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Entscheidungen

OWi

Unberücksichtigt gebliebener Entbindungsantrag, EGVP-Dienstanweisung

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 28.09.2022 – 3 Ws (B) 226/22 - 122 Ss 94/22

Leitsatz des Gerichts: 1. Die Entscheidung über einen Entbindungsantrag steht nicht im Ermessen des Gerichts, vielmehr ist es verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen.
2. Wenn der nach § 73 Abs. 2 OWiG gestellte Entbindungsantrag erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingeht, darf der Einspruch jedenfalls dann nicht ohne eine vorherige Entscheidung über den Antrag verworfen werden, wenn dieser mit „offenem Visier“, also nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht „versteckt“ oder „verklausuliert“, angebracht worden ist.
3. Regelmäßig ohne Belang ist, ob dem Bußgeldrichter der Entbindungsantrag bekannt war. Entscheidend ist, ob sich der Tatrichter im Rahmen seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht vor Erlass des Verwerfungsurteils bei der Geschäftsstelle vergewissert hat, ob eine Mitteilung über die Verhinderung des Betroffenen vorliegt.
4. Lag der Antrag dem Gericht nicht vor, kommt es darauf an, ob er bei gehöriger gerichtsinterner Organisation unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt zur Bearbeitung hätte zugeführt werden können und müssen.



Normen:
OWiG § 73 Abs. 2, 74 Abs. 2



3 Ws (B) 226/22 - 122 Ss 94/22

In der Bußgeldsache
gegen pp.

wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit

hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 28. September 2022 beschlossen:

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 30. Mai 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurückverwiesen.


G r ü n d e:
I.
Nachdem der Betroffene gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten in Berlin Einspruch eingelegt hatte, hat das Amtsgericht Tiergarten eine Hauptverhandlung auf den 30. Mai 2022 anberaumt. In dieser hat es den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid verworfen, weil der Betroffene ungeachtet der nachgewiesenen Ladung ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben sei, obwohl er von der Verpflichtung zum Erscheinen nicht entbunden worden war.

Zuvor hatte der Verteidiger des Betroffenen mit Schriftsatz vom 29. Mai 2022 beantragt, den Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im Hauptverhandlungstermin zu entbinden. Der Betroffene räume ein, verantwortlicher Fahrzeugführer gewesen zu sein. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse habe er mehrfach mitgeteilt. Weitere Angaben würden nicht erfolgen, weshalb die Anwesenheit des Betroffenen im Hauptverhandlungstermin entbehrlich sei. Diesen Schriftsatz hatte der Verteidiger am 29. Mai 2022 um 16.56 Uhr elektronisch aus einem besonderen Anwaltspostfach an das Amtsgericht Tiergarten übermittelt. Über den Entbindungsantrag hat das Amtsgericht Tiergarten nicht entschieden. Zum Beginn der Hauptverhandlung am 30. Mai 2022 um 13.24 Uhr sind weder der Betroffene noch der von ihm bevollmächtigte Verteidiger erschienen.

Der Betroffene hat gegen das Verwerfungsurteil Rechtsbeschwerde eingelegt. Er rügt die Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG sowie die damit einhergehende Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
II.
1. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist in der nach §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotenen Vollständigkeit ausgeführt. Sie enthält die notwendigen Darlegungen, um dem Rechtsbeschwerdegericht die Prüfung zu ermöglichen, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, unterstellt, die behaupteten Tatsachen treffen zu.

2. Die Rüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG ist auch begründet, weil das Amtsgericht den Entbindungsantrag übergangen hat.

a) Nach § 73 Abs. 2 OWiG hat das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, er werde sich in der Hauptverhandlung nicht weiter zur Sache äußern, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist.

Genau diese Erklärungen hat der Betroffene über seinen hierzu bevollmächtigten Verteidiger vor der Hauptverhandlung abgegeben. Die Entscheidung über den Entbindungsantrag steht damit nicht im Ermessen des Gerichts, vielmehr ist es verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern – wie im vorliegenden Fall – die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (vgl. Senat DAR 2022, 217 sowie Beschlüsse vom 1. April 2019 – 3 Ws (B) 103/19 – und vom 11. Dezember 2017 – 3 Ws (B) 310/17 –).

b) Auch dann, wenn der Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingeht, darf der Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid jedenfalls dann nicht ohne eine vorherige Entscheidung über den Antrag verworfen werden, wenn der Antrag mit „offenem Visier“, also nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht „versteckt“ (OLG Hamm NStZ-RR 2015, 259) oder „verklausuliert“ (OLG Rostock NJW 2015, 1770; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. April 2017 – IV-2 RBs 49/17 –, juris) eingereicht worden ist (BayObLG ZfSch 2019, 409 m.w.N.). Bei der Beurteilung des Sachverhalts sind alle Umstände in den Blick zu nehmen (vgl. Senat, Beschluss vom 27. Juli 2021 – 3 Ws (B) 194/21 –, juris).

