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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, U-Haft im Ausland, Spezialitätsgrundsatz, Straferwartung, Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Leipzig, Beschl. v. 30.03.2023 - 5 Qs 15/23

Eigener Leitsatz:

1. Zur Anwendung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO, wenn zwar gegen den Beschuldigten im Ausland Untersuchungshaft vollstreckt worden ist, dem Beschuldigten aber bei einer Auslieferung nach Deutschland wegen des Spezialitätsgrundsatzes keine Untersuchungshaft droht.
2. Daher gilt, nicht schon jede zu erwartende Freiheitsstrafe, sondern erst eine Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe, sollte in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers geben
3. Zur verneinten Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage.



Landgericht Leipzig

Beschluss

In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.

wegen gefährlicher Körperverletzung

ergeht am 30.03.2023 durch das Landgericht Leipzig - 5. Strafkammer als Beschwerdekammer -

nachfolgende Entscheidung:

Die sofortige Beschwerde des Beschuldigten gegen den die beantragte Beiordnung eines Pflichtverteidigers versagenden Beschluss des Amtsgerichts Leipzig - Ermittlungsrichter - vom 06.02.2023 (Az.: ER 13 281 Gs 657/23) wird kostenpflichtig als unbegründet verworfen .

Gründe:

I.

Die Staatsanwaltschaft Leipzig führt gegen den nicht vorbestraften Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung. Danach soll sich der Beschuldigte am 15.02.2022 gegen 18:10 Uhr gemeinsam mit einer Gruppe von sechs bis sieben Personen in Höhe der Eisenbahnstraße 74 in Leipzig aufgehalten haben (Bl. 61 d.A.) und dem dort ebenfalls anwesenden Geschädigten pp. Pfefferspray großflächig in das Gesicht und auf den Oberkörper gesprüht haben, weswegen der Geschädigte starke Schmerzen und Rötungen im Gesicht erlitten habe. Eine weitere Person aus der sieben bis acht Personen umfassenden Gruppe soll darüber hinaus ein zuvor unter seiner Kleidung verstecktes, ca. armlanges Messer hervorgezogen haben und mit diesem Messer in Richtung des Beschuldigten gelaufen sein.

Aufgrund einer allgemein gehaltenen informellen Anfrage des Verteidigers vom 21.09.2022 (Bl. 74 d. A.) nach gegen den Beschuldigten anhängigen Ermittlungsverfahren, der eine Vollmacht des Beschuldigten vom 15.09.2022 wegen „Strafverfahren“ anlag, wurde Rechtsanwalt Mario Thomas, Leipzig, von der Staatsanwaltschaft Leipzig u.a. das Aktenzeichen des vorliegenden Verfahrens bekanntgegeben.

Mit Verfügung vom 17.11.2022 stellte die Staatsanwaltschaft Leipzig das Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten gem. § 154f StPO wegen unbekannten Aufenthaltes vorläufig ein und schrieb ihn national zur Fahndung aus. Der Beschuldigte konnte in dem vorliegenden Ermittlungsverfahren bislang nicht förmlich vernommen werden (Bl. 77 d. A.).

Mit Verteidigerschriftsatz vom 25.01.2023 beantragte Rechtsanwalt Thomas als Wahlverteidiger des Beschuldigten die Beiordnung als Pflichtverteidiger, gestützt auf § 140 Abs. 2 StPO und darüber hinaus die Gewährung von Akteneinsicht. Mit Verfügung vom 06.02.2023 trat die Staatsanwaltschaft Leipzig dem Antrag des Wahlverteidigers auf Beiordnung als Pflichtverteidiger entgegen.

Mit Beschluss vom 06.02.2023 wies das Amtsgericht Leipzig - Ermittlungsrichter - den Antrag des Beschuldigten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers als unbegründet zurück (Az.: ER 13 281 Gs 657/23). Zur Begründung wies das Amtsgericht Leipzig in dieser Entscheidung namentlich darauf hin, dass das Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten wegen unbekannten Aufenthaltes gemäß § 154f StPO vorläufig eingestellt ist, dieser bisher noch nicht förmlich vernommen werden konnte und ein Fall der notwendigen Verteidigung im vorliegenden Verfahren nicht anzunehmen sei (Bl. 90 d. A.).

Gegen den, seinem Verteidiger im Rahmen des auf Antrag gewährten Akteneinsicht am 22.02.2023 bekannt gewordenen, Beschluss des Amtsgerichts Leipzig - Ermittlungsrichter - vom 06.02.2023 ließ der Beschuldigte mit Verteidigerschriftsatz vom 22.02.2023 sofortige Beschwerde einlegen und eine Rechtsmittelbegründung mit gesondertem Verteidigerschriftsatz ankündigen.

