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Entscheidungen

Haftfragen

U-Haft, Beschleunigungsgrundsatz, laufende Hauptverhandlung., Vorbereitung der Hauptverhandlung, Terminschwierigkeiten

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Brandenburg, Beschl. v. 05.04.2023 - 1 Ws 34/23 (S)

Leitsatz:

1. Zur Beachtung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen während laufender Hauptverhandlung
2. In umfangreicheren Haftsachen im Ergebnis haben eine effiziente Verfahrensplanung in ausreichendem Umfang Hauptverhandlungstage statt zu finden. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot regelmäßig vorliegt, wenn nicht mindestens an einem Tag in der Woche beziehungsweise an weniger als vier Tagen im Monat verhandelt wird.
3. Zwar ist grundsätzlich auch die Verteidigung gehalten, in ihrer Terminplanung ausreichenden Raum für die Wahrnehmung der Hauptverhandlung der Mandanten zu belassen. Von den Verteidigern kann jedoch nicht erwartet werden, dass sie sich mehrere Fortsetzungstermine freihalten, wenn die Fortsetzungstermine durch eine mangelnde Vorbereitung der Hauptverhandlung notwendig geworden sind.


1 Ws 34/23 (S)

Brandenburgisches Oberlandesgericht

Beschluss

In dem Strafverfahren

gegen pp.

Verteidiger: pp.

wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln

hier; Haftbeschwerde des Angeklagten pp.

hat das Brandenburgische Oberlandesgericht - 1. Strafsenat - durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht pp., den Richter am Oberlandesgericht pp. und den Richter am Landgericht pp. am 5. April 2023 beschlossen:

Auf die Beschwerde des Angeklagten pp. werden der Haftbefehl des Amtsgerichts Potsdam vom 17. Mai 2022 (78 Gs 633/22), neu gefasst durch den Haftbefehl der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam vom 7. November 2022, und die aufgrund der vorgenannten Entscheidungen ergangenen Haftfortdauerbeschlüsse aufgehoben.
Der Angeklagte pp. ist unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten pp. darin entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.

Gründe:

I. Der Angeklagte pp. wendet sich mit seiner bei Gericht am 3. März 2023 eingegangenen Haftbeschwerde (Verteidigerschriftsatz vom 28. Februar 2023) gegen den Haftbefehl der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam vom 7. November 2022 (24 KLs 10/22), mit dem der voraufgegangene Haftbefehl des Amtsgerichts Potsdam vom 17. Mai 2022 (78 Gs 633/22) ersetzt wurde. Der Beschwerdeführer befindet sich seit nunmehr zehn Monaten und zwei Wochen ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Dem eingelegten Rechtsmittel liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

1. Das Amtsgericht Potsdam hat am 17. Mai 2022 (78 Gs 633/22) gegen den am 16. Mai 2022 vorläufig festgenommenen Angeklagten pp. wegen gemeinschaftlich begangenen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, 25 Abs. 2 StGB) Haftbefehl erlassen, infolge dessen er am 17. Mai 2022 in die Untersuchungshaft überführt wurde; zurzeit befindet sich der Angeklagte in der Justizvollzugsanstalt Nord-Brandenburg, Teilanstalt Wriezen.

Mit dem Haftbefehl des Amtsgerichts Potsdam vom 17. Mai 2022 wurde dem Angeklagter pp. vorgeworfen, er habe sich gemeinsam mit dem Mitangeklagten pp. am 16. Mai 2022 gegen 15:30 Uhr zu einem an der Coswigstraße 5 in Berlin geparkten, aus Spanien kommenden Kleintransporter der Marke Mercedes Sprinter (amtliches Kennzeichen: pp.) begeben und diesen mit seinem - von pp. geführten - Pkw Nissan Micra (amtliches Kennzeichen: pp.) zu dem Gewerbegrundstück in der pp. gelotst. Dort hätten sie gemeinsam mit den unbekannt gebliebenen Lieferanten unter freiem Himmel zwei Paletten entladen, auf denen sich, von einer Tarnladung Acrylglas umhüllt, insgesamt 68 kg Marihuana befunden hätten. Anschließend habe sich der Mitangeklagte pp. mit dem Nissan Micra entfernt und die Mitangeklagten pp. und pp. zu dem Gewerbegrundstück gelotst, damit jene das Marihuana zwecks gewinnbringender Weiterveräußerung dort abholen. Alle vier Angeklagten hätten aufgrund vorab getroffener Absprachen gehandelt und seien nicht im Besitz einer Erlaubnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte für den Erwerb von Betäubungsmitteln.

