Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 09.01.2023 - 2 ARs 41/22
Eigener Leitsatz:
Für die Anwendung des § 51 RVG ist entscheidend, dass das Verfahren bei dem Pflichtverteidiger wegen des Umfangs und/oder der Schwierigkeit des Verfahrens zu einer zeitlichen Beanspruchung führen muss, die nicht mehr durch die gesetzlichen Gebühren gedeckt ist und die bei dem Pflichtverteidiger deswegen zu einem unzumutbaren Sonderopfer führt, das von existenzieller Bedeutung ist.
2 ARs 41/22
OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN
BESCHLUSS
Antrag auf Bewilligung einer Pauschvergütung in der Strafsache gegen pp.
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.
Auf Antrag des Pflichtverteidigers des Angeklagten pp., Rechtsanwalt pp., hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main 2. Strafsenat durch die Einzelrichterin nach Anhörung der Vertreterin der Staatskasse
am 09. Januar 2023 gemäß § 51 RVG beschlossen:
Der Antrag vom 15. Juni 2022 auf Bewilligung einer Pauschvergütung wird zu-rückgewiesen.
Gründe:
I.
Der Angeklagte wurde mit Urteil des Landgerichts Limburg vom 27. Juli 2020 rechtskräftig wegen bandenmäßiger öffentlicher Zugänglichmachung kinderpornographischer Schriften in 4 Fällen, Drittbesitzverschaffung kinderpornographischer Schriften in 3 Fällen, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauchs von Kindern in kinderpornographischer Absicht und mit Her-stellung kinderpornographischer Schriften in 7 Fällen, Herstellung kinderpornographischer Schriften und der Anstiftung zum schweren sexuellen Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit Besitzverschaffung kinderpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Jahren und 6 Monaten sowie Unterbringung in der Sicherungs-verwahrung verurteilt.
Der Antragsteller begründet seinen Antrag vom 15. Juni 2022, eine Pauschvergütung in Höhe der doppelten Wahlverteidiger-Höchstgebühr zu erhalten, damit, dass es sich um einen der spektakulärsten Prozesse im Zusammenhang mit Kinderpornographie im Darknet gehandelt habe und der Aktenumfang und der Inhalt der Beweismittel unbeschreiblich gewesen sei. Die Anklage habe 154 Seiten umfasst, vor der 1. Strafkammer des Landgerichts Limburg sei an 18 Hauptverhandlungstagen verhandelt worden.
Die Bezirksrevisorin hat mit Zuschrift vom 22. November 2022 zu dem Antrag Stellung genommen und beantragt, den Antrag zurückzuweisen.
An den Antragsteller wurde bereits eine Pflichtverteidigervergütung in Höhe von 13.453,07 ausgekehrt.
II.
Der Antrag auf Bewilligung einer Pauschvergütung (§ 51 RVG) ist zurückzuweisen.
Voraussetzung für die Bewilligung einer Pauschvergütung ist nach dem Gesetzeswortlaut, dass die gesetzlichen Gebühren unzumutbar sind. Damit soll verhindert werden, dass der Pflichtverteidiger ein Sonderopfer erbringt. Zur Stellung des Pflichtverteidigers hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 6. November 1984 2 BvL 16/83 u.a. ausgeführt:
Die Bestellung zum Pflichtverteidiger ist eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu öffentlichen Zwecken (vgl. BVerfGE 39, 238 (241)). Sinn der Pflichtverteidigung ist es nicht, dem Anwalt zu seinem eigenen Nutzen und Vorteil eine zusätzliche Gelegenheit beruflicher Betätigung zu verschaffen. Vielmehr besteht ihr Zweck ausschließlich darin, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, daß der Beschuldigte in schwerwiegenden Fällen (§ 140 StPO) rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird (BVerfGE a.a.O. S. 242; vgl. auch BGHSt 3, 395 (398)). Der vom Gerichtsvorsitzenden ausgewählte und beigeordnete Rechtsanwalt darf die Übernahme der Verteidigung nicht ohne wichtigen Grund ablehnen (§ 49 in Verbindung mit § 48 Abs. 2 BRAO), sondern muß - gegebenenfalls unter Hintansetzung anderer beruflicher Interessen - die ihm übertragene Verteidigung führen. Ein Widerruf der Bestellung des Pflichtverteidigers ist ebenfalls nur aus wichtigem Grund zulässig (vgl. BVerfGE a.a.O. S. 244 m. w. N.). Im Gegensatz zum gewählten Verteidiger, der seine Aufgaben in der Hauptverhandlung im Falle kurzfristiger Verhinderung durch sonstige Geschäfte von einem anderen Verteidiger wahrnehmen lassen kann (vgl. BGHSt 15, 306 (308)), hat der Pflichtverteidiger stets und ununterbrochen an der Verhandlung teilzunehmen. Er darf zu seiner Entlastung weder Untervollmacht erteilen (vgl. BGH, Strafverteidiger 1981, S. 393) noch einem Referendar Verteidigerfunktionen übertragen (vgl. § 139 StPO; BGH, NJW 1958, S. 1308 f.). Im Übrigen weist die Strafprozessordnung dem Pflichtverteidiger die gleichen Aufgaben zu wie dem Wahlverteidiger. Wie dieser hat er auch die gleichen standesrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen.
