Gericht / Entscheidungsdatum: BayVGH, Beschl. v. 14.09.2022 11 CS 22.876
Eigener Leitsatz: Bei medikamentöser Therapie eines Diabetes mellitus mit hohem Hypoglykämierisiko (z.B. Insulin) ist die Fahreignung nach den strengeren Anforderungen an das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 zu bejahen bei guter Stoffwechselführung ohne schwere Unterzuckerung über drei Monate und ungestörter Hypoglykämiewahrnehmung. Schwere Unterzuckerung (Hypoglykämie) bedeutet dabei nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung die Notwendigkeit von Hilfe durch eine andere Person.
In pp.
I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 24. März 2022 wird in Nr. 1 und 2 aufgehoben.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr.
I. und II. des Bescheids des Landratsamts Augsburg vom 24. Februar 2022 wird wiederhergestellt.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 6.250,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die 1957 geborene Antragstellerin wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung ihrer 1975 erteilten Fahrerlaubnis der Klasse 3 (alt).
Im Rahmen eines Antrags auf Umtausch ihres Führerscheins in einen neuen Kartenführerschein gab die Antragstellerin freiwillig an, an Diabetes mellitus Typ 2 und Bluthochdruck zu leiden. Auf Bitte des Landratsamts Augsburg reichte sie ärztliche Stellungnahmen des behandelnden Diabetologen ein. In einem Arztbrief vom 21. Januar 2021 heißt es, in den frühen Morgenstunden würden einige Hypoglykämien angezeigt. Klinische Symptome lägen nicht vor, bei Gegenkontrollen mit blutigen Messungen gebe es zum Teil einen Abstand von 40 bis 50 mg/dl. Dieser Abstand zeige sich teilweise auch bei anderen Sensordaten, so dass die Genauigkeit der Messdaten angezweifelt werden müsse. In einer Stellungnahme vom 27. Juli 2021 wird ausgeführt, relevante Hypoglykämieneigungen lägen nicht vor, allerdings zum Teil Sensorfehler, wobei die angezeigten niedrigen Werte durch die blutigen Messungen nicht hätten bestätigt werden können. Unter der aktuellen Insulintherapie liege eine stabile Stoffwechsellage vor.
Daraufhin forderte das Landratsamt die Antragstellerin auf, ein Gutachten eines Arztes einer Begutachtungsstelle für Fahreignung vorzulegen. Das von der Antragstellerin vorgelegte Gutachten der TÜV S. L2. Service GmbH vom 13. Dezember 2021 kommt zu dem Ergebnis, die Antragstellerin sei aufgrund einer nicht ausreichend stabilen Blutzuckerlage nicht in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 und 2 gerecht zu werden. Die vorgelegten Ergebnisse der Blutzuckereigenmessungen für den Zeitraum vom 8. September bis zum 7. Oktober 2021 sprächen nicht für eine stabile Blutzuckerstoffwechsellage und wiesen nahezu täglich deutliche Schwankungen auf. Die Werte bewegten sich in einem Bereich zwischen weniger als 50 und 350 mg/dl. In einem Monat seien 25 ernste Hypoglykämien dokumentiert worden, 26% der Werte bewegten sich im Bereich des Überzuckers. Aufgrund der wiederkehrend sehr niedrigen Werte müsse zudem die zuverlässige Wahrnehmung von Hypoglykämien in Frage gestellt werden. Es liege keine ausreichende Compliance (u.a. Krankheitseinsicht) vor und diese werde auch nicht umgesetzt (Adhärenz). Dem Gutachten lässt sich entnehmen, dass der Diabetes seit 1994 bekannt ist, seit längerer Zeit mit Insulin behandelt wird und die Antragstellerin alle sechs Monate einen Kontrolltermin beim Diabetologen wahrnimmt. Sie messe fünf bis sechs Mal am Tag selbst ihre Blutzuckerwerte. Auf Nachfrage habe sie möglichen Warnzeichen einer sich abzeichnenden Unterzuckerung geschildert; solche Symptome seien bei ihr aber noch nie aufgetreten. Sie habe zutreffend angegeben, welche Maßnahmen in so einem Fall zu ergreifen seien, bei der Autofahrt immer z.B. ein Stück Schokolade dabei und an einer Diabetesschulung teilgenommen. Den Krankheitsverlauf habe sie, soweit er aus den Akten nachvollziehbar sei, präzise und detailliert wiedergeben können.