Die vier Angeklagten seien der ihnen vorgeworfenen Tat dringend verdächtig aufgrund der Angaben der Zeugen Kriminalkommissar pp., Zollamtmann pp., Zolloberamtsrat pp., Zollinspektorin pp., Zolloberinspektor pp. sowie aufgrund der Auffindesituation bezüglich der Betäubungsmittel bei ihrer vorläufigen Festnahme.

Das Amtsgericht Potsdam hat den Haftbefehl vom 17. Mai 2022 auf den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) gestützt.

Unter dem Datum des 23. September 2022 hat die Staatsanwaltschaft Potsdam gegen den Angeklagten und hiesigen Beschwerdeführer pp. sowie gegen die Mitangeklagten pp. und pp. Anklage vor der großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam erhoben.

Darin wird dem Angeklagten pp. abweichend vom Haftbefehl des Amtsgerichts Potsdam vom 17. Mai 2022 vorgeworfen, ein bewaffnetes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG) begangen zu haben, indem er neben den (netto) 60,017 Kilogramm Marihuana mit einer Wirkstoffmenge von 9,215 Kilogramm THC aus dem Lieferwagen zeitgleich auch weitere 217,25 Gramm Marihuana mit einer Wirkstoffmenge von 35,83 Gramm THC in seiner Wohnung in Berlin aufbewahrt habe mit dem Ziel, es gewinnbringend weiterzuverkaufen. In unmittelbarer Nähe zu den im Kinderzimmer der Wohnung in einem Schrank befindlichen Betäubungsmitteln habe er einen Baseballschläger und eine Machete in weiteren Schränken in demselben Zimmer aufbewahrt.

Wegen der dem Angeklagten pp. vorgeworfenen Tat und der zugehörigen Einzelheiten wird im Übrigen auf die Anklageschrift vom 23. September 2022 verwiesen.

Nach Eingang der Akten bei dem Landgericht Potsdam und Zuweisung der Sache im Turnusverfahren an die 4. große Strafkammer hat die Kammervorsitzende am 30. September 2022 die Zustellung der Anklageschrift an die Angeklagten und ihre Verteidiger unter Einräumung einer Stellungnahmefrist von zwei Wochen verfügt. Am 27. Oktober 2022 hat die Vorsitzende den Verteidigern mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, in der kommenden Woche über die Eröffnung des Verfahrens zu entscheiden und im Fall der Eröffnung Hauptverhandlungstage zu bestimmen. Die Vorsitzende hat die Verteidiger gebeten mitzuteilen, an welchen Sitzungstagen der Kammer (Dienstag, Mittwoch, Freitag) im Dezember 2022 und Januar 2023 sie verfügbar seien. Die Terminabsprache hat sich allerdings im Folgenden schwierig gestaltet.

Mit Beschluss vom 07. November 2022 hat die 4. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam die Anklage der Staatsanwaltschaft Potsdam unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet.

Mit Beschluss vom selben Tag hat die 4. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam den Haftbefehl des Amtsgerichts Potsdam vom 17. Mai 2022 aufgehoben und einen neuen Haftbefehl gegen den Angeklagten pp. mit dem Vorwurf aus der Anklageschrift vom 23. September 2022 erlassen und diesen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) gestützt.

Der neue Haftbefehl ist dem Angeklagten pp. am 15. November 2022 verkündet worden. In einem Vermerk ebenfalls vom 7. November 2022 hat die Vorsitzende dargelegt, dass die Kammer bis Ende November mit Verhandlungen ausgelastet und eine Terminierung ab der 49. Kalenderwoche geplant sei. Die Akten sind dem Brandenburgischen Oberlandesgericht über die Generalstaatsanwaltschaft zur Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft gemäß §§ 121, 122 StPO am 11. November 2022 vorgelegt worden.