Mit weiterem Verteidigerschriftsatz vom 01.03.2023 ließ der Beschuldigte sodann das eingelegte Rechtsmittel dahingehend begründen, dass er inzwischen in Italien inhaftiert sei und somit die Voraussetzungen für die beantragte Beiordnung seines Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorlägen.

Zu dem in der Rechtsmittelbegründung des Beschuldigten erhobenen Inhaftierungseinwandes als Grundlage für die begehrte Pflichtverteidigerbestellung äußerte sich die Staatsanwaltschaft Leipzig mit Verfügung vom 08.03.2023 (Bl. 104 d. A.). Die Staatsanwaltschaft führt namentlich aus, dass die Festnahme ohne vorläufige Inhaftierung des Beschuldigten in Italien nicht im vorliegenden Strafverfahren, sondern in einem anderen Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Leipzig, in dem der der Festnahme zugrundeliegende Haftbefehl ergangen sei (Az.: 305 Js 6059/23), erfolgt sei. Dieser Haftbefehl beinhalte nicht den Tatvorwurf aus dem vorliegenden Verfahren. Die Staatsanwaltschaft Leipzig habe insoweit auch nicht den Anschluss im vorliegenden Verfahren an den Haftbefehl beantragt. Der Beschuldigte könne somit auch bei Auslieferung aus Italien nach Deutschland im vorliegenden Verfahren nicht verfolgt werden und sei daher inswoeit weiterhin abwesend im Sinne des § 154f StPO.



II.

Die durch Verteidigerschriftsatz erhobene sofortige Beschwerde ist statthaft gemäß § 142 Abs. 7 S. 1 StPO und gemäß §§ 304 Abs. 1 und 2 StPO, 311 StPO in zulässiger Weise -- insbesondere fristgerecht eingelegt worden.

Das eingelegte Rechtsmittel ist jedoch unbegründet, da ein Fall der notwendigen Verteidigung im gegenständlichen Verfahren -- jedenfalls derzeit -- nicht gegeben ist.

1. Es ist - wie das Amtsgericht Leipzig - in dem angegriffenen Beschluss zu Recht ausführt, bereits zweifelhaft, ob der Zeitpunkt für die beantragte Beiordnung als Pflichtverteidiger nicht verfrüht ist, weil dem Beschuldigten entgegen § 141 Abs. 2 Nr. 2 StPO der Tatvorwurf noch nicht förmlich eröffnet worden ist. Darüber hinaus ist fraglich, ob neben der umfassenden Sachaufklärungspflicht der Strafverfolgungsbehörden in dem wegen unbekannten Aufenthaltes eingestellten Verfahren derzeit überhaupt ein objektives Bedürfnis für die Mitwirkung eines Verteidigers zur Sicherung der Rechte des Beschuldigten besteht.

2. Die Kammer hatte aufgrund des Einwandes des Beschuldigten, er sei in Italien aufgrund eines in einem (anderen) durch die Staatsanwaltschaft Leipzig gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren ergangenen Haftbefehls vorläufig festgenommen und in Untersuchungshaft gebracht worden, zu prüfen, ob die zwingende Beiordnung eines Verteidigers aufgrund vollstreckter Untersuchungs- bzw. Auslieferungshaft auf Grundlage von § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO besteht.

Mit § 140 Abs. 1 Nr. 5 sollen die Nachteile kompensiert werden, die der Beschuldigte aufgrund eingeschränkter Freiheit und der damit einhergehenden eingeschränkten Möglichkeit, seine Verteidigung vorzubereiten, erleidet (MüKoStPO/Thomas/Kämpfer Rn. 19; SK-StPO/Wohlers Rn. 14). Unter Anstaltsunterbringung ist vorwiegend Straf- und Untersuchungshaft zu verstehen. Auch die im Ausland vollzogene Freiheitsentziehung ist erfasst (zutr. LG-Nürnberg-Fürth BeckRS 2021, 10321; s. auch OLG Koblenz NStZ 1984, 522). Es kann nämlich keinen Unterschied machen, ob die Verwahrung auf der Anordnung eines deutschen oder eines ausländischen Gerichts beruht. Wie bereits nach § 140 aF kommt es zudem nicht darauf an, in welchem Verfahren die Freiheitsentziehung angeordnet ist. Sofern Haft oder Unterbringung vollstreckt werden, ist die Verteidigung - grundsätzlich - in sämtlichen gegen den Beschuldigten geführten Strafverfahren notwendig (vgl. Böß NStZ 2020, 187; zur aF OLG Hamm StV 2014, 274; OLG Frankfurt a. M. NStZ-RR 2011, 19; LG Itzehoe NStZ 2011, 56; LG Köln StV 2011, 663; aM LG Dresden NJW-Spezial 2018, 474; AG Wuppertal NStZ 2011, 720; LG Saarbrücken StRR 2010, 308). Eine Beschränkung auf das Verfahren, in welchem die Haft vollstreckt wird, ist weder vom Wortlaut noch vom Sinn der Vorschrift gedeckt.