Dagegen ließ die Antragstellerin einwenden, die Gutachterin stütze sich allein auf die von dem Messsystem des Typs FreeStyle Libre 2 ermittelten Werte. Diese beruhten jedoch auf einem Fehler des Sensors. Die Antragstellerin messe jedes Mal, wenn das System einen niedrigen Wert anzeige, manuell blutig nach und ermittle dabei normale Werte. Die Ergebnisse dieser blutigen Messungen würden jedoch nicht gespeichert und könnten daher auch nicht zur Verfügung gestellt werden. Dazu legte die Antragstellerin ein Attest des behandelnden Diabetologen vom 18. Januar 2022 vor. Darin heißt es, bei einer Zwischenkontrolle am 10. November 2021 seien keine relevanten Hypoglykämien festgestellt worden. Es gebe, wie bereits erwähnt, Probleme mit der Messgenauigkeit des verwendeten Sensors. Vor allem im niedrigen Glukosebereich würden zu Unrecht Hypoglykämien ermittelt. Nach Aussage des Außendienstes des Herstellers vom Dezember 2021 sei das Problem dort bekannt und mehrfach an die Firma weitergegeben worden, die an der Behebung des Problems arbeite. Zudem ließ die Antragstellerin Ausdrucke ihres Messsystems für den Zeitraum vom 26. November 2021 bis zum 9. Januar 2022 vorlegen mit dem Hinweis, dass dort nur eine nennenswerte Unterzuckerung am 26. Dezember 2021 angezeigt werde. Bei der blutigen Kontrollmessung habe dieser Wert sich nicht bestätigt, sondern im Zielbereich gelegen.
Zu diesen Einwendungen nahm die Gutachterin mit Schreiben vom 7. Januar, 30. Januar und 14. Februar 2022 ergänzend Stellung. Bei dem verwendeten Messsystem sei innerhalb weniger Wochen, in der Regel im Abstand von 14 Tagen, ein Sensorwechsel erforderlich. Es dürfe daher davon ausgegangen werden, dass ein möglicherweise fehlerhafter Sensor zwischenzeitlich ausgetauscht worden sei. Die instabile Stoffwechsellage bestehe jedoch fort. Die Antragstellerin habe trotz dahingehender Aufforderung keine Ergebnisse der blutigen Kontrollmessungen vorgelegt, so dass insoweit keine Beurteilung habe vorgenommen werden können. Zudem sei nicht nachvollziehbar, weshalb sie über einen derart langen Zeitraum mit fehlerhaften Sensoren gemessen habe, da auf dieser Grundlage die erforderliche Kontrolle der Blutwerte nicht gewährleistet wäre.
Mit Bescheid vom 24. Februar 2022 entzog das Landratsamt der Antragstellerin unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis und verpflichtete sie zur Abgabe des Führerscheins. Die Nichteignung stehe aufgrund des vorgelegten Gutachtens fest.
Dagegen erhob die Antragstellerin Klage zum Verwaltungsgerichts Augsburg (Au 7 K 22.517). Zugleich stellte sie einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, den das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 24. März 2022 ablehnte.