Am 14. November 2022 hat die Gemeinsame Ermittlungsgruppe Rauschgift der Staatsanwaltschaft Potsdam mitgeteilt, dass die polnischen Ermittlungsbehörden den Nutzer des aus Spanien kommenden Lieferfahrzeuges Mercedes Sprinter (amtliches Kennzeichen: pp.) für den Tatzeitraum identifizieren konnten und es sich dabei um den in Polen amtlich gemeldeten ukrainischen Staatsangehörigen pp. handelt.

Mit Schreiben vom 16. November 2022 hat die Kammervorsitzende dem Senat mitgeteilt, dass die Kammer nunmehr beabsichtige, mit der Hauptverhandlung ab dem 6. Februar 2023 zu beginnen, nachdem im Ergebnis der Terminabsprachen mit den Verteidigern ein Beginn der Hauptverhandlung im Dezember 2022 oder Januar 2023 nicht möglich sei.

Der Senat hat im Überprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO mit Beschluss vom 23. November 2022 (1 Ws 133/22) die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.

Mit Schreiben vom 29. November 2022 hat die Kammervorsitzende den Verteidigern der vier Angeklagten sieben Hauptverhandlungstage beginnend ab dem 13. Februar 2023 bis zum 14. März 2023 (Beginn jeweils 9:00 Uhr) verbindlich mitgeteilt und um entsprechende Reservierung der Termine seitens der Verteidiger gebeten.

Am 20. Dezember 2022 ist die richterliche Verfügung zur Ladung der Verfahrensbeteiligten für sechs Hauptverhandlungstermine erfolgt, und zwar für den 13., 22. und 28. Februar 2023 sowie den 6., 7. und 14. März 2023. Der Beginn der Hauptverhandlungstage wurde jeweils auf 9:00 Uhr festgesetzt. Nicht anberaumt wurde der ursprünglich für den 10. März 2023 avisierte Hauptverhandlungstermin, da die Kammer wegen einer zwischenzeitlich entstandenen anderweitigen Verpflichtung an diesem Tag nicht verhandeln konnte.

Am 21. Dezember 2022 ist der Zeuge pp. von der Kammervorsitzenden unter seiner Anschrift in Polen für den Hauptverhandlungstag am 22. Februar 2023 geladen worden.

Nachdem der Zeuge pp. am 18. Januar 2023 mitgeteilt hatte, dass er nicht erscheinen werde, ist von ihm das Einverständnis zu einer Videovernehmung eingeholt worden.

Unter dem 2. Januar 2023 hat die Gemeinsame Ermittlungsgruppe Rauschgift der Staatsanwaltschaft Potsdam den Auswertebericht der Digitalen Forensik des Zollfahndungsamts Berlin-Brandenburg bezüglich des iPHones 12 des Angeklagten pp. übermittelt.

Am 13. Februar 2023 hat die Hauptverhandlung von der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam begonnen und dauert gegenwärtig an.

Von den Verteidigern ist am ersten Hauptverhandlungstag beantragt worden, sämtliche Auswerteberichte hinsichtlich aller bei den Angeklagten beschlagnahmten Mobiltelefone beizuziehen und den Verteidigern zur Einsicht zu übersenden. Die Kammer hat daraufhin die für den 22. Februar 2023, 6. März 2023 und 7. März 2023 anberaumten Hauptverhandlungstermine aufgehoben sowie die Beiziehung der fehlenden Auswerteberichte veranlasst. In der Sitzung am 13. Februar 2023 sind dann nach Rücksprache mit den Verfahrensbeteiligten weitere Hauptverhandlungstermine für den 24. März 2023, 12. April 2023, 2. Mai 2023 und 16. Mai 2023 anberaumt worden.

Am 13. Februar 2023 ist zudem von der Kammer ein förmliches Rechtshilfeersuchen an die pp.polnischen Behörden zwecks Durchführung der Videovernehmung des Zeugen pp. gestellt worden.