Die Vorschrift des § 140 StPO stellt sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar (vgl. KK, § 140 Rdnr. 1). Durch die Mitwirkung des Verteidigers soll im staatlichen Interesse an der Wahrheitsfindung der prozeßordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens sichergestellt werden. Dies setzt allerdings aber perse voraus, dass (überhaupt) ein Strafverfahren gegen Beschuldigten betrieben bzw. angestrebt wird. Vorliegend wurde das Ermittlungsverfahren mit staatsanwaltschaftlicher Verfügung vom 17.11.2022 (Bl. 77) wegen unbekannten Aufenthaltes gemäß § 154f StPO vorläufig eingestellt und trotz Festnahme des Beschuldigten in Italien bisher nicht wieder aufgenommen. Bei einer Auslieferung nach Deutschland droht dem Beschuldigten aufgrund des Spezialitätsgrundsatzes (Art. 14 EurAuslÜbk, § 83h Abs. 1 IRG) im vorliegenden Verfahren in Deutschland derzeit keine Strafverfolgung. Nach Mitteilung der Staatsanwaltschaft Leipzig vom 08.03.2023 wurde in vorliegender Sache nicht der Anschluss an den im durch sie unter dem Aktenzeichen 305 Js 6059/23 geführten Ermittlungsverfahren bestehenden Haftbefehls beantragt. Der Beschuldigte hat nach Aktenlage (bislang) keinen Verzicht auf die ihm aufgrund des Spezialitätsgrundsatzes zu gewährenden Besserstellung erklärt. Italien hat der Verfolgung wegen einer anderen, als der der Auslieferung zugrundeliegenden Taten nicht zugestimmt. Mithin ist zumindest derzeit die Mitwirkung eines Verteidigers zur Sicherstellung eines rechtsstaattlichen Verfahrensgangs weder angezeigt noch geboten.

3.

Im vorliegenden Verfahren liegt auch kein Fall der notwendigen Verteidigung auf Grundlage von § 140 Abs. 2 StPO vor.

Gemäß § 140 Abs. 2 StPO wird ein notwendiger Verteidiger nach pflichtgemäßen Ermessen bestellt, wenn a) wegen der Schwere der Tat oder b) wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder c) wenn ersichtlich ist, dass sich der Anschuldigte - oder hier der Beschuldigte - nicht selbst verteidigen kann.

a) Die Einschätzung des Amtsgerichts, die Schwere der Tat gebiete vorliegend die Bestellung eines notwendigen Verteidigers nicht, ist nicht zu beanstanden.

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge wurde durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 als eigenständiger Rechtsbegriff neu in den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StPO aufgenommen und entspricht inhaltlich der bisherigen Rechtsprechung, wonach sich die Schwere der Tat maßgeblich aus der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung ergibt.

Daraus folgt, dass die bis zur Gesetzesergänzung hierzu ergangene Judikatur weiterhin anwendbar ist. (vgl. Meyer – Goßner / Schmitt, 63. Aufl., Rnr. 23 zu § 140).

Daher gilt, nicht schon jede zu erwartende Freiheitsstrafe, sondern erst eine Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe, sollte in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers geben (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 64. Auflage, Rnr. 23a zu § 140 m. w. N.).

Eine Strafe in dieser Höhe wird nach derzeitiger Bewertung der Kammer gegen den Beschuldigten - im Fall der Erweislichkeit der Tatvorwürfe - im Verurteilungsfalle keinesfalls verhängt werden. Zwar sieht der Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung gem. § 224 Abs. 1 StGB sieht im Grundtatbestand einen Strafrahmen von 6 Monaten Freiheitsstrafe bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe vor. Angesichts der Gesamtumstände des Falles, insbesondere auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die vermeintliche Straftat -- so sie denn bewiesen werden sollte -- für den Geschädigten nur sehr kurzfristige und keine bleibenden körperlichen Beeinträchtigungen zur Folge hatte und unter Beachtung der aus dem beigezogenen Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 06.02.2023 ergebenden Nichtvorbestraftheit des Beschuldigten, ist vorliegend für die angeklagten Taten im Verurteilungsfall eine Straferwartung nur am unteren Rand des Strafrahmens erwartbar. Es ist daher davon auszugehen, dass die Jahresgrenze wegen des nunmehrigen Tatvorwurfes -- im Verurteilungsfall -- keinesfalls erreicht wird.