Dagegen richtet sich die Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
1. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung genügt zwar entgegen der Auffassung der Antragstellerin den Vorgaben des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Diese Bestimmung normiert lediglich eine formelle und keine materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung, so dass es auf die inhaltliche Richtigkeit oder Tragfähigkeit der Begründung des Sofortvollzugs nicht ankommt (vgl. BayVGH, B.v. 26.2.2021 - 11 CS 20.2979 - juris Rn. 23; B.v. 10.10.2019 - 11 CS 19.1451 - juris Rn. 21). Insoweit ist das Verwaltungsgericht der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung gefolgt, wonach an den Inhalt der schriftlichen Begründung der Vollzugsanordnung keine zu hohen Anforderungen zu stellen sind und bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs fehlt, das Erlassinteresse regelmäßig mit dem Vollzugsinteresse identisch ist. Bei dieser häufig wiederkehrenden Sachverhaltsgestaltung, der eine typische Interessenlage zugrunde liegt, reicht es aus, diese Interessenlage aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass sie nach Auffassung der Fahrerlaubnisbehörde auch im konkreten Fall vorliegt (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2019, a.a.O. Rn. 21; B.v. 8.6.2021 - 11 CS 20.2342 - juris Rn. 17; B.v. 11.3.2016 - 11 CS 16.259 - juris Rn. 16; Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 46, 55). Dem hat das Landratsamt genügt, indem es - ausgehend von der Annahme der fehlenden Fahreignung der Antragstellerin - ihren sofortigen Ausschluss vom Straßenverkehr im Interesse der Verkehrssicherheit und des Schutzes anderer Verkehrsteilnehmer für erforderlich erklärt hat. Das Gewicht der persönlichen Belange der Antragstellerin, insbesondere die Abhängigkeit der Erwerbstätigkeit von der Fahrerlaubnis, ändert nichts an der vorbenannten Interessenlage. Somit musste das Landratsamt, anders als die Beschwerde meint, nicht näher hierauf eingehen (vgl. BayVGH, B.v. 7.9.2020 - 11 CS 20.1436 - juris Rn. 20).
2. Ohne Erfolg rügt die Antragstellerin, die Anordnung des Sofortvollzugs sei ermessensfehlerhaft. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt, überprüft das Gericht im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO nicht die Entscheidung der Behörde, sondern trifft eine originäre Ermessensentscheidung (vgl. BayVGH, B.v. 19.6.2020 - 22 AS 20.40008 - juris Rn. 15; Hoppe in Eyermann, VwGO, § 80 Rn. 51 und 55).
3. Dem Gutachten kann auch nicht entgegengehalten werden, das Landratsamt habe sich in seiner Begutachtungsanordnung nicht damit auseinandergesetzt, dass die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (Vkbl S. 110) i.d.F.v. 17. Februar 2021 (Vkbl S. 198), in Kraft getreten am 1. Juni 2022, für die Gruppe 2 bei Therapie mit höherem Hypoglykämierisiko grundsätzlich eine fachärztliche Begutachtung durch einen Facharzt mit nachgewiesener diabetologischer Qualifikation vorsehen.
Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen hat zwar die Fahrerlaubnisbehörde bei der Anordnung der Vorlage eines ärztlichen Gutachtens die Entscheidung, wer von den in § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 bis 5 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch die teilweise zum 19. Januar 2022 in Kraft getretene Verordnung vom 18. März 2022 (BGBl I S. 498), genannten Gutachtergruppen das Gutachten erstellen soll, nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen, hierbei die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung in den Blick zu nehmen und ggf. darzulegen, aus welchem Grund sie eine von den Begutachtungsleitlinien abweichende Gutachterauswahl getroffen hat (vgl. OVG NW, B.v. 13.12.2021 - 16 B 784/21 - DAR 2022, 167 = juris Rn. 6 ff., 12). Diese Rechtsprechung bezieht sich jedoch auf eine Beibringungsanordnung und bedarf hier keiner näheren Erörterung. Legt der Betroffene, wie hier die Antragstellerin, das von ihm geforderte Gutachten vor, kann dieses unabhängig davon verwertet werden, ob die Anordnung gerechtfertigt war. Das Ergebnis des Gutachtens schafft eine neue Tatsache, die selbständige Bedeutung hat (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 28.6.2012 - 3 C 30.11 - NJW 2012, 3669 = juris Rn. 23; U.v. 28.4.2010 - 3 C 2.10 - BVerwGE 137, 10 Rn. 19, 27 ff.; BayVGH, B.v. 18.1.2022 - 11 CS 21.1767 - juris Rn. 12; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 11 FeV Rn. 26).