Dem Schriftsatz fehlt zwar ein Hinweis auf die Eilbedürftigkeit wegen des anstehenden Hauptverhandlungstermins und der Antrag ist auch optisch nicht hervorgehoben worden. Es lässt sich insgesamt aber nicht feststellen, dass er in rechtsmissbräuchlicher Absicht und mit der Erwartung angebracht wurde, er werde nicht rechtzeitig vorgelegt werden (vgl. OLG Rostock a.a.O). Dabei fällt ins Gewicht, dass der Verteidiger den Antrag bereits am (späten) Nachmittag vor dem Terminstag sowie in einem einseitigen, überschaubaren Schriftsatz übermittelt hat.

c) Regelmäßig ohne Belang ist, ob dem Bußgeldrichter der Entbindungsantrag des Betroffenen bekannt war. Es ist vielmehr zu prüfen, ob sich der Tatrichter im Rahmen seiner Fürsorge- und Aufklärungspflicht vor Erlass des Verwerfungsurteils bei der Geschäftsstelle vergewissert hat, ob eine Mitteilung über die Verhinderung des Betroffenen vorliegt. Denn erfahrungsgemäß wird die Geschäftsstelle eines Gerichts auch noch kurz vor einem Termin davon verständigt, dass der Betroffene verhindert sei (vgl. Senat StraFo 2014, 467; OLG Köln NStZ-RR 2003, 54; jeweils m.w.N.). Zudem kommt es darauf an, ob der Antrag im Einzelfall unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt dem Gericht zur Bearbeitung hätte zugeführt werden können und müssen (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 30. Juni 2022 – 1 OWi 2 SsRs 85/21). Maßgeblich ist dafür, ob nach Aktenlage der Antrag das Tatgericht vor Beginn der Hauptverhandlung tatsächlich erreicht hatte und deshalb bei gehöriger gerichtsinterner Organisation dem Bußgeldrichter rechtzeitig zugeleitet oder sonst zu Kenntnis hätte gebracht werden können (vgl. Senat DAR 2022, 217 m.w.N. und Beschluss vom 27. Juli 2021 – 3 Ws (B) 194/21 –, juris; BayOBLG a.a.O.; OLG Köln a.a.O.).

Gemessen an diesen Grundsätzen hätte der Antrag, den Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, vor der Verwerfung des Einspruchs bearbeitet werden müssen. Dabei kommt es im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob eine Nachfrage des Tatrichters bei der Geschäftsstelle seiner Abteilung vor der Hauptverhandlung einen Hinweis auf den Eingang des Antrags ergeben hätte. Ebenso wenig ist entscheidend, dass eine Erkundigung, die über die Nachforschung auf der Geschäftsstelle hinausgeht, insbesondere die Ermittlung eines Eingangs bei allen möglichen und zugelassenen Einlaufstellen für digitale und physikalische Post, durch den Tatrichter nicht geboten ist (vgl. Senat ZfSch 2020, 470 und NZV 2015, 253; OLG Bamberg NZV 2009, 355). Die Geschäftsabläufe des Amtsgerichts hätten aber gewährleisten müssen, dass der Antrag bis zum Beginn der Hauptverhandlung die Geschäftsstelle und den zuständigen Richter erreicht (vgl. OLG Zweibrücken a.a.O.; Senat, Beschluss vom 27. Juli 2021 – 3 Ws (B) 194/21 –, juris). Denn der Antrag ist mit hinreichendem zeitlichen Vorlauf vor dem Hauptverhandlungstermin und der „Regelpflicht zur elektronischen Kommunikation“ (vgl. BT-Drs. 18/9416, Begründung zu § 32d StPO, S. 50) folgend auch an einer dafür vorgesehenen Eingangsstelle eingereicht worden. Der mit Aktenzeichen zuzuordnende Schriftsatz betraf ersichtlich den anstehenden Hauptverhandlungstermin. Es konnte daher bei geordnetem Geschäftsgang eine Vorlage an den Richter als sicher gelten, auch wenn eine zusätzliche Kennzeichnung des Schriftsatzes als eilbedürftig sicherlich zuträglich gewesen wäre.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass bei dem Amtsgericht Tiergarten seit 1. Juni 2022 die Dienstanweisung zum Betrieb des Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs (EGVP) gilt. Danach ist es Servicekräften der Geschäftsstellen auferlegt, elektronische Nachrichten, die eingegangen und in das dafür eingerichtete Verzeichnis der jeweiligen Abteilung abgelegt wurden, mehrfach täglich zu überprüfen. Im Fall der Eilbedürftigkeit sind diese Eingänge wie alle anderen eiligen Sachen zu behandeln.

3. Auf die (unausgeführte) allgemeine Sachrüge kommt es nicht mehr an. Im Übrigen kann der Betroffene damit nicht durchdringen. Die allgemeine Sachrüge führt bei einem Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG nur zu der Prüfung, ob Verfahrenshindernisse vorliegen oder Prozessvoraussetzungen fehlen. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

4. Das Urteil war daher mit seinen Feststellungen aufzuheben, und die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde – an das Amtsgericht zurückzuverweisen


Einsender: RiKG U. Sandherr, Berlin

Anmerkung:


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