Gericht / Entscheidungsdatum: LG Kiel, Beschl. v. 31.03.2022 10 Qs 19/22
Eigener Leitsatz: Die nachträgliche rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers für ein bereits abgeschlosse-nes Verfahren ist selbst dann nicht möglich, wenn die Beiordnung rechtzeitig beantragt und zu Unrecht unter Verstoß gegen das Unverzüglichkeitsgebot des § 141 Abs. 1 StPO versagt worden ist.
10 Qs 19/22
558 Js 8376/21
Landgericht Kiel
Beschluss
In dem Ermittlungsverfahren gegen
Verteidiger:
Rechtsanwalt Atilla A. Aykn, Elisabethstraße 32-34, 24143 Kiel, Gz.: 21/000757
wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz
hat das Landgericht Kiel - 10. große Strafkammer - durch den Vorsitzenden Richter am Landge-richt Jacobsen, den Richter am Landgericht Dr. Linder und die Richterin am Landgericht Greve am 31. März 2022 beschlossen:
1. Die sofortige Beschwerde vom 28.02.2022 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Kiel vom 25.02.2022, durch welchen die Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt wor-den ist, wird als unbegründet verworfen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe:
I.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Insbesondere ist sofortige Beschwerde statthaft, vgl. dazu § 142 Abs. 7 S. 1 StPO, und fristgerecht eingelegt worden.
In der Sache hat die sofortige Beschwerde keinen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung ent
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spricht der Sach- und Rechtslage.
Das Amtsgericht Kiel hat zu Recht die Beiordnung eines Pflichtverteidigers abgelehnt.
Es kann dahinstehen, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen hat, denn das Ermitt-lungsverfahren wurde nach Stellung des Antrages auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers und noch vor dem Ergehen der angefochtenen Entscheidung gemäß § 153 StPO eingestellt.
Die nachträgliche rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers für ein bereits abgeschlosse-nes Verfahren ist selbst dann nicht möglich, wenn die Beiordnung rechtzeitig beantragt und zu Unrecht unter Verstoß gegen das Unverzüglichkeitsgebot des § 141 Abs. 1 StPO versagt worden ist.
Diese Auffassung haben bislang auch der Bundesgerichtshof und sämtliche Oberlandesgerichte einschließlich des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vertreten (vgl. dazu und zum folgenden nur BGH, Beschluss vom 20. Juli 2009, Az. 1 StR 344/08, Rn. 4; OLG Stuttgart, Be-schluss vom 25. Februar 2015, Az. 1 Ars 1/15, Rn. 8; OLG Hamm, Beschluss vom 24. Oktober 2012, Az. 111-3 Ws 215/12, 3 Ws 215/12, Rn. 17; OLG Celle, Beschluss vom 24. Juli 2012, Az. 2 Ws 196/12, Rn. 3; OLG Schleswig, Beschluss vom 24. Januar 2008, Az. 2 Ws 8/08 (9/08); OLG Bamberg, Beschluss vom 15. Oktober 2007, Az. 1 Ws 675/07; KG, Beschluss vom 9. März 2006, Az. 1 AR 1407/05 5 Ws 563/05, 1 AR 1407/05, 5 Ws 563/05, Rn. 11ff. (alles zitiert nach juris)). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Strafprozess nicht im Kosteninteresse des Beschuldigten und/oder des Strafverteidigers erfolge, sondern allein dem Zweck diene, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten. Dieser Zweck könne nach dem Abschluss des Verfahrens aber nicht mehr erreicht werden. Nach Abschluss des Verfahrens gebe es keine zu erbringende Verteidigungstätigkeit mehr, auf die sich die mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger entstehende öffentlich-rechtliche Pflicht zum Tätigwerden beziehen könne.
