Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Stuttgart, Beschl. v. 01.02.2023 – 4 Ws 20/23
Eigener Leitsatz:
1. Die mit dem Eröffnungsbeschluss ergangene Entscheidung der großen Strafkammer über die in der Hauptverhandlung reduzierte Besetzung gemäß § 76 Abs. 2 GVG ist nicht selbständig mit der Beschwerde anfechtbar.
2. Zu den formellen Anforderungen an den Besetzungseinwand.
3. Zur Besetzung der großen Strafkammer mit einem dritten Richter.
In pp.
Die Beschwerde des Angeklagten gegen die im Beschluss des Landgerichts - 1. Große Strafkammer - Tübingen vom 5. Januar 2023 getroffene Entscheidung über die Besetzung der Strafkammer in der Hauptverhandlung wird als unzulässig
verworfen.
Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels.
Gründe
I.
Am 2. Juni 2022 hat die Staatsanwaltschaft Tübingen gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfs der schweren räuberischen Erpressung gemäß §§ 253, 255, 249, 250 Abs. 2 Nr. 1b) StGB Anklage zum Landgericht Tübingen erhoben. Mit Beschluss vom 5. Januar 2023 hat die 1. Große Strafkammer des Landgerichts Tübingen diese Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen, gegen den Angeklagten das Hauptverfahren eröffnet und Haftfortdauer angeordnet. Im selben Beschluss hat das Landgericht bestimmt, dass die 1. Große Strafkammer in der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen besetzt sein wird. Gegen diese Besetzungsentscheidung wendet sich der Angeklagte mit seiner mit Verteidigerschriftsatz vom 20. Januar 2023 eingelegten Beschwerde mit der Begründung, der Umfang des Verfahrens gebiete eine Besetzung mit drei Berufsrichtern.
II.
1. Die Beschwerde des Angeklagten ist unzulässig.
a) Die Entscheidung über die in der Hauptverhandlung reduzierte Besetzung ist nicht selbständig mit der Beschwerde anfechtbar (BGH, Urteil vom 23. Dezember 1998 - 3 StR 343/98, juris Rn. 8; OLG Bremen, Beschluss vom 27. April 1993 - Ws 46 - 47/93, StV 1993, 350 - 351; Siolek in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 76 GVG Rn. 8; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 76 GVG Rn. 8a), wobei offen bleiben kann, ob sich die Unanfechtbarkeit im Wege der Beschwerde daraus ergibt, dass der Beschluss über die Gerichtsbesetzung Teil des Eröffnungsbeschlusses ist und an dessen Unanfechtbarkeit für den Angeklagten gemäß § 210 Abs. 1 StPO teilnimmt oder dass es sich bei der Entscheidung über die Gerichtsbesetzung um eine nicht der Beschwerde unterliegende der Urteilsfällung vorausgehende Entscheidung nach § 305 StPO handelt (vgl. zum Meinungsstand Siolek in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 76 GVG Rn. 8).
b) Eine Auslegung als Besetzungseinwand gemäß § 222b StPO, der für den Einwand gegen die Gerichtsbesetzung mit zwei Berufsrichtern einschließlich des Vorsitzenden entweder in direkter (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 1999 - 4 StR 657/98, BGHSt 44, 361 - 368; OLG Hamm, Beschluss vom 27. Januar 2014 - III-1 Ws 50/14, juris Rn. 21) oder entsprechender (vgl. BGH, Urteil vom 23. Dezember 1998 - 3 StR 343/98, juris Rn. 11; OLG Dresden, Beschluss vom 28. Oktober 2021 - 3 Ws 95/21, BeckRS 2021, 40826 Rn. 10) Anwendung des § 222b Abs. 1 StPO der statthafte Rechtsbehelf wäre, ist angesichts der ausdrücklichen Bezeichnung des Rechtsmittels als „Beschwerde entsprechend § 304 StPO“ durch den Verteidiger des Angeklagten, der Fachanwalt für Strafrecht ist, nicht möglich. Der Schriftsatz würde außerdem in formeller Hinsicht nicht den an ihn nach § 222b Abs. 1 Satz 2 StPO zu stellenden Anforderungen genügen, wonach die Tatsachen, aus denen sich die Vorschriftswidrigkeit der Besetzung ergeben soll, anzugeben sind. Entsprechend einer Rüge der Gerichtsbesetzung im Revisionsverfahren gemäß § 344 Abs. 2 StPO erfordert der Besetzungseinwand eine geschlossene und vollständige Darstellung der Verfahrenstatsachen (Gmel in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 9. Aufl., § 222b Rn. 8). Alle einen behaupteten Besetzungsfehler begründenden Tatsachen müssen aus sich heraus, also ohne Bezugnahmen und Verweisungen auf andere Schriftstücke, insbesondere Anlagen, Aktenbestandteile oder Schriftsätze anderer Verfahrensbeteiligten, so konkret und vollständig innerhalb der Wochenfrist des § 222b Abs. 1 Satz 1 StPO vorgebracht werden, dass eine abschließende Prüfung durch das nach § 222b Abs. 3 Satz 1 StPO zuständige Rechtsmittelgericht ermöglicht wird (KG Berlin, Beschluss vom 1. März 2021 - 4 Ws 14/21, juris Rn. 7; OLG Celle, Beschluss vom 27. Januar 2020 - 3 Ws 21/20, juris Rn. 5; OLG München, Beschluss vom 12. Februar 2020 - 2 Ws 138/20, juris Rn. 15). Hierzu zählt auch, dass Umstände, die geeignet sein könnten, die vom Gericht beschlossene Besetzung zu begründen, nicht verschwiegen werden dürfen (OLG Celle aaO). Diesen Anforderungen genügt das Beschwerdeschreiben bereits deshalb nicht, weil es den für die Berechnung der Frist des § 222b Abs. 1 Satz 1 StPO maßgeblichen Zustellungszeitpunkt des Beschlusses des Landgerichts Tübingen vom 5. Januar 2023 verschweigt.
2. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Einwand auch in der Sache nicht durchgreifen würde. Es liegt kein Fall des § 76 Abs. 2 Satz 3 GVG vor, insbesondere erscheint weder nach dem Umfang noch der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters erforderlich (§ 76 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 GVG). Nach § 76 GVG ist die Besetzung einer großen Strafkammer mit zwei Berufsrichtern die Regel, diejenige mit drei Berufsrichtern die Ausnahme (BGH, Urteil vom 23. Dezember 1998 - 3 StR 343/98, juris Rn. 7; Schuster in Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl., GVG § 76 Rn. 4). Zwar steht der das Hauptverfahren eröffnenden Strafkammer nach § 76 Abs. 2 GVG bei der Entscheidung über ihre Besetzung in der Hauptverhandlung kein Ermessen zu. Die Dreierbesetzung ist zu beschließen, wenn dies nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache notwendig erscheint. Bei der Auslegung dieser gesetzlichen Merkmale ist der Strafkammer indes ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt, bei dessen Ausfüllung die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (BGH, Beschluss vom 14. August 2003 - 3 StR 199/03, juris Rn. 8; Diemer in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 9. Aufl., GVG § 76 Rn. 3). Bedeutsam für den Umfang der Sache sind etwa die Zahl der Angeklagten, Verteidiger und erforderlichen Dolmetscher, die Zahl der den Angeklagten vorgeworfenen Straftaten, die Zahl der Zeugen und anderen Beweismittel, die Notwendigkeit von Sachverständigengutachten, der Umfang der Akten sowie die zu erwartende Dauer der Hauptverhandlung. Die überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sache kann sich aus der Erforderlichkeit umfangreicher Sachverständigengutachten, aus zu erwartenden Beweisschwierigkeiten oder aus der Komplexität der aufgeworfenen Sach- und Rechtsfragen ergeben (BGH, Urteil vom 23. Dezember 1998 - 3 StR 343/98, juris Rn. 15). Das ist hier nicht der Fall. Das Verfahren gegen einen Angeklagten wegen einer diesem zur Last gelegten Tat ist weder von besonderem Umfang noch von besonderer Schwierigkeit geprägt. Der Umfang der Ermittlungsakte liegt mit zwei Stehordnern und 646 Blatt für ein Verfahren vor einer großen Strafkammer eher im unteren durchschnittlichen Bereich. Seitens der Staatsanwaltschaft wurden insgesamt sieben Zeugen benannt, hiervon drei Polizeibeamte, und es wurden zwei Sachverständigengutachten eingeholt, ein DNA-Gutachten und ein anthropologische Gutachten, mithin regelmäßig in Strafverfahren erhobene und nicht besonders umfangreiche Sachverständigengutachten. Weiterhin enthält die Ermittlungsakte eine überschaubare Anzahl an Lichtbildern sowie die Videoaufzeichnungen der Tat. Auch besondere Schwierigkeiten in verfahrens- oder materiell-rechtlicher Hinsicht sind nicht ersichtlich. Insbesondere begründet die Tatsache, dass der Tatnachweis gegen den von seinem Schweigerecht Gebrauch machenden Angeklagten anhand dieser - in Anzahl und Komplexität überschaubaren - Beweismitteln zu führen sein wird, keine besondere Schwierigkeit, da der Tatnachweis anhand von Beweismitteln gerade das Wesen des Strafprozesses darstellt. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Tat bereits mehr als zwei Jahre zurück liegt, zumal die Staatsanwaltschaft zum Tatnachweis insbesondere ein DNA-Gutachten und ein anthropologische Gutachten heranzieht, die mit Zeitablauf gerade nicht an Beweiskraft verlieren. Eine Verhandlung in Dreierbesetzung ist demnach offenkundig nicht angezeigt. Zudem wäre für eine durchgreifende Rüge der fehlerhaften Gerichtsbesetzung ohnehin erforderlich, dass die Strafkammer ihre Entscheidung auf sachfremde Erwägungen gestützt oder den ihr eingeräumten Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten hat, so dass ihre Entscheidung objektiv willkürlich erscheint (BGH, Urteil vom 23. Dezember 1998 - 3 StR 343/98, juris Rn. 14; KG Berlin, Beschluss vom 1. März 2021 - 4 Ws 14/21, juris Rn. 13).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.
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