Angesichts dieser umfassenden Inanspruchnahme des Pflichtverteidigers für Aufgaben, deren ordentliche Wahrnehmung im öffentlichen Interesse liegt, hat der Gesetzgeber die Pflichtverteidigung nicht als eine vergütungsfrei zu erbringende Ehrenpflicht des Anwaltsstandes angesehen, sondern den Pflichtverteidiger honoriert. Der Vergütungsanspruch des Pflichtverteidigers aus § 97 BRAGO liegt indessen erheblich unter den als angemessen geltenden Rahmengebühren des Wahlverteidigers. Diese Begrenzung ist durch einen vom Gesetzgeber im Sinne des Gemeinwohls vorgenommenen Interessenausgleich, der auch das Interesse an einer Einschränkung des Kostenrisikos berücksichtigt, gerechtfertigt, sofern die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt ist. In Strafsachen besonderen Umfangs, die die Arbeitskraft des Pflichtverteidigers für längere Zeit ausschließlich oder fast ausschließlich in Anspruch nehmen, ohne daß er sich dieser Belastung entziehen könnte, gewinnt die Höhe des Entgelts für ihn existenzielle Bedeutung. Eine Verteidigung zu den verkürzten Gebühren des § 97 BRAGO könnte dann dem Pflichtverteidiger ein unzumutbares Opfer abverlangen. Schon das Grundrecht auf freie Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) gebietet für solch besondere Fallgestaltungen eine Regelung, die es, wie § 99 BRAGO, ermöglicht, der aufgezeigten Inanspruchnahme des Pflichtverteidigers Rechnung zu tragen und ihn entsprechend zu vergüten (vgl. BVerfGE 47, 285 (321 f.); 54, 251 (271))."
Diese Grundsätze gelten auch für das aktuelle Recht (vgl. BVerfG, NJW 2005, 1264; 2005, 3699). Sinn und Zweck der Pauschgebühr ist es danach nicht, dem Pflichtverteidiger einen zusätzlichen Gewinn zu verschaffen; sie soll nur eine unzumutbare Benachteiligung verhindern (vgl. auch Toussaint, Kostenrecht, 52. Aufl., § 51 RVG Rdn. 2). Die Bewilligung einer Pauschgebühr kommt nach alledem nur noch in Ausnahmefällen in Betracht. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. März 2007 2 BvR 51/07). § 51 RVG ist i. E. eine Öffnungsvorschrift, mit der das im RVG angelegte Festgebührensystem für einzelne Verfahrensabschnitte eines Strafverfahrens dann durchbrochen werden kann, wenn die gesetzlich vorgesehenen Festgebühren wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeiten nicht zumutbar sind" (§ 51 Abs. S.1 a.E. RVG).
Die Vorschrift trägt damit den Besonderheiten in Strafsachen Rechnung, wenn die Arbeitskraft des Pflichtverteidigers für das Verfahren für längere Zeit ausschließlich oder fast ausschließlich in Anspruch genommen wird, so dass die Höhe des Entgelts für den Pflichtverteidiger existenzielle Bedeutung gewinnt. Für solche besonderen Fallkonstellationen gebietet das Grundrecht des Pflichtverteidigers auf freie Berufsausübung eine Regelung, die sicherstellt, dass ihm die Verteidigung kein unzumutbares Opfer abverlangt (so BVerfG NJW 2007, 3420 Rdn. 3 und 6; vgl. BVerfGE 68, 237, 255; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. August 2005 - 2 BvR 896/05 -, juris; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Februar 2005 - 2 BvR 2456/04 -, juris; Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 14. Dezember 2005 - 2 ARs 154/05 -, juris).
Für die Anwendung des § 51 RVG bedeutet dies, dass das Verfahren bei dem Pflicht-verteidiger wegen des Umfangs und/oder der Schwierigkeit" des Verfahrens zu einer zeitlichen Beanspruchung führen muss, die nicht mehr durch die gesetzlichen Gebühren gedeckt ist und die bei dem Pflichtverteidiger deswegen zu einem unzumutbaren Sonderopfer führt, das von existenzieller Bedeutung ist.
Nach der amtlichen Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwälte (RVG) entspricht § 51 Abs. 1 RVG im Wesentlichen der Vorgängernorm des § 99 Abs. 1 BRAGO. Durch das neu aufgenommene Kriterium der "Unzumutbarkeit" der gesetzlichen Gebühren hat der Gesetzgeber den Ausnahmecharakter des § 51 RVG betont und den Anwendungsbereich gegenüber dem § 99 BRAGO einschränkt (vgl. BT Drucks. 15/1971, S. 201). Gerechtfertigt soll dies nach der amtlichen Begründung deshalb sein, weil in das Gebührenverzeichnis zum RVG neue Gebührentatbestände aufgenommen worden sind, bei denen die zugrundeliegenden Tätigkeiten in der Vergangenheit häufig bei der Bewilligung der Pauschgebühr berücksichtigt wurden (vgl. BT Drucks. 15/1971, S. 201). Als Beispiele nennt die amtliche Begründung die - nunmehr neu geschaffenen - Gebührentatbestände für die Teilnahme an Haftprüfungsterminen (Nr. 4102 Nr. 3 W RVG) und den Zuschlag zur Hauptverhandlungsgebühr für mehr als fünf bzw. mehr als acht Stunden dauernde Hauptverhandlungstermine (Nr. 4110 VV RVG) (BT Drucks 15/1971, S. 201).