Unter dem 20. Februar 2023 sind acht weitere Auswerteberichte bezüglich der beschlagnahmten Mobiltelefone von den Ermittlungsbehörden zur Akte gereicht worden. Diese Auswerteberichte sind den Verteidigern am 2. März 2023 auf Datenträgern zwecks Einsichtnahme zur Verfügung gestellt worden.

Mit Verfügung vom 24. Februar 2023 hat die Kammervorsitzende den Beginn des Hauptverhandlungstermins am 28. Februar von 9:00 Uhr auf 13:00 Uhr verlegt, weil der Kammer an diesem Tag erst nachmittags ein ausreichend großer Saal zur Verfügung gestanden hat.

Am 14. März 2023 und am 24. März 2023 hat die Hauptverhandlung planmäßig um 9:00 Uhr begonnen.

Am 24. März 2023 ist die Videovernehmung des Zeugen pp. durchgeführt worden. Die Verhandlung ist an diesem Tag auf den Vormittag beschränkt worden, da in einem anderen Verfahren der Kammer am Nachmittag verhandelt worden ist.

Die Hauptverhandlung dauerte am 13. Februar 2023 von 9:16 Uhr bis 12:15 Uhr, am 28. Februar von 13:14 Uhr bis 16:27 Uhr, am 14. März 2023 von 9:25 Uhr bis 14:22 Uhr und am 24. März 2023 von 9:00 Uhr bis 13:16 Uhr.

Mit Anwaltsschriftsatz vom 28. Februar 2023, eingegangen bei Gericht am 3. März 2023, hat der Angeklagte durch Rechtsanwalt pp. gegen den Haftbefehl des Landgerichts Potsdam vom 7. November 2022 (24 KLs 10/22) Haftbeschwerde erhoben und beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise den Haftbefehl gegen Auflagen außer Vollzug zu setzen.

Die 4. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam hat mit Verfügung des stellvertretenden Kammervorsitzenden vom 10. März 2023 der Haftbeschwerde nach Kammerberatung nicht abgeholfen und die Sache über die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg dem Senat zur Entscheidung vorgelegt, wo sie am 17. März 2023 eingegangen ist. Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat in ihrer Stellungnahme vom 15. März 2023 beantragt, die Haftbeschwerde des Angeklagten pp. als unbegründet zu verwerfen.

Der Angeklagte pp. hat mit Anwaltsschriftsatz vom 20. März zum Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Stellung genommen.

Auf schriftliche Nachfrage des Senats vom 22. März 2023 hat die Kammervorsitzende am 27. März 2023 mitgeteilt, dass die anberaumten Termine am 24. März 2023, 12. April 2023, 2. und 16. Mai 2023 die einzigen Tage gewesen seien, an denen alle Kammermitglieder und jeweils mindestens ein Verteidiger pro Angeklagten teilnehmen konnten. Neben der hohen anderweitigen Auslastung der Verteidiger habe auch Rücksicht auf den bereits gebuchten Auslandsurlaub einer Schöffin vom 17. April 2023 bis zum 30. April 2023 und auf eine Fortbildungsveranstaltung eines Richters in Trier vom 27. März bis zum 31. März 2023 Rücksicht genommen werden müssen.

II.

Die nach § 304 Abs. 1 StPO statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

1. Der Angeklagte pp. ist weiterhin der dem Haftbefehl der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam vom 7. November 2022 zugrunde liegenden Tat dringend verdächtig im Sinne von § 112 Abs. 1 StPO.

Der dringende Tatverdacht liegt weiterhin aufgrund der in der Anklageschrift vom 23. September 2022 aufgeführten Beweismittel vor. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Senats die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang durch das Beschwerdegericht überprüfbar ist. Allein das Tatgericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen, zu würdigen und auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme (vgl. nur Senatsbeschluss vom 25. März 2019, 1 Ws 44/19; BGH StV 1991, 525; OLG Karlsruhe, Justiz 2003, 475).