Maßgeblich ist damit, ob das vorgelegte Gutachten verwertbar ist. Dabei kann auch die Sachkunde des Gutachters von Bedeutung sein. Diese kann der Gutachterin hier jedoch auch dann, wenn sie über keine nachgewiesene diabetologische Qualifikation verfügen sollte, nicht von vornherein abgesprochen werden. Grundsätzlich müssen auch die Ärzte einer Begutachtungsstelle für Fahreignung zu einer Einschätzung der in der Anl. 4 zur FeV aufgeführten Krankheiten und Mängel in der Lage sein. Sollte der beauftragte Gutachter hierzu nicht ausreichend qualifiziert sein, müsste er den Auftraggeber oder die Fahrerlaubnisbehörde darauf hinweisen und die Erstellung des Gutachtens ablehnen (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2019 - 11 CS 19.57 - juris Rn. 16).
4. Die Beschwerde macht jedoch zu Recht geltend, dass das Landratsamt die Fahreignung der Antragstellerin nicht ohne weitere Aufklärung verneinen durfte. Das vorgelegte Gutachten der Begutachtungsstelle für Fahreignung TÜV ... L2. Service GmbH vom 13. Dezember 2021, auf das es sich stützt, bietet keine tragfähige Grundlage für die Annahme, dass die Antragstellerin ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppen 1 und 2 ist.
a) Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 7. Mai 2021 (BGBl I S. 850), und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gilt dies insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde. Die Ungeeignetheit muss dabei aufgrund erwiesener Tatsachen positiv festgestellt werden; die materielle Beweislast trägt die Fahrerlaubnisbehörde unter Einbeziehung der Mitwirkungspflichten des Betroffenen (vgl. BVerwG, U.v. 9.6.2005 - 3 C 25.04 - NJW 2005, 3081 = juris Rn. 17; OVG NW, B.v. 4.7.2007 - 16 B 666/07 - NJW 2007, 2938 = juris Rn. 1; VGH BW, U.v. 27.7.2016 - 10 S 1880/15 - VRS 131, 32 = juris Rn. 21; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, § 3 StVG Rn. 24). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisinhabers begründen, kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen (§ 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV). Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung bestehen insbesondere, wenn Tatsachen bekannt werden, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Anlage 4 oder 5 zur FeV hinweisen (§ 11 Abs. 2 Satz 2 FeV).
Die 1975 erteilte Fahrerlaubnis der Antragstellerin umfasst nach Anl. 3 A I Lfd.Nr. 17 die Klassen A, A1, AM, B, BE und L, die der Gruppe 1 zugeordnet sind, und die Klassen C1, C1E und CE, die der Gruppe 2 zugeordnet sind. Bei medikamentöser Therapie eines Diabetes mellitus mit hohem Hypoglykämierisiko (z.B. Insulin) ist die Fahreignung nach den strengeren Anforderungen an das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 zu bejahen bei guter Stoffwechselführung ohne schwere Unterzuckerung über drei Monate und ungestörter Hypoglykämiewahrnehmung (Nr. 5.4 der Anl. 4 zur FeV). Schwere Unterzuckerung (Hypoglykämie) bedeutet dabei nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, die nach Anl. 4a zur FeV Grundlage für die Beurteilung der Eignung sind, die Notwendigkeit von Hilfe durch eine andere Person (S. 34).