Kerngebühr für die Tätigkeit eines Strafverteidigers ist nach dem RVG die Hauptverhandlungsgebühr. Der Gesetzgeber folgt insoweit auch im Gebührenrecht dem im deutschen Strafrecht verankerten Grundsatz der Verhandlung in Anwesenheit des An-geklagten und dem in der Hauptverhandlung zum Tragen kommenden Grundsatz der Öffentlichkeit. Nur was in der öffentlichen Hauptverhandlung verhandelt wird, ist Gegenstand der Urteilsfindung.
Die Prüfung des § 51 RVG verlangt daher zunächst die tatsachenfundierte Darlegung durch den Antragsteller, dass ihm durch die Beiordnung eine zeitliche Beanspruchung abverlangt worden ist, die isoliert betrachtet durch die Festgebühren unzumutbar aus-geglichen wird. Darüber hinaus bedarf es aber auch Ausführungen dazu, inwieweit diese (isoliert betrachtet) unzumutbare Mehrbelastung nicht durch das Verfahren insg. (z.B. durch technische oder organisatorische Maßnahmen oder eine hohe Anzahl von Hauptverhandlungsgebühren) kompensiert worden ist. Erst wenn bei der gebotenen Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung aller Kompensationsmöglichkeiten die Gesamtbelastung des Pflichtverteidigers in dem konkreten Verfahren ein Sonderopfer" darstellt, kommt eine über die Festgebühren hinausgehende Pauschgebühr in Betracht. Dabei ist auch vor dem Hintergrund, dass der Verurteilte i. E. der Kostenschuldner ist und die Pauschgebühr eine Gewährung zu Lasten Dritter ist, zu beachten, dass § 51 RVG als spezialgesetzlicher Ausfluss von Art. 12 GG nur verhindern soll, dass ein Organ der Rechtspflege auf Grund seiner gesetzlichen Verpflichtungen unzumutbar in seiner wirtschaftlichen Handlungsfreiheit eingeschränkt wird. § 51 RVG dient gerade nicht dazu, den Pflichtverteidiger umfassend zu alimentieren oder seinen (möglicherweise sonst üblichen) Gewinn sicherzustellen.
Gemessen an diesen Vorgaben ist der Antrag auf Bewilligung einer Pauschvergütung zurückzuweisen. Außergewöhnliche rechtliche Schwierigkeiten der Sache, die sie als sonderopferfähig darstellten, sind im Vergleich mit anderen erstinstanzlichen Verfahren vor der Jugendschutzkammer weder konkret vorgetragen noch erkennbar.
Zwar lag der Aktenumfang über dem Durchschnitt vergleichbarer Verfahren. Dass der Antragsteller die Verfahrensakte vollständig durchgesehen und mit seinem Mandanten besprochen hat, gehört jedoch zu den selbstverständlichen Pflichten des Verteidigers als Organ der Rechtspflege und reicht für die Annahme der Unzumutbarkeit der im Vergütungsverzeichnis bestimmten Gebühren nicht aus. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf die erforderliche Sichtung des Bildmaterials im vorliegenden Fall. Der Umfang der Beweisaufnahme schlägt sich in der Anzahl und Dauer der Hauptverhandlungstermine nieder und ist deshalb grundsätzlich kein Bemessungskriterium für eine Pauschvergütung. Jeder Hauptverhandlungstag wird gesondert vergütet, wobei auch die Stundenzahl berücksichtigt wird. Die aufgrund des Kanzleisitzes des Pflichtverteidigers in Augsburg veranlassten Geschäftsreisen werden nach der gesetzlichen Regelung durch Zahlung von Fahrtkosten und Tage- und Abwesenheitsgelder ausgeglichen.
Dass der Antragsteller darüber hinaus Tätigkeiten erbracht hat, die die Annahme eines Sonderopfers begründen könnten, ist nicht vorgetragen worden und vorliegend auch nicht ersichtlich. Auch die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers vermag grundsätzlich in einem gewissen Maße die Belastung zu kompensieren.
Im Übrigen wird auf die zutreffende Stellungnahme der Bezirksrevisorin, die dem Antragsteller übersandt worden ist und zu der er sich mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2022 geäußert hat, zur weiteren Begründung Bezug genommen. Eine Unzumutbarkeit der gesetzlichen Gebühren liegt auch bei einer Gesamtschau des Verfahrens nicht vor.
Einsender: RA Dr. D. Herrmann, Augsburg
Anmerkung:
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