmissbrauchs und den Folgen eines Hirninfarkts unter gesetzlicher Betreuung (Amtsgericht Siegburg Az. 43 XVII 21111.1eir. Das in dem Betreuungsverfahren von der Fachärztin für Psychiatrie Frau Ras am 15. November 2021 erstattete Gutachten diagnostiziert bei der vormals Beschuldigten eine langjährige Alkoholabhängigkeit, eine posttraumatische Belastungsstörung und einen erlittenen Hirninfarkt mit einer damit einhergehenden Hemiparese links aufgrund derer sie ihre Angelegenheiten nicht mehr selbständig adäquat regeln kann. Nach ärztlicher Einschätzung bedarf sie dringend der Hilfe einer Betreuung, wobei eine umfassende Betreuung empfohlen wurde. Mit Beschluss vom 15. Dezember 2021 wurde durch das Betreuungsgericht Siegburg eine umfassende Betreuung angeordnet. Die Betreuung kann hier als umfassend eingestuft werden, denn ihr Aufgabenkreis umfasst Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitsfürsorge, Regelung des Postverkehrs, Vermögensangelegenheiten, Vertretung gegenüber Behörden und Sozialversicherungsträgern und Wohnungsangelegenheiten. In ihrem Bericht vom 29.12.2022 berichtet die Betreuerin, die ehemals Beschuldigte sei verwahrlost und baue körperlich immer mehr ab. Hierdurch ist die Beschränkung der Fähigkeit der vormals Beschuldigten zur Selbstverteidigung hinreichend belegt.
Die Entscheidung über die Pflichtverteidigerbeiordnung ist auch nicht in angemessener Zeit geklärt worden. Gemäß § 142 Abs. 1 S. 1 StPO kann der Antrag im Ermittlungsverfahren bei der Polizeibehörde gestellt werden. Diese hat daraufhin die Staatsanwaltschaft unverzüglich hierüber zu informieren, die den Antrag dann unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vorzulegen hat, sofern sie nicht nach § 142 Abs. 4 S. 1 StPO verfährt. Der Verteidiger beantragte mit am 16.08.2022 bei dem Polizeipräsidium Köln eingegangenen Schriftsatz seine Pflichtverteidigerbestellung. Über diesen Antrag wurde erst am 28.11.2022 nach Einstellung des Verfahrens am 24.11.2022 — und damit mehr als 3 Monate nach Antragstellung - entschieden. Eine Beiordnung des Pflichtverteidigers ist somit ausnahmsweise trotz zwischenzeitlichen Wegfalls des Bedürfnisses einer Beiordnung im Interesse der Rechtspflege angezeigt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO analog,
Einsender: RA Dr. P.-R. Gülpen, Troisdorf
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