Die Untersuchung ist anlassbezogen und unter Verwendung der von der Fahrerlaubnisbehörde zugesandten Unterlagen über den Betroffenen vorzunehmen. Der Gutachter hat sich an die durch die Fahrerlaubnisbehörde vorgegebene Fragestellung zu halten (Nr. 1 Buchst. a der Anlage 4a zur FeV). Das Gutachten muss in allgemeinverständlicher Sprache abgefasst sowie nachvollziehbar und nachprüfbar sein. Die Nachprüfbarkeit betrifft die Wissenschaftlichkeit der Begutachtung. Sie erfordert, dass die Untersuchungsverfahren, die zu den Befunden geführt haben, angegeben und, soweit die Schlussfolgerungen auf Forschungsergebnisse gestützt sind, die Quellen genannt werden. Die Nachvollziehbarkeit betrifft die logische Ordnung (Schlüssigkeit) des Gutachtens. Sie erfordert die Wiedergabe aller wesentlichen Befunde und die Darstellung der zur Beurteilung führenden Schlussfolgerungen (Nr. 2 Buchst. a der Anlage 4a zur FeV). Zudem setzt die Nachvollziehbarkeit die Einhaltung allgemeiner Grundsätze zur Verwertbarkeit von Gutachten voraus. Dazu gehört u.a., dass das Gutachten von zutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, keine inhaltlichen Widersprüche oder fachlichen Mängel aufweist, kein Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters besteht und das Ergebnis nicht durch substantiierten Vortrag der Beteiligten oder eigene Überlegungen der Behörde bzw. des Gerichts ernsthaft erschüttert wird (vgl. BayVGH, B.v. 18.1.2022 - 11 CS 21.1767 - juris Rn. 14; zur Verwertbarkeit von Gutachten siehe BVerwG, B.v. 26.6.2020 - 7 BN 3.19 - NVwZ-RR 2020, 1093 = juris Rn. 6; B.v. 20.12.2019 - 3 B 20.19 - NVwZ-RR 2020, 539 = juris Rn. 33; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, § 98 Rn. 37; Zimmermann in MüKo ZPO, 6. Aufl. 2020, § 412 ZPO Rn. 2).
b) Diesen Anforderungen an die Nachvollziehbarkeit wird das vorgelegte Gutachten nicht gerecht, soweit es zu dem Ergebnis kommt, die Antragstellerin sei wegen einer "nicht ausreichend stabilen Blutzuckerlage" ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppen 1 und 2.
aa) Diese Schlussfolgerung ergibt sich bereits deswegen nicht schlüssig aus dem Gutachten, weil es eine nachvollziehbare Auseinandersetzung mit dem maßgeblichen Kriterium des Auftretens einer "schweren Unterzuckerung" zumindest vermissen lässt, wenn es die insoweit geltenden Maßstäbe nicht gar verfehlt.
Die Gutachterin stellt zwar in Einklang mit den Begutachtungsleitlinien (S. 32) auf eine "stabile Stoffwechselführung" ab. Dieser Begriff deckt sich mit dem der "guten Stoffwechselführung ohne schwere Unterzuckerung", wie es in Nr. 5.4 der Anl. 4 zur FeV heißt.
Warum diese Voraussetzung zu verneinen sein sollte, wird jedoch nicht nachvollziehbar aus den Befunden hergeleitet. Insbesondere verhält sich das Gutachten nicht ausdrücklich zu der Voraussetzung der "schweren Unterzuckerung". Die Begutachtungsleitlinien stellen insoweit nicht auf einen bestimmten Blutglukosewert ab, sondern folgen der internationalen Einteilung in milde und schwere Hypoglykämien anhand der Fähigkeit zur Selbsttherapie. "Schwere Hypoglykämie" bedeutet danach, wie bereits erwähnt, die Notwendigkeit von Hilfe durch eine andere Person (Begutachtungsleitlinien S. 34; Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, 3. Aufl. 2018, S. 151, 153). Dass aus den vom Messsystem im Zeitraum vom 8. September bis zum 7. Oktober 2021 ermittelten und von der Gutachterin in den Blick genommenen Werten auf solche fremdhilfebedürftigen Hypoglykämien geschlossen werden kann, ergibt sich nicht ansatzweise aus dem Gutachten. Ein solcher Schluss dürfte auch fernliegen. Nach der Literatur treten erste neuroglykopenische Symptome wie Benommenheit (Neuroglykopenie = Mangel an Glukose im Gehirn) ab einem Blutzucker von ca. 50 mg/dl auf, während Krämpfe und Bewusstseinsverlust erst bei einer Blutglukose unterhalb von 30 mg/dl drohen (Schubert/Huetten/Reimann/Graw, a.a.O. S. 154). Die Gutachterin hingegen beschreibt allein "Werte von weniger als 50 mg/dl". Ob sie - entsprechend dem eingangs des Gutachtens skizzierten Prüfprogramm - ausdrücklich nach fremdhilfebedürftigen Hypoglykämien gefragt hat, lässt sich den Ausführungen nicht entnehmen. In diese Richtung wird allein angeführt, Symptome einer sich abzeichnenden Unterzuckerung wie Schweißausbrüche, Zittern, Blässe oder Heißhunger seien nach Angaben der Antragstellerin bei ihr noch nie aufgetreten.