Die "Schwere der Tat" kann sich aber auch aus den sonstigen Auswirkungen der verhängten Sanktionen auf das Leben der Beschuldigten ergeben, wenn diese Auswirkungen erheblich sind, wobei maßgeblich auf die Interessenlage des Beschuldigten abzustellen ist. Daher kann auch bei einer Verurteilung zu weniger als 1 Jahr Freiheitsstrafe die Beiordnung eines Verteidigers geboten sein, wenn als Folge dieser Verurteilung der Widerruf einer Strafaussetzung in anderer Sache droht, insbesondere wenn dieser Widerruf davon abhängt, ob bei der neuerlichen Verurteilung die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird oder nicht und die Summe der im neuen Strafverfahren zu erwartenden Freiheitsstrafe und der von einem möglichen Widerruf der Strafaussetzung betroffenen Strafe 1 Jahr erreicht oder darüber liegt (vgl. OLG Dresden, Urteil vom 01.07.2005, Az.: 2 Ss 173/05). Eine derartige Straferwartung ist vorliegend jedoch nicht begründet, da ein Bewährungswiderruf aufgrund der Nichtvorbestraftheit des Beschuldigten nicht in Betracht kommt und auch die Voraussetzungen der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe mangels entsprechender weiterer Verurteilungen des Beschuldigten -- jedenfalls derzeit -- nicht vorliegen.

Dabei war auch beachtlich, dass bislang keine Verbindung des vorliegenden Verfahrens mit einem weiteren Strafverfahren vorliegt. Sollten sich diese Prämissen im Laufe der Zeit ändern, wird das Amtsgericht die Frage einer Verteidigerbestellung u.U. neu zu entscheiden haben.

b) Eine die Bestellung eines notwendigen Verteidigers erforderlich machende besondere Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage ist nicht ersichtlich.

aa) Eine schwierige Rechtslage ist nur dann gegeben, wenn bei Anwendung des formellen oder materiellen Rechts auf den konkreten Sachverhalt bislang nicht ausgetragene Rechtsfragen entschieden werden müssen oder wenn sich bei der Subsumtion problematische Abgrenzungsfragen stellen. Dies ist bei dem vorliegend im Raum stehenden Tatvorwurf der gefährlichen Körperverletzung gem. § 224 Abs. 1 StGB nicht der Fall.

Der Auffassung des Beschwerdeführers, die Rechtslage sei bereits wegen der aufgeworfenen Fragen zur Reichweite des Spezialitätsgrundsatzes als schwierig anzusehen, vermag nicht zu überzeugen, da momentan das vorliegende Verfahren durch die Staatsanwaltschaft gar nicht betrieben wird. Es anderes würde wohl nur gelten, wenn die Staatsanwaltschaft vom Nichtvorliegen eines Verfahrenshindernisses zuungsten des Beschuldigten ausgehen würde.

Ebenfalls verfängt der Verweis des Beschwerdeführers auf den Beschluss des OLG Frankfurt a.M., vom 31. 3. 2009 - 3 Ws 271/09 - (NStZ-RR 2009, 207) nicht. Bei der Entscheidung ging es um die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in einer Aussage-gegen Aussage-Konstellation, die aber im vorliegenden Verfahren nicht vorliegt. Würde die Argumentation, dass eine Beiordnung bereits deshalb geboten ist, weil nur der Strafverteidiger Akteneinsicht und so den Akteninhalt zur Kenntnis nehmen kann, zutreffen, müsste jeder sich anzeigende Verteidiger als Pflichtverteidiger beigeordnet werden, sofern dies beantragt wird. Dem steht aber das Mündlichkeitsprinzip und der Unmittelbarkeitsgrundsatz entgegen. Der - bloße - Akteninhalt ist - grundsätzlich - unerheblich für die Überzeugungsbildung eines Gerichts im Rahmen der Urteilsfindung, § 261 StPO.

bb) Die Sachlage ist schwierig, wenn die Feststellung zur Täterschaft eine umfangreiche, voraussichtlich länger dauernde Beweisaufnahme erfordern (vgl. Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, 64. Auflage, Rnr. 27 zu § 140; auch Karlsruher Kommentar, StPO, § 140 Rnr. 22).

