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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Strafvollstreckungsverfahren, Gefährlichkeit des Verurteilten, Intelligenzminderung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Bremen, Beschl. v. 03.03.2023 - 80 StVK 658/22 (210 Js 28196/17)

Eigener Leitsatz:

Liegt bei dem Verurteilten eine leichte Intelligenzminderung vor und ist ein Sachverständigengutachten zur Gefährlichkeit des Verurteilten erstattet, ist ihm im Strafvollstreckungsverfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen.


LG Bremen

Beschluss vom 03.03.2023

80 StVK 658/22 (210 Js 28196/17)

In der Strafvollstreckungssache
gegen pp.

wird dem Verurteilten auf seinen Antrag Herr Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.

Gründe

Mit Urteil des Landgerichts Bremen vom 12.02.2018 (Az.: 21 Ks 210 Js 28196/17 (7/17)) wurde der Verurteilte, der im Jahr 2015 nach Deutschland kam, wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und acht Monaten verurteilt, die er zurzeit verbüßt. Das Urteil ist seit dem 15.08.2018 rechtskräftig. Der Verurteilte wurde am 02.05.2017 vorläufig festgenommen und befand sich ab dem 03.05.2017 in Untersuchungshaft.

Der Zweidrittelzeitpunkt wurde am 10.10.2021 erreicht. Das endgültige Strafende ist auf den 31.12.2023 notiert. Der Verurteilte wurde bereits am 23.08.2021 und am 19.05.2022 zu einer möglichen Aussetzung des Strafrests zur Bewährung angehört. Mit Beschluss vom selben Tag wurde die Aussetzung des Strafrests zur Bewährung jeweils abgelehnt.

In seinem Beschluss vom 19.05.2022 hat das Gericht insbesondere auf die Ausführungen der Sachverständigen abgestellt. Diese hatte ausgeführt, dass bei dem Verurteilten eine Intelligenzminderung mit einer Verhaltensstörung vorliege. Vor einer Bewährungsentlassung sei eine intensive einzeltherapeutische Maßnahme und eine dem 1. Arbeitsmarkt ähnliche Arbeit, besser noch eine tatsächliche Arbeitserprobung auf dem 1. Arbeitsmarkt aus der Haft heraus durchzuführen, um den Verurteilten an Struktur und Rhythmus zu gewöhnen. Es solle binnen eines überschaubaren Zeitraums von sechs Monaten eine Bewährungsentlassung vorbereitet werden. Auch stellte das Gericht darauf ab, dass gegen den Verurteilten drei offene Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Bremen und vier offene Ermittlungsverfahren bei der Polizei Bremen vorlägen. Die Kammer folgte aber der Ansicht der Sachverständigen, dass der Verurteilte bislang von der Haft profitiert hat und dort nachgereift sei, und führte aus, dass es wünschenswert wäre, wenn der Verurteilte in den kommenden Monaten durch einzeltherapeutische Maßnahmen und Arbeitserprobungen auf eine bewährungsweise Entlassung vorbereitet werden würde.

Lockerungen wurden dem Verurteilten auch in der Folge zunächst nicht gewährt.

Die Gutachterin führte in ihrem sodann eingeholten Ergänzungsgutachten vom 28.12.2022 aus, dass sich der Verurteilte im Vergleich zur Begutachtung ca. 9 Monate zuvor deutlich stabilisiert habe. Er habe von den therapeutischen Maßnahmen profitiert und zeige sich zunehmend leistungsbereit und frustrationstoleranter. Zusammenfassend habe sich die Verhaltensstörung mittlerweile gut zurückgebildet, sodass die aktuelle Diagnose nur noch eine leichte Intelligenzminderung (ICD-10: F70.1) sein dürfte. Die Gutachterin führte nunmehr aus, dass der Verurteilte dringend Ausgänge zur Akquise einer Arbeitsstelle erhalten solle um sich möglichst zeitnah zu erproben. Falls dieses gelungen sei, sei eine Bewährungsentlassung zu befürworten. Herr pp. habe insgesamt sehr von seiner Haft profitiert. Er könne mittlerweile als in Deutschland gut sozialisiert betrachtet werden. Das Risiko einer erneuten schweren Körperverletzung sei aufgrund der Persönlichkeitsentwicklung und der Abstinenzfähigkeit des Probanden als deutlich unter dem statistischen Mittel anzusiedeln zu betrachten.