Somit bleibt auch unklar, an welchem Kriterium die Gutachterin sich orientiert und ob sie diesen Begriff mit dem der schweren Unterzuckerung gleichsetzt, wenn sie von "25 ernsten Hypoglykämien" spricht. Der Ausdruck der Eigenmessungen für den betrachteten Zeitraum liegt dem Senat nicht vor. Die eingereichten Ergebnisse für die Spanne vom 26. November 2021 bis zum 9. Januar 2022 legen jedoch nahe, dass die Gutachterin die "ernsten Hypoglykämien" der Auswertung des Messsystems entnommen hat, das insoweit einen konkreten Blutglukosewert, wohl von 54 mg/dl, zu Grunde legt. Sollte dem so sein und die Gutachterin sich mit den "ernsten Hypoglykämien" zu schweren Unterzuckerungen im Sinne der Begutachtungsleitlinien verhalten wollen, wäre das Urteil der Ungeeignetheit nicht nur mangels näherer Auseinandersetzung mit dem maßgeblichen Kriterium nicht nachvollziehbar, sondern läge ihm sicher ein unzutreffender Maßstab zu Grunde.
bb) Ferner spricht, ohne dass es für die Entscheidung noch darauf ankommt, viel dafür, dass die Gutachterin die Einwände zur Zweifelhaftigkeit der vom Messsystem ermittelten Werte nicht ohne weitere Aufklärung beiseiteschieben durfte.
Der behandelnde Arzt ist zwar wegen des anzunehmenden Interessenkonflikts regelmäßig nicht dazu berufen, sich zur Frage der Fahreignung seines Patienten zu äußern (vgl. BayVGH, B.v. 14.11.2018 - 11 CS 18.963 - juris Rn. 17). Gleichwohl kann den von ihm erhobenen Befunden eine wichtige Rolle in der Begutachtung zukommen und eine Auseinandersetzung damit geboten sein, wenn das Gutachten die tatsächlichen Grundlagen der Eignungsbeurteilung abweichend davon beurteilt.
Hier hat der behandelnde Arzt, der nach eigenen Angaben Diabetologe DDG ist, also eine von der Deutschen Diabetes Gesellschaft anerkannte Weiterbildung absolviert hat, in seiner Stellungnahme vom 18. Januar 2022 nachvollziehbar und in Einklang mit seinen Äußerungen aus dem Januar und Juli 2021 ausgeführt, dass es vor allem im niedrigen Glukosebereich Probleme mit der Messgenauigkeit des Sensors für das Gerät FreeStyle Libre 2 gebe und fehlerhaft Hypoglykämien angezeigt würden. Ferner hat er von seinem Kontakt mit dem Außendienstmitarbeiter des Herstellers wegen dieses Problems berichtet. Er legt zwar, wie das Verwaltungsgericht ausführt, nicht offen, auf welcher tatsächlichen Grundlage er zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die vom Messgerät ermittelten Werte nicht mit den Ergebnissen der blutigen Kontrollmessungen übereinstimmen. Es liegt hier aber weder nahe, dass der Diabetologe seine Einschätzung ohne plausible Grundlage vorgenommen hat, zumal er in der Stellungnahme vom 21. Januar 2021 konkret bezifferte Differenzen benennt, noch, dass die Antragstellerin ihm systematisch falsche Ergebnisse der blutigen Messungen vorgespiegelt hat. Aus der Akte ergibt sich der Eindruck einer Patientin, die ihre Krankheit und die damit verbundenen Gefahren versteht und vernünftig damit umgeht, u.a. indem sie sich einer engmaschigen diabetologischen Kontrolle unterzieht.