Das Beschwerdegericht kann nur dann in die Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das Tatgericht eingreifen und diese durch eine eigene Bewertung ersetzen, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Entscheidung fehlerhaft oder in tatsächlicher oder in rechtlicher Hinsicht nicht vertretbar ist (vgl. BGH StV 2004, 143; StV 1991, 525; OLG Karlsruhe a.a.O.; KG StV 2001, 689; KG StV 1993, 252; OLG Koblenz StV 1994, 316).

Ein solcher Fall liegt hier nicht vor; nach den oben aufgeführten Grundsätzen sind Anhaltspunkte, die gegen die Bejahung des dringenden Tatverdachts sprechen könnten, weder ersichtlich noch von der Beschwerde vorgetragen worden.

2. Ferner besteht hinsichtlich des Angeklagten pp. weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Da das Maß der Fluchtgefahr maßgeblich von der Straferwartung indiziert wird und diese gleichermaßen wie der dringende Tatverdacht vorliegend allein aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu beurteilen ist, ist der Senat in seiner Prüfungskompetenz insoweit ebenfalls auf die Frage beschränkt, ob die Bewertung der Fluchtgefahr auf die in der Hauptverhandlung gewonnenen Tatsachen gestützt ist und auf einer vertretbaren Bewertung des Beweisergebnisses beruht (vgl. OLG Karlsruhe a.a.O.; OLG Stuttgart Justiz 2003, 457).

Unter Berücksichtigung der dem Angeklagten pp. gemäß § 30a Abs. 1 Nr. 2 BtMG drohenden Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren begegnet die Annahme der fortbestehenden Fluchtgefahr keinen Bedenken. Auch bei Zugrundelegung einer bedingten Haftentlassung zum sogenannten 2/3-Termin ist unter Berücksichtigung der vollzogenen Untersuchungshaft noch mit einer verbleibenden erheblichen Strafhaft zu rechnen. Dem daraus resultierenden Fluchtanreiz stehen keine ausreichenden sozialen oder wirtschaftlichen Bindungen entgegen.

3. Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweist sich jedoch infolge vermeidbarer, dem Angeklagten nicht zuzurechnender Verfahrensverzögerungen nach dem Haftfortdauerbeschluss des Senats vom 23. November 2023, die in einer Gesamtschau des Verfahrens mit dem Recht des Angeklagten auf Beachtung des im rechtsstaatlichen Verfahren verankerten Beschleunigungsgebots nicht mehr vereinbar sind, als unverhältnismäßig.

a) Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer auch unabhängig von der Höhe der zu erwartenden Strafe Grenzen setzt und dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruches gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößert.

Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Bearbeitung einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu (vgl. BVerfG, a.a.O.; BVerfGE 36, 264, 270; KG Berlin, Beschluss vom 17. Januar 2018, 4 Ws 149/17, NStZ 2018, 426; OLG Köln, Beschluss vom 29. Februar 2016, 2 Ws 60/16, StV 2016, 445, jeweils m.w.N.).

Die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte müssen daher alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Beschuldigten nicht zu vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt sind. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft dienen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2014, 2 BvR 1457/14, zitiert nach juris, Rn. 21, 22).

Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann vor diesem Hintergrund niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Vielmehr kann die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt. Die Überlastung eines Gerichts fällt — anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse — in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 23).

Im Rahmen der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen; insofern sind in erster Linie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 24).

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe verkennt der Senat nicht, dass das Ermittlungsverfahren zügig geführt wurde. Die Anklageerhebung gut vier Monate nach der Inhaftierung des Angeklagten pp. ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Auch hat die - gerichtsbekannt hochbelastete - 4. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam das Verfahren zunächst angemessen gefördert.

c) Im Anschluss an den Haftfortdauerbeschluss des Senats vom 23. November 2022 kam es jedoch zu erheblichen Verfahrensverzögerungen, die der Justiz zuzurechnen und mit dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen nicht mehr vereinbar sind. Die Strafkammer hätte angesichts des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen für eine effiziente Verfahrensplanung und Durchführung der Hauptverhandlung Sorge tragen müssen.