Der Verurteilte wurde durch das Gericht am 01.02.2023 erneut mündlich angehört, nachdem er wiederrum die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung beantragt hatte.

Die Anhörung wurde unterbrochen soll am 03.03.2023 fortgesetzt werden. Der Justizvollzugsanstalt wurde durch das Gericht aufgetragen, dem Verurteilten Lockerungen zu gewähren und bis zum 03.03.2023 mit dem Verurteilten möglichst viele begleitete und unbegleitete Ausgänge durchzuführen.

Im Vollstreckungsverfahren ist in entsprechender Anwendung des § 140 Absatz 2 Satz 1 StPO dem Verurteilten ein Verteidiger oder eine Verteidigerin zu bestellen, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig oder sonst ersichtlich ist, dass sich der Verurteilte nicht selbst verteidigen kann. In diesen Verfahren besteht in weitaus geringerem Maße als in dem kontradiktorisch ausgestalteten Erkenntnisverfahren ein Bedürfnis nach einer Mitwirkung eines Verteidigers auf Seiten des Verurteilten. Im Vollstreckungsverfahren sind die drei abschließend genannten Merkmale des § 140 Absatz 2 StPO einschränkend zu beurteilen. Die Schwierigkeit beurteilt sich nicht nach den Verhältnissen im Erkenntnisverfahren; denn der Verurteilte muss sich nicht gegen einen Tatvorwurf verteidigen. Das Vollstreckungsgericht ist an die rechtskräftigen Feststellungen des Tatrichters in dem Urteil gebunden, dessen Vollstreckung den Gegenstand des Verfahrens bildet. Für das Vollstreckungsverfahren ist allein maßgebend, ob die vollstreckungsrechtliche Lage schwierig ist. Eine Beiordnung begründen können nur besondere Schwierigkeiten der Sach- oder der Rechtslage, durchschnittliche Fragestellungen, die in den Vollstreckungsverfahren regelmäßig anstehen, genügen nicht (vgl. Hans OLG Bremen — Beschluss vom 30.05.2022 — 1 Ws 46/22).

Grundsätzlich handelt es sich zwar bei der vorliegend im Raum stehenden vorzeitigen Haftentlassung nach § 57 StGB um eine durchschnittliche Fragestellung. Allerdings war hier zum einen berücksichtigen, dass dem Verurteilten, bei dem nach dem in dieser Sache eingeholten Gutachten eine (leichte) Intelligenzminderung vorliegt, die eigenständige Verteidigung besonders schwerfällt. Zum anderen war zu beachten, dass bereits in dem ersten Gutachten der Sachverständigen vom 24.03.2022 ausgeführt wurde, aus Sicht der Sachverständigen sei der Verurteilte in einem überschaubaren Zeitraum von 6 Monaten auf eine Bewährungsentlassung vorzubereiten. Entsprechend führte das Gericht in seinem Beschluss vom 19.05.2022 aus, dass es wünschenswert wäre, wenn der Verurteilte in den kommenden Monaten durch einzeltherapeutische Maßnahmen und Arbeitserprobungen auf eine bewährungsweise Entlassung vorbereitet werden würde. Dem kam die Justizvollzugsanstalt Bremen nicht nach, sodass auch zum Zeitpunkt des eingeholten ergänzenden Gutachtens vom 28.12.2022 keine Lockerungen durchgeführt worden. Die Anhörung vom 01.02.2023 wurde sodann ausgesetzt, um durch die Gewährung von Lockerungen eine Aussetzungsentscheidung zu ermöglichen. Diese Konstellation stellt zur Überzeugung des Gerichts eine besonders schwierige Sachlage dar, sodass dem Verurteilten ein Pflichtverteidiger in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO zur Seite zu stellen war.


Einsender: RA C. Antpöhler, Bremen

Anmerkung:


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