Wenn die Gutachterin dem entgegenhält, dass der Sensor in dem betrachteten Messzeitraum ausgetauscht worden sein müsste, übergeht dies bereits die Möglichkeit, dass eine gesamte Sensorcharge und damit auch der Austauschsensor defekt war. Im Internet finden sich Beiträge von Nutzern des FreeStyle Libre 2, in denen von eben jenem Problem berichtet wird. Es spricht viel dafür, dass die Gutachterin der Frage weiter hätte nachgehen müssen, etwa durch Rückfragen beim behandelnden Arzt oder indem sie der Antragstellerin aufgegeben hätte, für einen weiteren Beobachtungszeitraum etwaige Kontrollmessungen zu dokumentieren. Dass die Antragstellerin - ohne entsprechende Aufforderung durch die Gutachterin - in der Vergangenheit kein Blutzuckertagebuch geführt hat, kann ihr nicht vorgehalten werden. Insoweit ist keine Verletzung der Mitwirkungspflicht ersichtlich. Mit Blick darauf, dass die materielle Beweislast für das Fehlen der Fahreignung im Falle der Fahrerlaubnisentziehung bei der Behörde liegt, dürfte es auch nicht zu ihren Lasten gehen, dass sie den Vortrag zum Vorliegen eines (allgemeinen) Sensorfehlers nicht weiter substantiiert und keinen Nachweis für die Kausalität eines etwaigen Sensorfehlers für die von der Gutachterin angenommenen Hypoglykämien geführt hat.
Letztlich dürfte sich die Frage, ob die Gutachterin ohne weitere Aufklärung abweichend vom behandelnden Arzt von einem unzureichend stabilen Blutzuckerspiegel ausgehen durfte, aber zumindest teilweise mit der Problematik des Maßstabs überschneiden. Es liegt nahe, dass der behandelnde Diabetologe - abgesehen von seinen Bedenken hinsichtlich der Zuverlässigkeit des Messsystems - auch deswegen von vornherein keine erheblichen Hypoglykämien erkennen konnte und keinen Anlass zur Überprüfung der Therapie sah, weil er anders als die Gutachterin zu Recht keinen festen Schwellenwert zu Grunde gelegt hat.
cc) Damit bietet das Gutachten keine tragfähige Grundlage, um die Fahreignung zu verneinen. Zur zuverlässigen Wahrnehmung von Hypoglykämien äußert die Gutachterin allein Zweifel, die nach dem Vorgenannten zudem auf keinem tragfähigen Fundament ruhen. Ein Eignungsausschluss aufgrund von Hyperglykämien (vgl. dazu Begutachtungsleitlinien S. 34; Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, S. 155) lässt sich dem Gutachten ebenfalls nicht schlüssig entnehmen. Damit entfällt - abgesehen davon, dass diese Annahme in dem Gutachten nicht plausibel begründet ist und sich aus der Akte, wie bereits erwähnt, das Bild eines bedachten und verantwortungsvollen Umgangs mit der Krankheit ergibt - auch von vornherein die Grundlage für die Annahme unzureichender Compliance und Adhärenz. Dass die Komorbiditäten des Diabetes mellitus Typ 2 oder der Bluthochdruck die Fahreignung der Antragstellerin ausschließen, nimmt die Gutachterin nicht an.