aa) Eine in Anbetracht der bereits lang andauernden Untersuchungshaft des Angeklagten pp. erhebliche Verfahrensverzögerung ist bereits darin zu erkennen, dass das Landgericht Potsdam nicht schon am 29. November 2022 die mit den Verteidigern abgestimmten Termine für die Hauptverhandlung anberaumt und den Auslandszeugen geladen hat. Es war bereits zu diesem Zeitpunkt damit zu rechnen, dass dieser Zeuge möglicherweise nicht bereit ist, vor Gericht in Deutschland zu erscheinen und insoweit eine über ein Rechtshilfeersuchen zu realisierende Videovernehmung notwendig werden kann. Die durch das erst am 13. Februar 2023 gestellte Rechtshilfeersuchen eingetretene Verzögerung, die dazu geführt hat, dass der Zeuge pp. erst am 24. März 2023 vernommen werden konnte, wäre bei vorausschauender Planung der Hauptverhandlung zu vermeiden gewesen.

bb) Auch nach der richterlichen Verfügung zur Ladung der Verfahrensbeteiligten am 20. Dezember 2022 ist die Sache nicht mit dem gebotenen Nachdruck betrieben worden. Spätestens mit Eingang des Auswerteberichts der Digitalen Forensik des Zollfahndungsamts Berlin-Brandenburg bezüglich des iPhones 12 des Angeklagten pp. (Anfang Januar 2023 wäre es erforderlich gewesen, den Sachstand bezüglich der noch ausstehenden, ersichtlich für die Aufklärung relevanten Auswerteberichte zu erfragen. Gegebenenfalls wäre dafür Sorge zu tragen gewesen, dass die entsprechenden Berichte zumindest zu einem Zeitpunkt zur Verfügung gestanden hätten, der den Verteidigern noch vor Beginn der Hauptverhandlung eine entsprechende Akteneinsicht ermöglicht hätte.

Es ist vor diesem Hintergrund mit dem verfassungsrechtlich zu beachtenden Beschleunigungsgebot nicht vereinbar, dass die Hauptverhandlung nach gegenwärtigem Sachstand erst frühestens am 16. Mai 2023 beendet sein wird, mithin zu einem Zeitpunkt, an dem die Untersuchungshaft gegen den Angeklagten pp. bereits ein Jahr angedauert
hätte.

Die verfassungsrechtliche Rechtsprechung verlangt, dass in umfangreicheren Haftsachen im Ergebnis einer effizienten Verfahrensplanung in ausreichendem Umfang Hauptverhandlungstage stattfinden. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot regelmäßig vorliegt, wenn nicht mindestens an einem Tag in der Woche beziehungsweise an weniger als vier Tagen im Monat verhandelt wird (BVerfG, StV 2008, 198).

Bislang wurde vorliegend in einem Zeitraum von sieben Wochen lediglich an vier Hauptverhandlungstagen verhandelt. Hinzu kommt, dass die geringe Anzahl an Hauptverhandlungsterminen nicht dadurch ausgeglichen wird, dass an diesen Tagen besonders aufwändige Verhandlungen durchgeführt worden sind. Insgesamt ist 15 Stunden und 25 Minuten verhandelt worden, was eine Verhandlungsdauer von im Schnitt lediglich weniger als vier Stunden bedeutet. Die Ursachen für die kurze Dauer der Hauptverhandlungstermine liegen dabei vorwiegend in der Sphäre der Justiz, etwa die beschränkte Möglichkeit der Saalnutzung am 28. Februar 2023 oder die weitere durchzuführende Hauptverhandlung am 24. März 2023. Durch die tatsächliche Unterschreitung der ursprünglich geplanten Hauptverhandlungsdauer wird die vorstehend bereits für die Hauptverhandlungsplanung festgestellte Verfahrensverzögerung weiter vertieft.

Der Wegfall der Hauptverhandlungstermine vom 22. Februar 2023, 6. und 7. März 2023 beruht auf einem der Justiz anzulastenden Fehler. Entgegen der Auffassung der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam in der Nichtabhilfeentscheidung vom 10. März 2023 ist die Aufhebung der drei genannten Hauptverhandlungstermine nicht dem Verhalten der Verteidiger geschuldet, die lediglich ihr Recht auf vollständige Akteneinsicht geltend gemacht haben, sondern der oben geschilderten unzureichenden Vorbereitung der Hauptverhandlung seitens der Kammer.