Zwar haben die Oberlandesgerichte Nürnberg (vgl. dazu den Beschluss vom 6. November 2020, Az. Ws 962/20 (zitiert nach juris)) und Bamberg (vgl. dazu den Beschluss vom 29. April 2021, Az. 1 Ws 260/21 (zitiert nach juris)) in Reaktion auf das am 13. Dezember 2019 in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 diese bisher herrschende Rechtsprechung ausdrücklich aufgegeben und befürworten nunmehr eine rückwir-kende Bestellung jedenfalls dann, wenn die Pflichtverteidigerbeiordnung rechtzeitig, d.h. noch vor Abschluss des Verfahrens, beantragt worden war und unter Verstoß gegen das Unverzüglich-keitsgebot des § 141 Abs. 1 StPO zu Unrecht versagt wurde. Zur Begründung führen sie aus,
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dass das Rückwirkungsverbot mittlerweile nicht mehr tragfähig sei. Denn nach Art. 4 Abs. 1 der EU-Richtlinie 2016/1919 vom 26. Oktober 2016 (im folgenden PKH-Richtlinie genannt), deren Um-setzung das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 be-zweckt, hätten die Mitgliedsstaaten sicher zu stellen, dass Verdächtige und beschuldigte Perso-nen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistandes verfügen würden, Anspruch auf Prozesskostenhilfe hätten. Über den sich aus Art. 3 der PKH-Richtlinie ergebenden rechtzeitigen und praktisch wirksamen Zugang zur Wahrnehmung der Verteidigerrechte hinaus regele Art. 4 der PKH-Richtlinie die finanziellen Grundlagen, und zwar in der Weise, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistandes gesichert werden solle. Dies werde jedoch unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könne, weil die Entscheidung hierüber ohne Einfluss des Beschuldigten verzögert getroffen worden sei.
Dieser - auch von vielen Landgerichten vertretenen Auffassung (vgl. dazu nur den Beschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Kiel vom 8. Juni 2021, Az. 1 Qs 14/21) - stehen indes die Entscheidungen der Oberlandesgerichte Braunschweig (Beschluss vom 2. März 2021, Az. 1 Ws 12/21 (zitiert nach juris)), Bremen (Beschluss vom 23. September 2020, Az. 1 Ws 120/20 (zitiert nach juris)), Hamburg (Beschluss vom 16. September 2020, Az. 2 Ws 112/20 (zitiert nach juris)), Berlin (Beschluss vom 9. April 2020, Az. 2 Ws 30-31/20 (zitiert nach juris)) und Branden-burg (Beschluss vom 9. März 2020, Az. 1 Ws 19-20/20 (zitiert nach juris)) gegenüber, in welchen ausdrücklich an der bisherigen Rechtsprechung festgehalten wird, und zwar mit folgender Be-gründung: Nach Art. 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie bestehe Anspruch auf Prozesskostenhilfe nur dann, wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist", mithin für das weitere Verfahren von Bedeutung sei. Keineswegs sehe die Richtlinie vor, den Beschuldigten nachträglich in jedwe-der Phase des Verfahrens von den Kosten der Verteidigung frei zu halten, gar noch nach Ab-schluss des Verfahrens eine Pflichtverteidigerbeiordnung vorzunehmen. Ferner weisen besagte fünf Oberlandesgerichte darauf hin, dass der Gesetzgeber in Umsetzung der Richtlinie gerade keinen Systemwechsel in der Frage der Pflichtverteidigerbestellung im Sinne der Anknüpfung an eine Bedürftigkeitsprüfung statt wie bisher allein an die Prüfung des Rechtspflegeinteresses be-absichtigt habe. Dabei sei der Gesetzgeber zu Recht davon ausgegangen, dass die PKH-Richtli-nie der Beibehaltung des deutschen Systems der notwendigen Verteidigung nicht entgegenstehe. Nach Art. 4 Abs. 2 der PKH-Richtlinie stehe es den Mitgliedsstaaten nämlich frei, ob sie eine Be-dürftigkeitsprüfung, eine Prüfung der materiellen Kriterien (vor allem Schwere der Straftat, Schwierigkeit der Rechtslage, Straferwartung, vgl. Art. 4 Abs. 4 PKH-Richtlinie) oder beides vor-nehmen. Auch das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht hat an seiner bisherigen Recht
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sprechung festgehalten (Beschluss vom 12. August 2020, Az. 1 Ws 152/20 (SchIHA 12/2021, Seite 458 f.)).
Auch die Kammer sieht nach Abwägung der widerstreitenden Ansichten keinen Anlass, von der bisher herrschenden Rechtsprechung abzugehen. Denn dass das Rechtspflegeinteresse im deutschen Recht auch weiterhin maßgeblich ist, ergibt sich auch aus dem in der Regelung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO enthaltenen Rechtsgedanken. Nach dieser Vorschrift kann eine Pflichtver-teidigerbestellung von Amts wegen sogar dann unterbleiben, wenn die Verfahrenseinstellung nur beabsichtigt ist, also nicht erst dann, wenn die Einstellung bereits erfolgt ist. Damit geht das Ge-setz also teilweise sogar noch weiter als die bislang herrschende Rechtsprechung.
II.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO.
Jacobsen
Vorsitzender Richter
am Landgericht Dr. Linder Greve
Richter Richterin
am Landgericht am Landgericht
Beglaubigt
Kiel, 01.04.2022
Milovic
J ustizfachangestellte
Einsender: RA A.A. Aykac, Kiel
Anmerkung:
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