Von einer schwierigen Sachlage ist im vorliegenden Verfahren nicht auszugehen. Selbst wenn - nach Anklageerhebung - das Gericht in der anzuberaumenden Hauptverhandlung mehrere Zeugen vernehmen müsste, ist nicht zu besorgen, dass der Beschuldigte im Rahmen der Beweisaufnahme hinsichtlich der Tatvorwürfe mit unübersichtlich vielen unterschiedlichen Aussageversionen konfrontiert werden wird und dadurch überfordert werden könnte.

Insoweit ist auch der nur geringe Umfang der Akte von nur ca. 100 Blatt unerheblich, da sich hieraus keine besondere Schwierigkeit ableiten lässt; zumal sich in der Akte auch eine umfangreiche Lichtbildmappe und eine Vielzahl von Kopien von Originaldokumenten, wie schriftlichen Vorladungen u. a., also für die relevante materielle Entscheidung unerhebliche Schriftstücke, befinden.

Durch den konkret bezeichneten Tatvorwurf wird dem Beschuldigten daher ausreichend Gelegenheit gegeben, sein Prozessverhalten auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe einzustellen bzw. sich auf eine - im Falle der Anklageerhebung - stattfindende Hauptverhandlung genügend vorbereiten zu können.

c) Schließlich kann eine schwierige Sachlage auch vorliegen, wenn die Schuldfähigkeit des Beschuldigten zu beurteilen ist (Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, 64. Auflage, Rnr. 27 zu § 140). Für eine solche Notwendigkeit sind der Verfahrensakte jedoch keine Anhaltspunkte zu entnehmen.

Anhaltspunkte dafür, dass der Beschuldigte nicht in der Lage wäre, sich selbst zu verteidigen, liegen ebenfalls nicht vor.

Die Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten richtet sich nach seinen geistigen Fähigkeiten, seinem Gesundheitszustand und nach den sonstigen Umständen des Falles. Eine Bestellung kommt zum Beispiel in Betracht bei jugendlichem Alter oder wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht. Eine Beiordnung eines notwendigen Verteidigers ist dabei auch schon zu prüfen, wenn an der Frage zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen, z. B. wenn der Beschuldigte seelisch abartig ist, sein Prozessverhalten unverständlich und für ihn nachteilig ist oder er die prozessuale Situation verkennt (Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, 64. Auflage, Rnr. 30 zu § 140).

Im vorliegenden Verfahren bestehen bisher keine erheblichen Zweifel an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung des Beschuldigten, da bislang sowohl derzeit, als auch tatzeitbezogen, keine Anhaltspunkte für eine seelische Abartigkeit des Beschuldigten ersichtlich sind.

Auch ist weder das Prozessverhalten des Beschuldigten unverständlich und für ihn nachteilig, noch hat das Gericht Anhaltspunkte dafür, dass er die prozessuale Situation verkennt. Hinsichtlich des Prozessverhaltens ist jedenfalls festzustellen, dass der Beschuldigte rechtzeitig einen Rechtsanwalt mit seiner Verteidigung beauftragt hat.

Bei ihrer Bewertung hat die Kammer auch nicht übersehen, dass es sich bei dem Beschuldigten um einen Ausländer handelt. Bei sprachbedingten Verständigungsschwierigkeiten eines Ausländers ist zwar die Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO zu prüfen. Jedoch ist eine auf Grundlage dieser Vorschrift zu erfolgende Pflichtverteidigerbestellung allein aufgrund von Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten bei einem der deutschen Sprache nicht mächtigen Ausländer nicht zwingend. Denn Art. 6 Abs. 3 e EMRK gewährt dem der Gerichtssprache nicht kundigen Beschuldigten für das gesamte Ermittlungs- und Strafverfahren und auch für vorbereitende Gespräche mit einem Verteidiger einen Anspruch auf unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers ein. Insofern kann den Rechten des Beschuldigten durch die Vorschrift des § 187i GVG hinreichend Rechnung getragen werden.

Nach alledem war jedenfalls derzeit der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers als unbegründet zurückzuweisen.

Etwas anderes würde nur für den Fall gelten, dass sich wesentliche Bedingungen der Entscheidung der Beschwerdekammer, wie eine Änderung der Straferwartung auf Freiheitsstrafe von über 1 Jahr oder der Verzicht des Beschuldigten auf die Restriktionen des Spezialitätsgrundsatzes, ändern würden. In diesen Fällen wäre über eine Beiordnung eines notwendigen Verteidigers (erstinstanzlich) neu zu entscheiden. Für die Annahme derartiger Änderungen besteht jedoch derzeit kein Anlass.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.


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