Ferner stehen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch eine zu geringe Terminierungsdichte bevorstehende, aber schon deutlich absehbare Verfahrensverzögerungen bereits eingetretenen Verfahrensverzögerungen gleich (BVerfG, Beschluss vom 18.02.2020 — 2 BvR 2090/19BeckRS 2020, 2100).

Damit ist hier auch zu berücksichtigen, dass in den bevorstehenden sechs Wochen bis zum 16. Mai 2023 nur drei Hauptverhandlungstermine angesetzt sind (12. April 2023, 2. und 16. Mai 2023). Soweit die sicher zu erwartende — und somit auch weiterhin - sehr geringe Hauptverhandlungsdichte auf die Verhinderung der Verteidiger wegen anderweitiger pp. Verpflichtungen zurückzuführen ist, wird die Verantwortlichkeit der eintretenden Verfahrensverzögerung nicht maßgeblich in die Sphäre des Angeklagten pp. verlagert.

Zwar ist grundsätzlich auch die Verteidigung gehalten, in ihrer Terminplanung ausreichenden Raum für die Wahrnehmung der Hauptverhandlung der Mandanten zu belassen. Von den Verteidigern konnte vorliegend jedoch nicht erwartet werden, dass sie sich mehrere Fortsetzungstermine freihalten, da die Fortsetzungstermine durch eine mangelnde Vorbereitung der Hauptverhandlung notwendig geworden waren. Die geringe Terminierungsdichte ist hier nicht vorwiegend auf Verhinderungen der Verteidiger zurückzuführen, die nicht bei effizienter Planung der Hauptverhandlung weitgehend hätten vermieden werden können.

Die Strafkammer wäre im Übrigen bei der gegebenen Sachlage nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehalten gewesen, bei der Terminierung Flexibilität zu zeigen, etwa durch Verschiebung von Terminen in anderen Verfahren (BVerfG, Beschluss vom 18.02.2020 — 2 BvR 2090/19BeckRS 2020, 2100). Die in der Stellungnahme der Kammervorsitzenden vom 27. März 2023 erwähnte einwöchige Fortbildungsveranstaltung eines Richters konnte insofern nicht als Verhinderungsgrund seitens der Kammer berücksichtigt werden.

Dahinstehen kann in diesem Zusammenhang, welchen Einfluss der Auslandsurlaub der Schöffin auf die Terminierung der Fortsetzungstermine gehabt hat. Denn es ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar, dass die Strafkammer in der Zeit vom 13. Februar 2023 bis zum 16. Mai 2023 — mithin in einem Zeitraum von mehr als drei Monaten —nur an insgesamt sieben Tagen einen Hauptverhandlungstermin durchführt, wobei an den ersten vier Terminen die Dauer der Hauptverhandlung durchschnittlich nur weniger als vier Stunden betrug, und im Monat April 2023 lediglich an einem Tag Hauptverhandlung anberaumt ist.

Die eingetretenen und bevorstehenden Verzögerungen können nicht mit der dem Senat bekannten sehr hohen Belastung der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam gerechtfertigt werden. Die Überlastung der Strafkammer ist allein der Sphäre des Gerichts und nicht der des Angeklagten zuzurechnen. Der hohe Geschäftsanfall ist nicht unvorhersehbar kurzfristig eingetreten und nur von vorübergehender Dauer. Die Sicherstellung einer beschleunigten Bearbeitung von Haftsachen hätte rechtzeitig durch geeignete gerichtsorganisatorische Maßnahmen der Justiz erfolgen müssen.

In der Gesamtschau liegt ein erheblicher Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor, bei dem — wie oben dargelegt — allein die Schwere der Taten und die sich daraus ergebende Straferwartung nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft dienen können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2014, 2 BvR 1457/14,

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1, 2 StPO.


Einsender: RA M. Rakow, Rostock

Anmerkung:


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