c) Somit wird die Klage der Antragstellerin voraussichtlich Erfolg haben und fällt die Interessenabwägung zu ihren Gunsten aus. Es erscheint auch vertretbar, sie weiterhin mit Fahrzeugen der Gruppen 1 und 2 am Straßenverkehr teilnehmen zu lassen. Sie hat zuletzt eine Stellungnahme ihres behandelnden Diabetologen vom 18. Juli 2022 eingereicht, wonach im letzten Quartal keine Hypoglykämien vorlagen. Zudem stellte sie Auswertungen ihres neuen Messgeräts zur Verfügung. Danach ermittelte das System im Zeitraum vom 15. Juni bis zum 10. August 2022 noch nicht einmal Unterschreitungen des Schwellenwertes von 70 mg/dl, an dem es sich in Anlehnung an die Empfehlung der amerikanischen Diabetes Gesellschaft (vgl. dazu Schubert/Huetten/Reimann/Graw, a.a.O. S. 151) orientiert.
5. Der Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
6. Für das weitere Vorgehen wird darauf hingewiesen, dass der Bescheid vom 24. Februar 2022 - sollten sich im Hauptsacheverfahren nicht noch weitere Erkenntnisse ergeben - nach Auffassung des Senats aufzuheben sein wird. Da es sich bei der Entziehung nach § 3 Abs. 1 StVG, § 46 Abs. 1 FeV um eine gebundene Entscheidung handelt, ließe sich zwar daran denken, dass im Hauptsacheverfahren aufzuklären wäre, ob die Fahreignung der Antragstellerin zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses zu Recht verneint wurde (vgl. allgemein zum Begründungsmangel Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, § 113 Rn. 29 f.). Dies liefe jedoch auf die erstmalige Sachaufklärung und Beurteilung nach den einschlägigen Maßstäben hinaus. Dies ist nach der Systematik des Fahrerlaubnisrechts aber im Behördenverfahren durch ein vom Betroffenen vorzulegendes Fahreignungsgutachten i.S.d. § 11 Abs. 2 FeV zu leisten. Dem Verwaltungsgericht hingegen fehlt es an einer Rechtsgrundlage zur Anordnung eines Fahreignungsgutachtens im Rechtssinn. Es kann allenfalls ein gerichtliches Sachverständigengutachten in Auftrag geben, das den Standards eines Fahreignungsgutachtens entsprechen soll (vgl. Geiger, DAR 2013, 231). Wegen dieser besonderen Ausgestaltung des Verfahrens und der hervorgehobenen Stellung des vom Betroffenen vorzulegenden Gutachtens erscheint es sachgerecht, die Begutachtung hier einem erneuten Behördenverfahren vorzubehalten.
Darin wird das Landratsamt die Fahreignung der Antragstellerin voraussichtlich erneut abzuklären haben, wobei die Antragstellerin zur Mitwirkung verpflichtet bleibt (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2019 - 11 CS 19.57 - juris Rn. 28). Zu diesem Zwecke wäre zunächst eine (erneute) Vorabklärung der Schwere der Diabetes-Erkrankung der Antragstellerin anhand der aktuellen Auswertung des Messgeräts und der aktuellen (ggf. auch weiteren) Auskunft des behandelnden Arztes vorzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 3.5.2017 - 11 CS 17.312 - juris Rn. 17 ff.; B.v. 3.11.2020 - 11 CS 20.1469 - juris Rn. 23). Sollte sich bei einer sorgfältigen Prüfung ergeben, dass die Zweifel an der Fahreignung aus der maßgeblichen Sicht eines medizinischen Laien nicht restlos ausgeräumt sind (vgl. dazu BayVGH, B.v. 7.2.2022 - 11 CS 21.2385 - Blutalkohol 59, 152 = juris Rn. 19), käme zur weiteren Abklärung in erster Linie die in den Begutachtungsleitlinien vorgesehene Einholung eines Gutachtens eines Facharztes mit verkehrsmedizinischer Qualifikation (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV) in Betracht. Entsprechend qualifizierte Diabetologen, auch in der Nähe des Wohnorts der Antragstellerin, sind über die Homepage der Deutschen Diabetes Gesellschaft (Arztsuche) zu finden.
7. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.2, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (vgl. BayVGH, B.v. 15.12.2014 - 11 CS 14.2202 - juris Rn. 7).
8. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
Einsender:
Anmerkung:
Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.
Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".